Interview
Deborah Loewenberg Ball: „Die kleinen Handlungen im Unterricht haben oft die größten Konsequenzen für Schüler:innen“
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veröffentlicht am 07.10.2021
Lesezeit: 9 Minuten
Lehrkräfte haben die Macht, gesellschaftliche Muster der Ausgrenzung zu durchbrechen, sagt die US-amerikanische Mathematikpädagogin Deborah Loewenberg Ball. Die renommierte Forscherin zeigt, wie Lehrkräfte den vorurteilsfreien Umgang mit schwarzen, indigenen und anderen marginalisierten Schüler:innen trainieren können – durch Verhaltensänderungen in Mikromomenten. In Zeiten der Black-Lives-Matter-Bewegung bekommt ihre Forschung neue Strahlkraft.
Zur Person
Deborah Loewenberg Ball forscht als Mathematikpädagogin an der University of Michigan. Sie beschäftigt sich insbesondere mit pädagogischen Fragen der Unterrichtspraxis und mit der Herausforderung, wie Lehrkräfte Rassismus, Ausgrenzung und Ungleichheit bekämpfen können. Zudem leitet sie die Initiative TeachingWorks. Diese Fortbildungsorganisation bietet Lehrkräften in den ganzen USA Workshops und Trainings zum Thema Bildungsgerechtigkeit an. Vor ihrer Forschungstätigkeit unterrichtete sie 15 Jahre lang an einer Grundschule. Bis heute steht sie im Sommer regelmäßig im Klassenzimmer.
In US-amerikanischen Schulen werden BIPOC (Black, Indigenous and other People of Color) unverhältnismäßig häufig bestraft. Was hat Unterrichten mit Gerechtigkeit und Ungleichheit zu tun?
Es sind vor allem schwarze Schüler:innen, die überproportional oft bestraft werden – überall in den USA. Die Forschung zeigt klar, dass dieses Ungleichgewicht das Resultat von subjektiven Bewertungen von Lehrkräften ist. Schwarze Mädchen werden von Lehrkräften viel häufiger als streitlustig, unhöflich oder ungehorsam interpretiert. Weiße Mädchen, die sich gleich benehmen, werden nicht so gelesen. Selbst schwarze Lehrkräfte, die in den USA ganz klar in der Unterzahl sind, interpretieren das Verhalten von schwarzen und weißen Mädchen derart unterschiedlich.
In Ihren Vorträgen betonen Sie stets, dass Unterrichten „powerful“ sei, also einflussreich. Was meinen Sie damit?
Der Effekt, den Lehrkräfte auf Kinder haben, ist dramatischer als wir oft annehmen. Kleine Momente im Unterricht können einen riesigen Effekt auf das Leben von Schüler:innen haben. Vor einiger Zeit habe ich Erwachsene in den ganzen USA nach prägenden Erfahrungen aus ihrer Schulzeit befragt. Sie erzählten mir von kleinen Momenten, in denen ein:e Lehrer:in wütend auf sie geworden war, sie rassistisch oder sexistisch behandelte. Diese Erlebnisse tragen die Erwachsenen heute, sechzig oder siebzig Jahre später, immer noch mit sich. Das ist die zerstörerische Seite von Macht.
Und wie sieht die schöpferische Seite von Macht aus?
Lehrkräfte haben die Macht, unsere sexistische, behindertenfeindliche und rassistische Welt zu verändern – durch die Art und Weise, in der sie mit Kindern interagieren. Wir betrachten Lehrkräfte viel zu oft als Marionetten der Bildungsverwaltung, die nur das ausführen, was die Regierung von ihnen möchte. Doch das ist nur teilweise richtig. Die kleinen Handlungen im Unterricht haben oft die größten Konsequenzen für Schüler:innen.
Welche Langzeitfolgen können Muster der Bestrafung und des Labelings haben?
Die hohe Zahl an Disziplinarstrafen in der Schule ist ganz klar in Verbindung zu bringen mit der Masseninhaftierung von schwarzen Menschen in den Vereinigten Staaten. Wenn Kinder schon früh bestraft werden, festigt sich ihr Image als „Troublemaker“. Die Daten zeigen, dass solche Kinder später eine größere Wahrscheinlichkeit haben, straffällig zu werden. Als schwarzer Mann in den USA liegt die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben im Gefängnis zu landen, bei eins zu drei. Lehrkräfte können diese institutionalisierten Muster der Bestrafung fortführen oder durchbrechen – durch Mikro-Interaktionen im Unterricht.
»Lehrkräfte haben die Macht, unsere sexistische, behindertenfeindliche und rassistische Welt zu verändern – durch die Art und Weise, in der sie mit Kindern interagieren.«
Für diese Mikro-Interaktionen haben Sie den Ausdruck „Discretionary Spaces“ geprägt. Was verstehen Sie darunter?
Viel zu oft folgen Lehrkräfte im Umgang mit Schüler:innen Gewohnheiten und Reflexen, die mit Diskriminierung verknüpft sind. Mit dem Begriff „Discretionary Spaces“ will ich zeigen, dass Lehrkräfte Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheiten haben. Statt aus Gewohnheit zu reagieren, sollten Lehrkräfte öfter innehalten. Als Lehrer:in haben Sie die Macht, zu pausieren und sich zu sagen: „Ich habe die Wahl!“ Statt ein schwarzes Mädchen aus Gewohnheit zu belehren, dass es sich nicht so respektlos verhalten soll, können Sie bewusst andere Optionen wählen. In solch kleinen Momenten haben Lehrkräfte die Möglichkeit, diskriminierende Muster fortzusetzen oder zu durchbrechen.
Um diese Mikro-Momente festzuhalten, haben Sie über die Jahre eine beeindruckende Kollektion von Videoaufnahmen aus der Unterrichtspraxis gesammelt. Können Sie ein Beispiel nennen, wie Lehrkräfte diskriminierende Muster durchbrechen können?
In Workshops zeigen wir gerne einen kurzen Clip aus einer meiner Mathematikstunden. Darin sieht man, wie eine Klasse das Bruchrechnen übt. Ein eher zurückhaltendes Mädchen zeigt ihren Lösungsweg an der Tafel vor der Klasse. Ein anderes, selbstbewusstes Mädchen unterbricht sie, stellt eine Frage, kichert, spielt mit ihren Haaren. Beide Mädchen sind schwarz, wie der Großteil in der Klasse. Nach diesem kurzen Ausschnitt fragen wir die teilnehmenden Lehrkräfte, was sie darin sehen. Oft heißt es dann: „Das schwarze Mädchen benimmt sich schlecht. Ich würde mit ihr über ihr Verhalten sprechen.“ Ich erkläre dann, dass es eigentlich keine Rolle spielt, ob sich das Mädchen tatsächlich respektlos verhalten hat – denn was hinter ihrem Verhalten steckt, können wir nicht wissen.
Wie könnten Lehrkräfte stattdessen mit der Situation umgehen?
Die Lehrkräfte sollten sich drei Fragen stellen: Stört das Verhalten das Kind selbst beim Lernen? Stört das Kind Mitschüler:innen beim Lernen? Oder nervt das Verhalten nur mich selbst? Sehr oft können Lehrkräfte nur die letzte Frage mit „Ja“ beantworten. Dann sollten sie über alternative Handlungsmöglichkeiten nachdenken. Statt das Verhalten zu rügen, können sie etwa den inhaltlichen Beitrag des Mädchens zum Unterricht thematisieren. Damit beeinflussen sie in jedem Fall die nächsten Schritte des Mädchens. So lernen die Lehrkräfte, die Storyline in ihren Klassenzimmern zu verändern – und entziehen dem Mädchen das Image des Troublemakers.
Welche konkreten Schritte in der Lehrkräftebildung können Sie ansonsten empfehlen, um diskriminierende Muster zu durchbrechen?
Der erste Schritt ist, diskriminierende Handlungen zu erkennen. Dabei helfen Videoanalysen. Als nächster Schritt folgt, wahrzunehmen, dass solche Handlungen keine Einzelfälle sind, sondern auf Mustern beruhen. Dabei helfen Daten: Studien zeigen, dass schwarze Kinder und Jugendliche seltener für Hochbegabtenprogramme ausgewählt werden, dafür häufiger für Initiativen für Schüler:innen mit „besonderen Bedürfnissen“. Als nächstes müssen Lehrkräfte alternative Handlungsweisen trainieren. Gewohnheiten zu durchbrechen, ist wie einen Muskel zu trainieren. Am Ende ist es also eine Kombination aus Bewusstseinsschaffung und anschließender Übung.
Wie ist es Ihnen gelungen, Ihre eigenen Vorurteile über Bord zu werfen?
Es ist ein langer Weg, zu einer besseren Lehrkraft zu werden; eigentlich ein Weg, der nie aufhört. Mir hat geholfen, mit Menschen zu arbeiten, die andere Hintergründe haben als ich. Außerdem unterrichte ich immer noch regelmäßig, um die Überwindung meiner eigenen Vorurteile zu trainieren. Nicht zuletzt hilft es mir, zu erkennen, wie viel Einfluss ich als Lehrerin habe: Einmal habe ich einen achtjährigen Schüler unterrichtet. Als ich ihn kennenlernte, brachte er einen unheimlich dicken Ordner mit seiner Personalakte mit. Ich habe entschieden, die Akte gar nicht zu öffnen. Es kam mir so lächerlich vor: ein Achtjähriger, der schon so viele Probleme haben soll? Stattdessen habe ich den Jungen ganz unvoreingenommen behandelt. Und siehe da, plötzlich hat er sich selbst nicht mehr als Unruhestifter, furchtbarer Schüler und Störenfried betrachtet. Zu sehen, wie viel Einfluss die eigenen Handlungen haben können, war sehr wichtig für meine Entwicklung.
»Gewohnheiten zu durchbrechen, ist wie einen Muskel zu trainieren.«
Inwiefern können datengetriebene, digitale Tools Lehrkräften dabei helfen, Ungerechtigkeiten zu überwinden?
Das Heranziehen von Daten kann diskriminierende Muster offenlegen. Sehr oft besteht allerdings die Gefahr, dass Menschen die Daten einfach hinwegargumentieren. Zum Beispiel zeigen Daten eindeutig, dass Schwarze häufiger von der Polizei getötet werden als Weiße. Oft heißt es dann aber: Naja, Schwarze tragen ja auch häufiger Waffen mit sich und sind potenziell gefährlicher für die Polizei. Ähnlich ist es in der Schule. Wenn Leistungslücken zwischen weißen und schwarzen Schüler:innen erklärt werden, wird das oft folgendermaßen interpretiert: Schwarze Kinder würden zu Hause weniger Unterstützung bekommen, hätten ökonomisch schlechtere Voraussetzungen, seien sogar weniger intelligent. Auf diese Weise werden Daten benutzt, um bestehende Vorurteile zu verstärken.
Daten können also bestehende Vorurteile reproduzieren?
Genau, diese Erklärungen verstärken bereits bestehende Vorurteile. Damit keine algorithmische Voreingenommenheit entsteht, müssen Daten deshalb sehr sensibel und smart eingesetzt werden. Wenn das passiert, sind Daten aber wichtig, weil sie von der individuellen auf die systemische Ebene verweisen.
Wie hat die Corona-Pandemie diese Muster der Unterdrückung verändert?
Das Narrativ, das meistens erzählt wird, lautet: Die Lernlücken von schwarzen Kindern hätten sich durch die Pandemie vergrößert. Was oft nicht gesagt wird: Für viele schwarze Kinder war die Zeit des Homeschoolings eine große Erleichterung. Plötzlich waren sie nicht mehr dem Risiko ausgesetzt, von ihren Lehrkräften bestraft und gerügt zu werden. Ich bin überzeugt, dass einige schwarze Kinder im letzten Jahr sogar dazugewonnen haben. Sie konnten ohne Druck neue Dinge lernen und sich mit ihren Interessen beschäftigen. Der größte Fehler, den wir nun machen könnten: Die Leistungen aller Kinder anhand von großflächigen Tests überprüfen, sobald die Schulen wieder öffnen. Das würde den Druck nur wieder verstärken. Stattdessen sollten wir offen sein für die Lebenswelten und Erkenntnisse der Schüler:innen während der Pandemiezeit.
Können die Erkenntnisse, die Sie in den Vereinigten Staaten über die Überwindung von Vorurteilen gewonnen haben, auch in anderen Ländern nutzbar gemacht werden?
Deutschland hat seine ganz eigene Geschichte mit verschiedenen Arten von Rassismen, Sexismen und Unterdrückung. Anti-Blackness ist aber ein globales Phänomen. Deshalb glaube ich, dass der grenzübergreifende Austausch zu diesem Thema sehr gewinnbringend sein kann. Wie blicken Deutsche heute auf Juden und andere ausgegrenzte Gruppen? In den USA könnten wir viel von der deutschen Geschichte lernen – umgekehrt mit Sicherheit auch.
Lassen Sie uns zum Schluss ein wenig träumen. Wie würde eine USA aussehen, in der alle Lehrkräfte die Fähigkeit besäßen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen zu durchbrechen?
Über fähige Lehrkräfte zu verfügen, wird nicht alle Probleme der Vereinigten Staaten lösen. Wir brauchen genauso Reformen unseres Sozialsystems, um der großen Schere in den Einkommen und der Gesundheitsversorgung zu begegnen. Dennoch ist unser Bildungssystem sehr einflussreich: Die Schule ist die einzige Institution, die jeder einzelne Mensch in unserem Land durchlaufen muss. In meinen Vorträgen sage ich oft: Jene Polizist:innen, die heute Schwarze erschießen, waren auch einmal Kinder. In der Schule beobachteten sie wahrscheinlich Lehrkräfte, die unverhältnismäßig oft schwarze Mitschüler:innen bestraften. Das hat ihre Haltung und ihre Gewohnheiten mitgeprägt. Mit ihren Handlungen können sie also wirklich einen großen Unterschied machen, um Rassismus, Sexismus und Behindertenfeindlichkeit zu bekämpfen.