Gastbeitrag

Auf mediale Situationen einlassen – Die Haltung von Lehrkräften ist entscheidend

von Bettina Waffner
veröffentlicht am 03.11.2020
Lesezeit: 9 Minuten

Über die Art der Nutzung vorhandener digitaler Medien in Schulen entscheiden in Deutschland vor allem die Lehrkräfte. Ausschlaggebend hierfür sind individuelle pädagogische Haltungen und die Einstellung gegenüber digitalen Medien. In Kombination miteinander betrachtet können diese den lernförderlichen Einsatz digitaler Medien verhindern oder ermöglichen, wie eine Auswertung internationaler Studien zeigt.

In Deutschland entscheiden in erster Linie Ministerien und Schulträger darüber, wie Schulen technisch ausgestattet werden und welche Fortbildungen für Lehrkräfte angeboten werden. Im Kontext der Corona-Pandemie ist die öffentliche Diskussion um den Einsatz digitaler Medien in Schulen vor allem von Forderungen geprägt, die (zu Recht) ein Mehr und Schneller bei der Verbesserung der technischen Ausstattung fordern. Dieses ist nur allzu verständlich, bieten doch digitale Medien bei Schulschließungen überhaupt erst die Möglichkeit, in hinreichender Form den Kontakt zu Lerngruppen aufrecht zu erhalten und Lernangebote zu schaffen. Allerdings führt eine Verbesserung der technischen Ausstattung und eine extensivere Nutzung digitaler Medien keineswegs automatisch zu sinnvolleren Lernangeboten für Schüler:innen.

Ob und wie aber digitale Medien pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden, liegt letztlich in der Hand der jeweiligen Lehrkraft. Daher sollten wir uns mit gleicher Intensität der Frage zuwenden, wie digitalgestützte lernförderliche Unterrichtsformate aussehen sollen und diese entwickelt werden können. Prägend für deren Ausgestaltung sind in entscheidendem Maße die pädagogischen Grundüberzeugungen und individuellen Einstellungen gegenüber digitalen Medien, die jede Lehrkraft mitbringt. Sie beeinflussen Ausmaß und Art der Nutzung digitaler Medien grundlegend, wenn als Grundvoraussetzung von einem notwendigen Mindestmaß an technischer Ausstattung und technischen Fähigkeiten ausgegangen werden kann.

Daher wollen wir uns mit diesem Beitrag den Einstellungen und Haltungen von Lehrkräften widmen, die einen Schlüssel für die Schaffung innovativer und lernförderlicher Unterrichtsszenarien mit digitalen Medien darstellen und somit über Erfolg oder Misserfolg der Medienintegration an Schulen entscheiden. (Drossel et al., 2017; Howley et al., 2011; Hsu, 2016; Khlaif 2018; Kopcha, 2012; Willis et al. 2019).

Digital ja, innovativ nein

Digitale Medien gehören im beruflichen Alltag von Lehrkräften häufig zum Standardrepertoire. Die Mehrheit von ihnen gibt an, digitalen Medien positiv gegenüber zu stehen (Hankmann, 2014; Ludewig et al., 2013). Weitere Studien können zumindest eine wohlwollende Einstellung gegenüber der Nutzung von Computern und Smartboards im Klassenraum empirisch nachweisen (Tsouccas & Meletiou-Mavrotheris, 2019; Jong et al., 2018; Howlett & Waemusa, 2018; Muslem et al., 2018; Mwila, 2018; Biçak, 2019). Beinahe könnte man schon von einem Siegeszug digitaler Medien in den Klassenraum sprechen. Warum also führen wir die Debatte darüber, dass die Digitalisierung in der Schule weniger angekommen sei als in anderen Bereichen? Warum herrscht eher eine positive Einstellung von Lehrkräften vor bei gleichzeitigem Fehlen innovativer digitalgestützter Lehrformate in der Schule, die die pädagogisch-didaktischen Potenziale heben?

Bei genauerer Betrachtung wird anhand von Forschungsbefunden deutlich, dass insbesondere in der Unterrichtsvorbereitung der Computer kaum mehr wegzudenken ist. Aber auch in der Unterrichtspraxis ist die Nutzung von Beamern und Laptops zur Präsentation weit verbreitet. Interaktive Whiteboards wurden an vielen Schulen angeschafft, die häufig ebenfalls für den traditionellen Frontalunterricht eingesetzt werden. In erster Linie werden digitale Medien also als „Ersatz für traditionelle Medien genutzt: Der Computer als Lexikonersatz, das Tablet als Arbeitsplatzersatz und das Smartboard als Tafelersatz“ (Zierer, 2015, S. 9). Die Skepsis gegenüber einem pädagogisch-didaktischen Einsatz des Internets ist unter Lehrkräften erheblich größer und steigert sich noch, wenn über einen Einsatz sozialer Netzwerke für das schulische Lernen nachgedacht wird (Sarac, 2018). Was sind die Gründe dafür, dass es trotz des relativ häufigen Einsatzes digitaler Medien in der schulischen Praxis nicht zu der Entwicklung innovativer Lehr-Lernszenarien kommt, welche die Potenziale der digital gestützten Unterrichtsformate ausschöpft?

Critical Review im Überblick

Dieser Beitrag basiert auf einem in Kürze erscheinenden Critical Review aktueller Forschungsliteratur, das im Rahmen des BMBF-Metavorhabens „Digitalisierung in der Bildung“ als erster Band einer Reihe erscheinen wird. Die systematische Forschungssynthese verfolgt drei zentrale Ziele. Zum einen wird erstens die bildungswissenschaftliche Debatte über die Bedeutung der Digitalisierung für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen erfasst. Das ermöglicht zweitens Forschungslücken zu erkennen, um vertiefte Analysen daran anschließen zu können. Drittens bildet die Forschungssynthese eine Grundlage für bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen.

Die Recherche in den einschlägigen wissenschaftlichen und populären Datenbanken für den Suchzeitraum zwischen 2010 und Mai 2019 ergibt eine Trefferanzahl von 3380 Titeln. Ziel der Auswahl, der in das Critical Review eingehenden Titel, ist es, diejenigen zu identifizieren, die die aktuelle internationale und deutsche Forschungsdebatte möglichst vollständig erfassen.

Eine ausführliche Darstellung des Recherche- und Auswahlvorgehens der Studie findet sich in der Publikation:

Waffner, Bettina (2020): Unterrichtspraktiken, Erfahrungen und Einstellungen von Lehrpersonen zu digitalen Medien in der Schule. In: Wilmers, A.; Anda, C.; Keller, C.; Rittberger, M. (Hg.) (forthcoming): Bildung im digitalen Wandel. Die Bedeutung für das pädagogische Personal und für die Aus- und Fortbildung. Münster: Waxmann.

Unsicherheiten zulassen, um Lerninnovationen zu ermöglichen

Ein Blick in empirische Forschungsbefunde kann eine Erklärung für dieses Phänomen liefern. Zum einen fehlen häufig Kenntnisse und Erfahrungen, um Unterrichtsformate zu entwickeln, in denen mobile digitale Medien zum Einsatz kommen (Ozdamli & Uzunboylu, 2015). Weder durch die Lehre:innenrausbildung noch aus der eigenen Schulerfahrung ist Lehrkräften bekannt, wie Lernprozesse digitalgestützt angeregt und begleitet werden können. Damit erhalten Fortbildungen, die sie darin unterstützen, sich beruflich weiter zu entwickeln, einen umso größeren Stellenwert. Auf diese Weise können Lehrkräfte den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden, die die digitale Transformation mit sich bringt. Marion Brüggemann hat medienpädagogische Orientierungsmuster erfahrener Lehrkräfte untersucht (2014) und ermittelt als eine weitere mögliche Erklärung für die Diskrepanz zwischen Computernutzung und pädagogischer Verknüpfung, dass sich Lehrkräfte nicht selten durch konservativ-bewahrende Haltungen auszeichnen, was im Bildungssektor durchaus eine wichtige Funktion einnimmt. Auf diese Weise können Stabilität und Sicherheit gewährleistet werden. Gleichzeitig geht damit eine medienkritische Position einher, die pädagogisch-didaktische Innovationen ausbremst und gleichzeitig traditionelle Verhaltensmuster manifestiert.

Wenn digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden, dann wird vorrangig das Ziel verfolgt, technisch-instrumentelle Nutzungskompetenzen zu vermitteln, anstatt die pädagogischen Lernziele des jeweiligen Unterrichtsfachs in den Vordergrund zu rücken. Das spiegelt sich auch in der Schulorganisation und den schulischen Curricula wider. Paradox erscheint zudem der Anspruch, einerseits Schüler:innen an eine verantwortliche Nutzung digitaler Medien heranzuführen und ihnen gleichzeitig keine Eigenständigkeit in deren Nutzung im Unterricht zu übertragen. In der Schule wird eher auf Kontrolle und Einschränkungen der Mediennutzung gesetzt (Brüggemann, 2014).

»Nur der Einsatz digitaler Medien als Ersatz traditioneller Medien allein besitzt kein innovatives Potenzial für die Entwicklung eines Unterrichts, der digitaler, vernetzter und individueller ist.«

Bettina Waffner

Zu guter Letzt lässt sich aus den Forschungsbefunden noch ein wichtiger Punkt identifizieren. Unter Lehrkräften ist die Annahme weit verbreitet, dass die Nutzung digitaler Medien per se zu einer Modernisierung des Unterrichts führe und somit einen sichtbaren Beweis der eigenen Professionalität und Aufgeschlossenheit gegenüber Innovationen darstelle. (Fransson et al., 2019). Allerdings ist diese Auffassung nicht begründet, denn eine zeitgemäße Professionalisierung des Unterrichts und die Förderung von pädagogisch-didaktischen Lerninnovationen erfolgt erst dann, wenn die Mediennutzung mit der Erreichung von pädagogischen Unterrichtszielen verzahnt wird. Die Quintessenz lautet: Nur der Einsatz digitaler Medien als Ersatz traditioneller Medien allein besitzt kein innovatives Potenzial für die Entwicklung eines Unterrichts, der digitaler, vernetzter und individueller ist. Zwar stellt eine positive Einstellung der Lehrkräfte gegenüber digitalen Medien eine notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Bedingung für eine pädagogisch-didaktisch sinnvolle Medienintegration in die Unterrichtspraxis dar.

Pädagogik nicht vor, sondern gemeinsam mit Technik

Neben der Frage der Einstellung zu digitalen Medien ist auch die pädagogische Grundhaltung ein zentraler Aspekt, der eine erhebliche Bedeutung dafür hat, wie und mit welchem Ziel digitale Medien eingesetzt werden (Hsu, 2016). Grundsätzlich können digitale Medien alle pädagogischen Paradigmen unterstützen,  sie fungierten „als extrem mächtige Verstärker für Vorhandenes“ (Muuß-Merholz, 2019). Lehrkräfte, die einem traditionellen behavioristischen Paradigma nahestehen, gehen davon aus, dass das Lernen als eine Reaktion auf ein Lernangebot in Form spezifischen Verhaltens erfolgt. Es brauche eine zügige Rückmeldung auf das Verhalten, um einen Lernprozess effektiv zu gestalten. So kann eine positive Rückmeldung das „richtige“ Verhalten verstärken. Welche Denkleistung der Schüler:innen erfolgt, ist wie in einer  Black Box in diesem pädagogischen Paradigma nicht beobachtbar. Beim Reiz-Reaktions-Lernen (Kerres, 2018) mit digitalen Medien werden kleinschrittige interaktive Lerneinheiten in Frage-Antwort-Mustern programmiert, welche die Motivation der Schüler:innen durch das Erreichen der nächsten Lerneinheit fördert. Lehrkräfte, die auf der Basis dieser pädagogischen Grundhaltung arbeiten, bevorzugen sogenannte Closed Apps, die Schüler:innen durch die vorgegebene Lerneinheit führen (Lynch & Redpath, 2014). Dabei sind sie Konsument:innen des Computerprogramms.

»Durch aktive Reflexionen, eigene und neue Erfahrungen mit digitalen Medien sowie Austausch und Zusammenarbeit können sich kenntnisreiche, professionelle Einstellungen und Haltungen ausbilden.«

Bettina Waffner

In der lerntheoretischen Position des Konstruktivismus wird davon ausgegangen, dass Lernen ein innerer, aktiver, selbstgesteuerter Konstruktionsprozess ist, der immer auch ein sozialer und emotionaler Prozess ist. Lehrkräfte, die diesem pädagogischen Paradigma folgen, bieten Schüler:innen ein Lernangebot und Unterstützung, Beratung und Anleitung für den individuellen Lernprozess (Kerres, 2018). Digitale Medien können hierbei Lernprozesse anregen und fördern, indem sie unterstützen, dass Schüler:innen im Lernprozess selbst Materialien, Kunstwerke oder andere Artefakte produzieren und kommunikative Elemente einbinden. Der:die Schüler:in wird in diesen sogenannten Open Apps zur Produzent:in (Lynch & Redpath, 2014). Es wird deutlich, dass die Art des Einsatzes digitaler Medien in die Unterrichtspraxis erheblich davon abhängt, welcher pädagogischen Grundhaltung die Lehrkraft folgt.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Potenziale digitaler Medien in einer sich verändernden Welt für das Lernen in der Schule in seiner Bandbreite von Lehrkräften mehrheitlich nicht erfasst werden, da Medien meist nicht als integraler Bestandteil des Lernprozesses verstanden werden. Vielmehr werden sie als ein modernes Tool zur Gestaltung des Unterrichts wahrgenommen (DeCoito & Richardson, 2018, S. 362). In der empirischen Forschung zeigt sich, dass eine positive Einstellung zu digitalen Medien und eine pädagogische Grundhaltung, die den individuellen, selbstgesteuerten Lernprozess der Schüler:innen befördert, eine bedeutende Voraussetzung für die Entwicklung zeitgemäßer Lerninnovationen bilden. Einstellungen und Haltungen können Lehrkräfte in langfristig angelegten Prozessen der beruflichen Fort- und Weiterbildung entwickeln und verändern. Durch aktive Reflexionen, eigene und neue Erfahrungen mit digitalen Medien sowie Austausch und Zusammenarbeit können sich kenntnisreiche, professionelle Einstellungen und Haltungen ausbilden.

Bettina Waffner

Bettina Waffner koordinierte bis Dezember 2021 am Learning Lab der Universität Duisburg-Essen das BMBF-Metavorhaben Digitalisierung in der Bildung. In jährlichen Critical Reviews erarbeitete sie dazu den aktuellen Forschungsstand zu zentralen Bereichen des Lernens in der Schule unter den Bedingungen der Digitalität. Das Thema Schulentwicklung betrachtete sie aus der Perspektive einer gestaltungsorientierten Bildungsforschung mit dem Anliegen, Schule als Organisation zeitgemäß zu gestalten und den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen. Seit Januar 2022 ist sie als Leiterin des Bereichs Landesverbandliche Arbeit im Servicezentrum der Berliner Volkshochschulen tätig.

https://digi-ebf.de/

Literatur

Eine Auflistung der Studien zu Einstellungen und Haltungen von Lehrkräften mit bibliographischen Angaben und Links finden Sie hier.