Interview

Andreas Knoth: „Selbstorganisation heißt nicht Strukturlosigkeit“

von Anja Reiter
mit Andreas Knoth und Nicole Stockmann
veröffentlicht am 03.12.2022
Lesezeit: 8 Minuten

Die digitale Transformation verändert nicht nur das Rollenverständnis von Schulleitungen, sondern stellt auch alte Denkmuster infrage. Die Schulleiterin Nicole Stockmann und der Organisationsberater Andreas Knoth im Gespräch über die Frage, wie die Kultur der Digitalität ihr Denken prägt – und wie eine zeitgemäße Haltung aussehen könnte.

Aus welcher Haltung heraus wird aktuell im System Schule gearbeitet – und welche Haltung soll die Akteure in Zukunft antreiben? Das Thema Haltung war ein Schwerpunkt am zweiten Tag der Konferenz Bildung Digitalisierung 2022 im Cafe Moskau in Berlin. In seiner Keynote „Aufbruch zu Digital Leadership“ skizzierte der Organisationsberater Andreas Knoth, welches neue Selbstverständnis Akteure im Bildungskontext heute brauchen – und warum Exnovation ein wesentlicher Teil von Innovation werden muss, damit die Organisation Schule keinen Burn-out erleidet.

In der anschließenden Panel-Diskussion debattierte Andreas Knoth mit Eliane Burri von der Pädagogischen Hochschule Zürich, Gabriele Lonz vom Ministerium für Bildung in Rheinland-Pfalz und der Schulleiterin Nicole Stockmann unter dem Titel „Digital Leadership und Kultur des Teilens“, inwiefern neue Formen der Zusammenarbeit Führungskräfte an Schulen darin unterstützt, den Wandel an Schulen zu gestalten. Als Schulleiterin eines deutschlandweit einzigartigen Doppelgymnasiums ist Nicole Stockmann mit dem Thema Kooperation auf ganz besondere Art und Weise vertraut. Im Doppelinterview sprechen Andreas Knoth und Nicole Stockmann über ihren persönlichen Blick auf Digital Leadership und die Kultur des Teilens.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Andreas Knoth ist Psychologe und Master of Business Studies. Seit 2002 arbeitet er im Team der Organisationsberatung SOCIUS, einer Genossenschaft, die Entwicklungsprozesse v. a. im Kultur-, Sozial- und Bildungsbereich begleitet. Zu seinen Schwerpunkten gehören Selbstorganisations-Entwicklung, Strategie/Wirkungsorientierung und transsektorale Netzwerke.

Welche Grundeinstellung von der Natur des Menschen prägt Ihr Denken und Handeln als Organisationsberater, Herr Knoth?

Andreas Knoth: Es gibt einen Begriff, der mir sehr gefällt: People Positive. Der Begriff drückt für mich die Grundannahme aus, dass Menschen dazu in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und ihr Umfeld positiv zu gestalten – wenn es ihnen ermöglicht wird und sie die richtigen Bedingungen dazu vorfinden. Daneben ist mir die Anerkennung der Souveränität des Menschen sehr wichtig, egal ob es um Kinder oder Erwachsene geht.

Frau Stockmann, Sie sind als Schulleiterin im Schulalltag gefordert, Ihrem Kollegium, den Schüler:innen und Eltern gegenüber mit einer gewissen Haltung gegenüber aufzutreten. Wo legen Sie dabei den Schwerpunkt?

Nicole Stockmann: Auch ich habe die Grundhaltung, dass es Menschen mit ihren Handlungen erst mal gut meinen. Doch jeder kann es nur so gut machen, wie es sein persönlicher Kontext hergibt. Ich habe im Schulalltag sehr viel mit jungen Menschen zu tun, die durch ihr Umfeld stark eingeschränkt sind. Hier versuche ich die Haltung des Fragenden einzunehmen. Statt zu urteilen, etwas sei falsch, erkunde ich, warum jemand etwas so gemacht hat, wie er es gemacht hat. Das Thema Souveränität bricht mir im deutschen Bildungssystem oft das Herz. Ich habe das Gefühl, dass wir den Kindern nicht immer die Souveränität zugestehen, die sie eigentlich haben sollten.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Nicole Stockmann ist Schulleiterin des Gymnasium I in Ellental in Baden-Württemberg. Dabei handelt es sich um das deutschlandweit einzige Doppelgymnasium, in dem zwei Schulen eng miteinander kooperieren. Nicole Stockmann studierte Englisch und Biologie.

Herr Knoth, Ihr Beratungsansatz ist geprägt von einem großen Vertrauen in die Selbstorganisation. Eine Schule, die sich selbst organisiert – ist da die wildwüchsige Gemeinschaftsküche nicht vorprogrammiert?

Andreas Knoth: Ich habe sehr viel Zeit in größeren Gemeinschaften, Communities und Hausprojekten verbracht. An irgendeiner Stelle ist stets das Gemeinwesen verkümmert, weil die Ansprüche an Ästhetik und Ordnung auseinandergingen. Dieses Problem sehe ich auch in selbstorganisierten Organisationen. Es braucht ein Minimum an Liebe und Aufmerksamkeit, um eine gesunde Form von Selbstorganisation auf die Beine zu stellen. Die Erfahrung haben wir auch bei der Beratung von Schulen gemacht. Insbesondere Alternativschulen, die mit einem hohen Anspruch von Souveränität und Selbstorganisation angetreten sind, haben schnell festgestellt: Nein, Selbstorganisation heißt nicht Strukturlosigkeit. Ich bin mir sicher: Man benötigt immer einen Rahmen, ein Stück kuratorische Arbeit, damit sich alle souverän entfalten können.

Frau Stockmann, welchen Platz nimmt die Digitalität in ihrer Haltungs-Matrix ein?

Nicole Stockmann: Die Kultur der Digitalität hat viele Dinge verändert. Meine Tochter meinte neulich: „Mama, weißt du, was die lustigste Aussage von Lehrer:innen ist? Ich schlag’s nach bis zur nächsten Stunde!“ Warum sie das so lustig findet? Nachschlagen kann sie Dinge auch selbst. Weil Wissen frei zugänglich ist, verändert sich auch unsere Haltung. Weil die Lehrkraft nicht mehr alles weiß und das Wissen für sich bunkert, verändert sich unser Verhältnis zueinander.

»Eines der großen Haltungsthemen in der Kultur der Digitalität ist daher die faktische Machtumschichtung durch Kompetenzverlagerung.«

Andreas Knoth

Herr Knoth, Wie müssen sich Führungskräfte an Schulen im Zuge der digitalen Transformation ändern – im Sinne eines Digital Leadership?

Andreas Knoth: Der Begriff „Digital Leadership“ ist nicht primär auf das Digitale zugeschnitten. Digital Leader müssen dazu in der Lage sein, ein System, für das sie qua ihrer Rolle verantwortlich sind, so zu begleiten, dass es dezentraler und dynamischer funktioniert – und sich in einer ständigen Entwicklung befindet. Die Führungskraft muss digitale Schulentwicklung nicht alleine wuppen, sondern sollte vielmehr wissen, wo die zehn fitten Leute sitzen, die eine Strategie umsetzen können. Eines der großen Haltungsthemen in der Kultur der Digitalität ist daher die faktische Machtumschichtung durch Kompetenzverlagerung. Es erfordert eine gewisse Größe, Kontrolle abzugeben. Vertrauen ist dabei einer der zentralen Begriffe. 

Nicole Stockmann: Oh ja, das ist eine ganz große Herausforderung – für alle Beteiligten. Nicht alle Lehrkräfte rufen „Juche!“, wenn sie Verantwortung bekommen. Und selbst diejenigen, die das so empfinden, brauchen viel Unterstützung. Die Begleitung der Lehrkräfte ist meine Aufgabe als Führungskraft. Dabei müssen wir ganz viel Arbeit ins Loslassen stecken und alte Überzeugungen verabschieden.

Herr Knoth, Sie sagen, dass das Loslassen und Verlernen alter Muster und Haltungen viel schwieriger sei als das Erlernen neuer Praktiken. Wie lernen wir das Verlernen?

Andreas Knoth: Zuallererst müssen wir uns gestatten, dass das Neue nicht einfach nur obendrauf kommt, sondern auch etwas gehen kann. Das meint der Begriff der Exnovation – im Gegenzug zur Innovation. Eine alte Praxis oder ein Denkmuster zu verlernen, ist wirklich ein dickes Brett. In meiner Erfahrung lässt sich das am besten mit Mikropraktiken üben: Zum Beispiel kann man sich fünf Mal am Tag einen Reflexionspunkt setzen, um sich darüber gewahr zu werden, dass alte Muster nicht mehr dienlich sind. Diese Haltungsarbeit im Kleinen ist enorm wichtig. 

Nicole Stockmann: Für mich ist in diesem Kontext auch Spracharbeit enorm wichtig: Zum Beispiel möchte ich Worte wie „müssen“ oder „aber“ vermeiden. Das ist meine Form der Mikropraxis, um an Haltung zu arbeiten.

Frau Stockmann, Ihre Schule ist ein deutschlandweit einzigartiges Doppelgymnasium mit einer Doppelspitze. Vor welche Herausforderungen stellt Sie diese Doppelstruktur?

Nicole Stockmann: Bislang hatte ich immer das Glück, an beiden Schulen mit wundervollen Menschen zusammenzuarbeiten. Gut miteinander zu können, ist enorm wichtig. Gemeinsam für eine Schule verantwortlich zu sein, heißt nämlich auch: die Haltung gut miteinander ausreden zu können. Gleichzeitig entlastet eine gemeinsame Verantwortung an ganz vielen Stellen.

Andreas Knoth: Derlei modular aufgebaute Organisationen werden immer moderner. In Strukturen mit losen Kopplungen muss man das Thema Strategie besonders in den Blick nehmen. Nicht nur die Spitze sollte gut koordiniert sein. Es müssen Denkräume geschaffen werden, in denen sich Leute auf mehreren Ebenen mit ihren Fachlichkeiten und Kompetenzen verkabeln können. 

Nicole Stockmann: Wir versuchen bereits solche Räume zu schaffen, in denen Lehrkräfte gemeinschaftlich pädagogisch arbeiten können, etwa in Form von Stufenteams. Aber es ist ein langer Prozess: Die Strukturen sind schwierig aufzubrechen, weil wir für die Unterrichtsstunden bezahlt werden, die wir leisten. Lehrkräfte sind viel zu oft noch Einzelkämpfer:innen.

»Wenn es ein Umdenken hin zu mehr Zusammenarbeit gibt, könnten wir uns in manchen Bereichen mehr Freiräume schaffen.«

Nicole Stockmann

Was muss sich im System Schule ändern, damit Digital Leadership noch besser ankommen kann?

Andreas Knoth: Positive Veränderung kann nur gelingen, wenn Leute nicht an ihren Belastungsgrenzen sind. So wie ich das System Schule wahrnehme, sind viele Lehrkräfte und Schulleitungen aber bereits überlastet. Damit Schule wieder manövrierfähig wird, müssen wir Schulen entlasten. Wer unter Druck steht, kann nicht kreativ denken, ist nicht neugierig, will nicht gestalten. Erst wenn wir den Druck rausgenommen haben, können wir die großen Visionen angehen und umsetzen. 

Nicole Stockmann: Durch den Lehrkräftemangel nehme ich aktuell leider immer mehr Druck auf das System Schule wahr. Wir müssen die Veränderungen angehen, solange noch eine grenzwertige Belastung da ist. Das macht es schwierig. Kleinigkeiten könnten allerdings schon große Veränderungen mit sich bringen: Wenn es ein Umdenken hin zu mehr Zusammenarbeit gibt, könnten wir uns in manchen Bereichen mehr Freiräume schaffen.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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