Gastbeitrag
Digitale Bildung ist eine Haltungsfrage
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veröffentlicht am 31.10.2019
Lesezeit: 6 Minuten
Mittlerweile wissen wir: Digitale Bildung lässt sich nicht anhand der Konturen internetfähiger Geräte entwickeln. Das Internet selbst in all seinen Erscheinungsformen fordert uns Pädagog:innen immer wieder auf, eine Haltung einzunehmen. Die Fragen der Bildung in der digitalen Welt sind längst Fragen mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Wenn wir möchten, dass die nächste Generation souveräner damit umgehen lernt, brauchen wir eine grundsätzlich offenere Haltung.
Start-ups im Bildungsbereich mit digitalen Tools und Methoden ringen zunehmend um die Aufmerksamkeit der Schulen, Curricula zur Förderung der Medienkompetenzen stehen zur Verfügung und auf Tagungen diskutiert man die Chancen und Risiken der Digitalisierung im Unterricht. Doch am Ende hängt es von den jeweiligen Lehrkräften ab, ob diese Innovationen, Konzepte und Tools bis in den Klassenraum gelangen – oder eben nicht.
Wenn wir als angehende Lehrkräfte die uns neuen Herausforderungen des Schulalltags bewältigen wollen, verbringen wir während der Ausbildung viel Zeit damit, die Personen zu beobachten, von denen wir erhoffen, dass sie solchen Herausforderungen gewachsen sind. Im Studium schauen wir demnach auf unsere Professor:innen. Im Referendariat erhoffen wir uns Lösungen von unseren Seminarleitungen und unseren Mentor:innen. Auf sie sind wir angewiesen. Denn wir lernen – wie überall – häufig durch Nachahmung. Oder durch Ablehnung beziehungsweise Anpassung einer möglichen Nachahmung.
Im Kontext der digitalen Bildung ist das nur begrenzt möglich. Hier lautet die häufigste Devise für angehende Lehrkräfte derzeit: ausprobieren. Was allerdings in allen Phasen der Ausbildung fehlt, sind gute Vorbilder. Um bei dem Thema dennoch anschlussfähig zu bleiben, ergeben sich für uns Lehrkräfte zwei Handlungsmöglichkeiten in der Unterrichtspraxis, die jedoch beide in einem Dilemma münden.
Selber Vorbild werden
Schüler:innen, die im Unterricht sinnvoll und reflektiert mit digitalen Tools und Inhalten umgehen sollen, brauchen Lehrkräfte, die ihnen das glaubhaft vormachen. Wenn ich als Lehrkraft selbst immer wieder abgelenkt auf mein Smartphone schiele oder Google die einzige Suchmaschine ist, die ich nutze, obwohl ich stets auf die Wichtigkeit des Datenschutzes hinweise, wirke ich unglaubwürdig. Schüler:innen haben in der Regel ausreichend Zeit, mich in meinem Verhalten zu beobachten und darin zu bewerten. So wie auch Studierende genügend Zeit haben, sich über das Digitalverhalten ihrer Professor:innen eine Meinung zu bilden, oder Referendar:innen über die Medienkompetenzen ihrer Seminarleitungen. Das Dilemma: Die Bildung in der digitalen Welt stellt uns Lehrkräfte damit vor eine grundsätzliche Herausforderung. Wir sollen Vorbilder für unsere Schüler:innen sein, es fehlt uns selbst aber an Orientierung und Nachahmungsmöglichkeiten während des Studiums oder Referendariats.
Auf Peer-Education und offene Unterrichtsausgänge setzen
Die Digitalisierungsdebatte eröffnet uns Lehrerkräften wie keine andere die Chance, über unsere Rolle neu nachzudenken. Wenn wir selbst nicht Experte bzw. Expertin sind, müssen wir lernen, in offeneren Lernformaten Verantwortung an unsere Schüler:innen abzugeben, damit diese zu Expert:innen werden können. Das erfordert die nicht zu unterschätzende Fähigkeit, loslassen zu können. Zwar bleiben wir die Person, die Impulse gibt, strukturiert, moderiert und nachsteuert, aber was am Ende einer Unterrichtsphase herauskommt, ist dann viel stärker abhängig vom Interesse, den Fähigkeiten und dem Engagement der jeweiligen Schüler:innen. Das Dilemma hier: Die Unterrichtsbesuche und Examensprüfungen während der Ausbildung trainieren angehende Lehrkräfte nach wie vor eher zu Einzelkämpfenden im 45-Minuten-Takt. Die mögliche Ausgestaltung kreativer Unterrichtsideen wird meist durch einheitliche schriftliche Unterrichtsentwürfe eingeschränkt. Das Unterrichtsziel und der individuelle Kompetenzzuwachs jeder noch so kleinen Einheit muss von vornherein feststehen. Ein solches Unterrichtsverständnis entzieht allen experimentellen Ansätzen und mutigen Projektideen die Grundlage. In den Strukturen der Ausbildung von Lehrkräften kommt somit kaum vor, was wir für die Entwicklung der digitalen Bildung so dringend brauchen.
Mittlerweile wissen wir: Es sind nicht die Smartboards und Tablet-Klassen, die uns die gewünschten Antworten und Fortschritte liefern. Digitale Bildung lässt sich nicht anhand der Konturen internetfähiger Geräte entwickeln. Das Internet selbst in all seinen Erscheinungsformen fordert uns Pädagog:innen immer wieder auf, eine Haltung einzunehmen. Täglich fragt es uns, ob es mal bei uns hospitieren darf, Antworten auf Gegenfragen bleiben aber aus: Lass ich das mit dem Handy jetzt durchgehen oder nicht? Wie kann ich die Digitalkompetenzen meiner Schüler:innen ohne eine funktionierende digitale Infrastruktur an meiner Schule fördern? Müssen wir jetzt alle Löten lernen? Wie kann ich sicher sein, ob die im Unterricht verwendeten Quellen fake oder real sind? Werden meine Schüler:innen in 20 Jahren von Algorithmen ferngesteuert, weil ich ihnen heute nicht beibringen kann, wie man selbst welche programmiert?
»Die Digitalisierungsdebatte eröffnet uns Lehrerkräften wie keine andere die Chance, über unsere Rolle neu nachzudenken.«
Die Fragen der Bildung in der digitalen Welt sind längst Fragen mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Die Konzentrationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen lässt nach, die Internetabhängigkeit nimmt zu, Fake News und Social Media konfrontieren uns mit ethischen Fragen zum richtigen Umgang mit uns und den Informationen, die uns umgeben. Wenn wir möchten, dass die nächste Generation souveräner auf diese Fragen antworten kann, müssen wir sie ihnen heute in unseren Schulen stellen. Wie setzen wir das um? Vier Vorschläge könnten zwischen den Technologie-Dystopien des Silicon Valley und den milchigen Linsen vertrauter Tageslichtprojektoren zu mehr beispielhaften Umsetzungen führen:
- Eine grundsätzlich offenere Haltung in allen Ausbildungsphasen: Lassen Sie uns die verstaubten Strukturen und Prüfungsformen in der Lehrkräfteausbildung grundlegend überarbeiten, damit wir durch neue Ansätze und mehr Experimentierfreudigkeit zukunftsfähige Lehrkräfte ausbilden.
- Vom Umgang mit Medien zum Umgang mit Informationen: Unabhängig von der digitalen Ausstattung einer Schule können wir uns auch ganz analog mit den Risiken des Internets auseinandersetzen: Wie gehen wir mit Wissen um? Woher wissen wir, welche Informationen richtig und relevant sind? Hinter den meisten Kompetenzen, die wir mit der digitalen Bildung schulen wollen, liegen Kernkompetenzen, die wir auch ohne Tablets fördern können.
- Digitale Bildung da umsetzen, wo sie sinnvoll ist: Ihr Einsatz und ihre Weiterentwicklung muss unserer globalen Gesellschaft guttun. Das passiert da, wo sie uns beispielsweise beim Erreichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen unterstützt.
- Zeitgemäße Arbeitsstrukturen im Lehramt schaffen: Die Ansprüche einer gelingenden Bildung in der digitalen Welt können von den Lehrkräften nicht alleine hinter zugezogener Klassenzimmertür gelöst werden. Die Arbeitsbelastung im Schulalltag ist groß und die Entwicklungsarbeit in chaotischen Lehrerzimmern nur bedingt möglich. Bildung in der digitalen Welt kann nicht als zusätzliche Aufgabe und auch nicht nebenbei in allen Fächern vorangebracht werden. Wenn sie uns wirklich wichtig ist, müssen wir unseren Lehrkräften und Klassengemeinschaften dafür die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen und veraltete Aufgaben klar aussortieren, das heißt die Kooperationsfähigkeit von Schulen fördern, das Stunden-Deputats-Modell erneuern, die Arbeitsplatzstrukturen verbessern, den Lehrkräften ausreichend Fachleute zur Verfügung stellen und mit engagierten Lehrkräften mehr riskieren dürfen.