Impuls
Digital Leadership: Schulleitungsqualifizierung und Transformation
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veröffentlicht am 29.03.2023
Lesezeit: 9 Minuten
Das Forum Bildung Digitalisierung hat ein Konzept zur digitalisierungsbezogenen Schulleitungsqualifizierung entwickelt. Im Sommer 2022 fand an der Akademie für Innovative Bildung und Management (aim) die Pilotierung der Schulleitungsqualifizierung BD in Präsenz statt. Mit dabei auch ein Team der Gymnasien im Ellental in Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart.
Den Unterschied zwischen Change und Transformation lernt man am besten beim Legospielen. Im Mai 2022 sitzen Nicole Stockmann, Ingo Knesch, Marco Heinzmann und Merve Bartnick an Tischen in einem Seminarraum in Heilbronn und hantieren mit bunten Steinen. Sie sind als Team der Gymnasien im Ellental in Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart angereist. Die Schule ist ein Doppel-Gymnasium, Stockmann leitet den sprachlichen Zweig, Knesch verantwortet den naturwissenschaftlichen Zweig. Merve Bartnick, Multimediaberaterin und Marco Heinzmann, Netzwerkbetreuer an der Schule, nehmen als Teil des Schulentwicklungsteams ebenfalls an der Schulleitungsqualifizierung teil.
Es ist der erste Präsenztermin der Schulleitungsqualifizierung BD, die das Forum Bildung Digitalisierung gemeinsam mit der Dieter Schwarz Stiftung mit der Akademie für Innovative Bildung und Management Heilbronn-Franken gemeinnützige GmbH (aim) sowie der Wübben Stiftung entwickelt hat. Schulleitungsteams wie aus Ellental sollen lernen, Entwicklungsvorhaben zur digitalen Transformation professionell umzusetzen. Dazu wäre zunächst zu klären: Womit haben wir es eigentlich zu tun, wenn wir von digitaler Transformation sprechen?
Bei einer echten Transformation gehe es dagegen um das Herantasten an das noch Unbekannte in einem kreativen, agilen Prozess.
Herantasten an das Unbekannte
Es gebe da nämlich ein Missverständnis, wie Sabine Marsch, Oberstufenkoordinatorin der Montessori Oberstufe Berlin und Trainerin für Schulentwicklung, sowie Romy Möller, Leadership-Coachin für Schule und Wirtschaft, den Teilnehmenden gerade eben veranschaulicht hatten. Viele Führungskräfte, nicht nur an Schulen, verstünden unter Transformation schlicht die Optimierung eines bereits bekannten Prozesses, so die beiden Leiterinnen der Schulleitungsqualifizierung. Etwas, was gemeinhin auch als Change Management beschrieben wird.
Bei einer echten Transformation gehe es dagegen um das Herantasten an das noch Unbekannte in einem kreativen, agilen Prozess. Und damit das nicht einfach so abstrakt im Raum stehen bliebe, habe man ein Spiel vorbereitet: Gemischte Teams sollen zunächst Legosteine sortieren, dann so schnell wie möglich Bauwerke nach Regeln zusammensetzen, die immer uneindeutiger wurden. Irgendwann darf nicht mehr gesprochen werden, die Abstimmung erfolgt durch Blicke und Gesten. In der letzten der insgesamt vier Runden werden die Teams ständig neu gemischt.
Veränderung erleben
„Dann wurde es wirklich spannend und herausfordernd“, erinnert sich Ingo Knesch. „Plötzlich stand man an einem neuen Tisch und wusste überhaupt nicht, wie sich das Team organisiert hatte. Man musste sich da immer wieder neu justieren.“ Auch bei Nicole Stockmann hinterließ das Spiel einen bleibenden Eindruck: „Mir wurde plötzlich klar, wie sehr wir besonders dann auf die ganze Gruppe angewiesen sind, wenn wir von einem geordneten in einen eher ungeordneten Zustand kommen. Wenn es darum geht, sich an eine echte Vision heranzutasten und nicht einfach nur bestehende Prozesse weiter zu verfeinern. Dann macht Führung im klassischen Top-down-Verständnis keinen Sinn mehr. Dann geht es wirklich darum, das gemeinsam mit der ganzen Gruppe zu schaffen. Sonst kommt es zum Chaos.“
Was das Team aus Ellental an den Gruppentischen live miterleben durfte, basiert auf einem Modell des ehemaligen IBM-Mitarbeiters und Beraters Dave Snowden. Im sogenannten Cynefin-Framework (walisich für „Lebensraum“) wird unterschieden zwischen Veränderungen, die durch Ordnung und lineare Kausalität gekennzeichnet sind (simpel und kompliziert), und zum anderen in Veränderungen, die durch Agilität und Komplexität geprägt sind (komplex und chaotisch). Den Anspruch der Schulleitungsqualifizierung, Erkenntnisse aus der aktuellen Management-Theorie auch in konkreten Situationen erlebbar zu machen, hat für Nicole Stockmann und ihre Kolleg:innen jedenfalls sehr gut funktioniert. Und es gab einige dieser Aha-Momente. „Nicht mehr vergessen werde ich die Aufgabe, die einzelnen Phasen eines Veränderungsprozesses tänzerisch zu beschreiben“, erinnert sich die Schulleiterin. „Es ging tatsächlich um die Frage: Wie fühlt es sich an, in seiner Komfortzone zu sein, in den Widerstand zu gehen, tiefe Verunsicherung zu spüren und zuletzt, wenn alles gut läuft, in einen neuen Zustand der Ruhe und des Flows zu kommen.“
Agile Methoden für den Schulalltag
Die Frage ist natürlich immer: Was bleibt von solchen vergleichsweise intensiven und speziellen Erfahrungen im stressigen Schulalltag übrig? „Ich denke, die positive Energie, die bei den Präsenzterminen zu spüren war, hat bei jedem von uns einen wichtigen Impuls gesetzt“, sagt Netzwerkbetreuer Marco Heinzmann. Für ihn war Digitalisierung vor der Fortbildung vor allem eine Frage der Technik. „Das hat sich jetzt deutlich geändert. Mir ist jetzt viel klarer, dass wir es mit einem ganz grundsätzlichen Veränderungsprozess zu tun haben. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit, auch wenn das aus einer reinen Technikperspektive anders aussieht.“ Besonders dankbar ist er außerdem für den ganzen „Werkzeugkasten“ an Methoden, den er aus Heilbronn mitnehmen durfte.
»Ich denke, die positive Energie, die bei den Präsenzterminen zu spüren war, hat bei jedem von uns einen wichtigen Impuls gesetzt.«
Tatsächlich bietet die Schulleitungsqualifizierung ein ganzes Bündel an agilen Methoden, die Schulleitungsteams auf dem Prozessweg der Transformation begleiten können. Darunter etwa Strategien zur Gestaltung kreativer Prozesse. Multimediaberaterin Merve Bartnick etwa war ganz begeistert von der sogenannten Kopfstandmethode, einer Brainstorming-Technik, die mithilfe negativer Fragen neue Ideen generiert. Da Menschen leider sehr gut sind, zu kritisieren und negativ zu denken, stellt man eine Ausgangsfrage zunächst auf den Kopf, um am Ende alle negativen Ideen wieder ins Positive zu kehren. Ebenfalls vorgestellt wurde das Austauschformat Open Space, das die ungezwungenen und deshalb oft so konstruktiven Kaffeepausengespräche versucht, auch in einem größeren Rahmen nutzbar zu machen. Wichtig dabei: Jede:r kann teilnehmen, egal ob Hausmeister:in, Elternteil, Lehrkraft oder Schulleitung. Es steht ausreichend Zeit zur Verfügung, um kreative Momente zu schaffen. Außerdem gilt das „Gesetz der zwei Füße“. Das heißt, die Teilnehmenden bleiben nur solange beim Thema, bis sie nichts mehr beitragen oder lernen können. So einen Open Space wird es Anfang nächstes Jahr auch an den Gymnasien im Ellental geben.
Denn, wie Nicole Stockmann betont: Die Schulleitungsqualifizierung hat dem Veränderungsprozess, in dem sich ihre Schule schon seit Jahren befindet, einen deutlichen Schub verpasst. „Es ist ja nicht so, dass uns das alles neu war. Und auf technischer Seite sind wir inzwischen auch schon sehr gut aufgestellt. Das ist gar nicht so sehr unsere Baustelle“, berichtet sie. „Viel wichtiger war es für uns, Führung neu zu denken und unsere Entscheidungsprozesse viel transparenter für die gesamte Schulgemeinschaft zu machen.“ Als es nach zwei ersten Präsenztagen in Heilbronn darum ging, eine Vision für die Schule der nahen Zukunft zu entwerfen (2027 sollte als Orientierungsjahr gelten), war dem Team um Stockmann sofort klar: Das wird am Ende nur funktionieren, wenn nicht nur das vollständige Kollegium eingebunden wird, sondern ebenso die Schüler:innen und Eltern.
Austausch im Kollegium
In einem ersten Schritt organisierte das Schulleitungsteam einen Austausch mit den Kolleg:innen der erweiterten Schulleitung. Zum Einsatz kam der an der Pädagogischen Hochschule Zürich entwickelte Kompass für den digitalen Wandel, ein Kartenset, das verschiedene Bereiche der Schulentwicklung umfasst und als Standortbestimmung und Orientierungshilfe dient. Auf den Kontext der technischen Infrastruktur habe man bewusst verzichtet, so Stockmann, „die entsprechenden Karten haben wir einfach aussortiert“. Etwa die Hälfte der rund 1.200 Schüler:innen an den Ellental-Gymnasien (Jahrgang 9 bis 12) sind komplett mit iPads ausgestattet, Digitalisierung als technische Infrastruktur stellt inzwischen niemand mehr infrage. „Jetzt geht es darum, den nächsten Schritt in die Digitalität zu machen“, ergänzt Merve Bartnick. Digitalisierung und Digitalität: Auch ein Begriffspaar, über dessen spezifische Bedeutung in der Schulleitungsqualifizierung gesprochen wurde. Digitalisierung als Veränderungsprozess, Digitalität als Zustand, in dem die Digitalisierung eine gewisse Breite und Tiefe erreicht hat.
Weiter ging es, jetzt bereits nach Abschluss der Fortbildung, mit einem Workshop im Rahmen der Gesamtlehrer:innenkonferenz. „Wir hatten uns, wie schon im kleinen Team, mit den möglichen Visionen für eine Schule in naher Zukunft gewidmet“, berichtet Marco Heinzmann. „Jetzt wollten wir diesen Prozess für das gesamte Kollegium öffnen.“ Die Aufgabe: Zeichne das, was die Schule aus deiner Sicht im Jahr 2027 ausmacht. Für viele keine leichte Aufgabe, dennoch habe man richtig viele gute Ideen sammeln können, so Heinzmann. „Es war schön zu sehen, dass dabei ganz ähnliche Themen angesprochen wurden, wie wir sie schon bei der Qualifizierung diskutiert hatten: den Wandel weg vom klassischen Führen hin zu mehr Teamarbeit, mehr Zeit für die Schüler:innen.“
Schüler:innen einbinden
Die Schüler:innen hatten bereits Gelegenheit, sich an der Erarbeitung der Zielbilder zu beteiligen. Dazu wurden die Mitglieder des Schüler:innenrates, also sämtliche Klassen- und Kurssprecher:innen zu einem Termin eingeladen, an dem, wieder mithilfe des Kartensets „Kompass für den digitalen Wandel“, Ideen und Wünsche für eine Schule der Zukunft erarbeitet wurden. „Für uns Schüler:innen war das eine wichtige Geste“, sagt Schüler:innensprecher Julius Zimmermann. „Auch deshalb, weil uns plötzlich bewusst wird, dass wir nicht die Einzigen sind im System, die immer stärker das Gefühl haben, es müsste sich dringend etwas ändern am Unterricht.“ Gewünscht wird zum Beispiel mehr Anwendungsbezug. „Die Schule könnte noch näher am Leben unterrichten“, erklärt Julius Zimmermann. „Zum Beispiel die Frage, wie ich eine Versicherung abschließe. Das muss im Augenblick noch viel zu häufig durch Panik-Anrufe bei den Eltern geklärt werden.“ Schüler:innensprecherin Maraike Kruse und Sofia Lesky finden es zudem wichtig, Unterricht fächerübergreifender zu gestalten. „Wenn ich beispielsweise sehr gut in Musik bin und das Unterrichtsthema sich mit dem Lehrplan in Kunst überschneidet, wäre es doch sinnvoll, mir auch in Kunst die Gelegenheit zu geben, dieses Talent anwenden zu können“, erklärt Maraike Kruse.
»Wir wollen, dass die Schulgemeinschaft zu einer gemeinsamen Vision kommt. Letztlich geht es hier um einen Kulturwandel. Und der braucht Zeit.«
Ausblick
Für Schulleiterin Nicole Stockmann ist das nur der Anfang eines längerfristigen Prozesses. In diesem Jahr plane man, sich noch weiter zu öffnen und auch die Elternschaft mit einzubeziehen. „Wir wollen, dass die Schulgemeinschaft zu einer gemeinsamen Vision kommt“, bekräftigt sie. „Letztlich geht es hier um einen Kulturwandel. Und der braucht Zeit.“ Die Schulleitungsqualifizierung BD habe dabei auf jeden Fall wichtige Impulse gesetzt.
Damit diese in Zukunft auch anderen Schuleitungsteams zur Verfügung steht, wurde das Qualifizierungskonzept nach der Pilotierung öffentlich zugänglich gemacht. Vor allem interessierte Landesinstitute sollen und können davon profitieren. Um Akteuren aufseiten der Bundesländer die Umsetzung der Schulleitungsqualifizierung BD in den eigenen Strukturen zu erleichtern, findet dieses Jahr eine Train-the-Trainer-Qualifizierung statt, die in das Konzept und die Arbeitsweisen einführt. Diese soll die Teilnehmenden befähigen, das Qualifizierungskonzept eigenständig umzusetzen. Das Forum Bildung Digitalisierung unterstützt bei den ersten Schritten und stellt einen Rahmen zur Verfügung, in dem die Ländervertreter:innen ihre Erfahrungen gemeinsam reflektieren und so mit- und voneinander lernen können.