Gastbeitrag
Gemeinsam lernen, gemeinsam lehren – die Kraft der Kooperation in Singapur, Japan und Finnland
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veröffentlicht am 07.08.2023
Lesezeit: 9 Minuten
Um die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, müssen Schulen das in Deutschland immer noch verbreitete Einzelkämpfertum aufbrechen. Singapur, Japan und Finnland sind hier schon viel weiter. Um mir anzuschauen, wie dort auf die Zusammenarbeit von Lehrkräften gesetzt wird, habe ich über mehrere Monate lang Schulen in den drei PISA-Siegerländern besucht.
Es ist Freitag, kurz vor der Mittagspause in einer Sekundarschule in Singapur. Ich sitze im Lehrkräftezimmer und warte. Es ist der letzte Tag meines einwöchigen Besuchs an dieser Schule und ich bin mit einer Gruppe von Mathematiklehrkräften verabredet, die sich bereit erklärt haben, mit mir über die Zusammenarbeit an ihrer Schule zu sprechen. Aber ich bin früh dran und habe noch ein paar Minuten Zeit, um mich etwas umzusehen.
Die meisten Lehrkräftezimmer in Singapur ähneln einem Großraumbüro; sie dienen als Arbeitsräume. Lehrkräfte desselben Faches sitzen zusammen oder haben ihren eigenen Raum. Jede Lehrkraft hat einen Schreibtisch und viel Stauraum für Unterrichtsmaterialien. An den dünnen Trennwänden zwischen den Tischen hängen Stundenpläne, Familienfotos und bunte Notizzettel. Die Schreibtische sind mit Arbeitsblättern, Kaffeetassen und Laptops bedeckt. Versteckt in der Ecke eines Schreibtisches entdecke ich ein rosa Stoffschwein und eine ungeöffnete Weinflasche.

Ein Lehrkräftearbeitsplatz in Singapur
Auf dem Tisch einer Lehrerin liegt ein Buch über Mathematikdidaktik, aufgeschlagen bei einem Kapitel mit dem Titel „Das Wunder der negativen Flächen“. Es ist eine Fallstudie darüber, wie Lehrkräfte Mathematikaufgaben herausfordernder gestalten können, anstatt die Schüler:innen nur Rechenaufgaben lösen zu lassen. Daneben liegt der Bestseller „Führung wagen“ (englischer Originaltitel: „Dare to Lead“) von Brené Brown, einer US-amerikanischen Professorin, die sich für mehr Verletzlichkeit am Arbeitsplatz einsetzt. An der Pinnwand in der Ecke des Zimmers steht groß die Überschrift „Improving Pedagogy Practices“ – zu Deutsch: Verbesserung der didaktischen Praxis. Darunter hängt ein Hospitationskalender. Jede Lehrkraft, so steht es dort, soll im Laufe des Schuljahres mindestens drei Kolleg:innen im Unterricht besuchen und den Besuch gemeinsam mit ihnen reflektieren.
Die professionelle Lerngemeinschaft in Singapur
Endlich sind meine Gesprächspartner:innen da. Sie schlagen vor, dass wir uns bei einem Tee in der Gemeinschaftsküche unterhalten. Dort sei es gemütlicher. Auf dem Weg dorthin gehen wir an einem großen Konferenzraum vorbei. Hier trifft sich das gesamte Kollegium jeden zweiten Freitagmorgen von 7:30 bis 9:00 Uhr. Der Unterricht für die Schüler:innen beginnt an diesem Tag erst um 9:30 Uhr. Die Lehrkräfte nutzen die Gelegenheit, sich in den Fachschaften abzusprechen oder sich gemeinsam fortzubilden. Häufig stellen Lehrkräfte didaktische Ansätze und Methoden, die sie im Unterricht erprobt haben, dem gesamten Kollegium vor.
»Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Hinterfragen der eigenen Unterrichtspraxis.«
Auf unserem Weg durch das Schulgebäude kommen wir auch an mehreren kleinen Besprechungsräumen vorbei. Hier, so erfahre ich später, treffen sich Lehrkräfte-Teams wöchentlich zu sogenannten professionellen Lerngemeinschaften. Das Konzept stammt aus den USA. In festen Gruppen von etwa fünf bis sieben Lehrkräften eines Faches oder einer Jahrgangsstufe arbeiten sie ein Schuljahr lang zusammen. Gemeinsam planen sie Projekte für den Unterricht in ihren Klassen, diskutieren fachdidaktische Artikel und Bücher oder reflektieren gegenseitige Hospitationen. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Hinterfragen der eigenen Unterrichtspraxis.
Das Kollegium legt in Zusammenarbeit mit der Schulleitung jährlich die Schwerpunkte für die Arbeit in den Lerngemeinschaften fest. Die gewonnenen Erkenntnisse werden am Ende des Schuljahres in schulweiten didaktischen Konferenzen präsentiert, teilweise auch in Regionalkonferenzen mit Schulen des gleichen Bezirks. So werden neue Erkenntnisse auch in die Breite getragen.
Beim Gespräch in der Gemeinschaftsküche erfahre ich, dass die Kooperationsstrukturen an dieser Schule kein Einzelfall sind: Lerngemeinschaften, gut ausgestattete Arbeitsräume, didaktische Konferenzen – sie sind an allen Schulen in Singapur etabliert, wenn auch in der konkreten Umsetzung unterschiedlich. Sie sind das Ergebnis einer durchdachten und an der Wissenschaft orientierten Bildungspolitik.
Die drei Stufen der Kooperation
Wirft man einen Blick in die Forschung zur Kooperation von Lehrkräften, so stößt man schnell auf ein Modell von Gräsel, Fußangel & Pröbstel (2006). Sie unterscheiden zwischen drei Stufen der Kooperation in der Schule:
- Austausch, bei dem Lehrkräfte lediglich Materialien oder Informationen weitergeben
- Arbeitsteilige Kooperation, bei der sich Lehrkräfte zum Beispiel Korrekturen oder die Vorbereitung von Unterrichtseinheiten teilen, dabei aber weitgehend selbstständig arbeiten
- Ko-Konstruktion, die intensivste Form der Kooperation. Auf dieser Stufe lösen Lehrkräfte gemeinsam Probleme aus ihrer Unterrichtspraxis oder eignen sich neues Wissen an. Häufig entstehen gemeinsame Lernprodukte. Sie bringen ihre individuellen Kompetenzen mit ein, sind aufeinander angewiesen. Kurz: Sie bilden eine Lerngemeinschaft.
Während das Schulsystem in Singapur professionelle Lerngemeinschaften erfolgreich für die Ko-Konstruktion nutzt, ist eine Kooperation, die über Austausch und Arbeitsteilung hinausgeht, auch in anderen Ländern selbstverständlich, zum Beispiel in Japan.
Das japanische Lesson-Study-Modell
Zu Besuch in einer japanischen Grundschule: Hier gibt es keine Konferenzräume, alle Lehrkräfte teilen sich einen Raum. Sie sitzen dicht gedrängt in vier Reihen, wobei sich jeweils zwei Reihen gegenüberstehen. Lehrkräfte, die in der gleichen Jahrgangsstufe unterrichten, bilden im Lehrkräftezimmer eine Tischgruppe. Dienstags und freitags um 8:15 Uhr trifft sich hier das gesamte Kollegium zur Morgenbesprechung. Sie stellen sich in zwei Reihen an der Wand auf, während der Schulleiter über anstehende Aktivitäten informiert. Das erleichtert die Informationsweitergabe – eine klassische Form der Kooperation auf der Ebene des Austauschs.

Ein Lehrkräftezimmer in Japan
Aber auch in dieser schlicht gestalteten Schule hat die Zusammenarbeit auf der höchsten Ebene, der Ko-Konstruktion, ihren Platz. In Japan haben Lehrkräfte dafür eine bemerkenswerte Methode entwickelt: die Lesson Study. Sie verbindet Fortbildung, Unterrichtsentwicklung und Kooperation auf elegante Weise und ist seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil des Berufs. Bei der Lesson Study plant ein Team von Lehrkräften über mehrere Wochen hinweg gemeinsam eine Unterrichtsstunde. Die Stunde wird von einer Lehrkraft gehalten, während die anderen die Schüler:innen genau beobachten, um Erkenntnisse über deren Lernprozesse zu gewinnen.
Bevor es jedoch an die Planung von solchen Forschungsstunden geht, trifft sich das gesamte Kollegium, um ein gemeinsames Ziel für die Arbeit in den Lesson-Study-Gruppen festzulegen – zum Beispiel die Stärkung des kooperativen Lernens. Oft verfolgt eine Schule ein solches Ziel über mehrere Jahre hinweg.
Die Sorgfalt, mit der eine Lesson Studygeplant wird, ist beeindruckend. Ein Unterrichtsentwurf enthält neben der detaillierten Stundenplanung auch die Forschungsfragen der Lesson-Study-Gruppe. Am Tag der Unterrichtsstunde sind nicht nur die Lehrkräfte aus der Arbeitsgruppe als Beobachter:innen anwesend, sondern oft auch viele andere Lehrkräfte. Das Klassenzimmer ist bis zum Rand gefüllt, manchmal mit mehr als 20 Gästen, die ihre eigenen Kopien des Unterrichtsentwurfs auf Klemmbrettern mitgebracht haben, um ihre Eindrücke festzuhalten. In der von mir besuchten Grundschule kann bei Platzmangel in jedem Klassenzimmer auch eine Wand zusammengefaltet werden, sodass die Gäste vom Flur aus dem Unterricht folgen können. In einer intensiven Nachbesprechung von bis zu 90 Minuten werden die Beobachtungen zur Stunde diskutiert.

Die faltbare Klassenzimmerwand einer japanischen Grundschule
Die Entprivatisierung von Unterricht
Die Selbstverständlichkeit, mit der japanische Lehrkräfte ihren Unterricht für andere öffnen, mag deutschen Leser:innen ungewohnt sein. Doch in japanischen Schulen wird Unterricht weniger als individuelles Unterfangen verstanden, sondern als Gemeinschaftswerk, an dem alle Lehrkräfte beteiligt sind. Im Fachjargon nennt man das die Entprivatisierung von Unterricht. Inzwischen haben viele Länder die Lesson Study übernommen. Auch in Singapur nutzen einige Lerngemeinschaften das Format, wenn auch in abgespeckter Form.
»in japanischen Schulen wird Unterricht weniger als individuelles Unterfangen verstanden, sondern als Gemeinschaftswerk, an dem alle Lehrkräfte beteiligt sind.«
Warum tun wir uns in Deutschland mit solchen Formaten so schwer? Sicherlich fehlen an vielen Schulen die Rahmenbedingungen für eine solch intensive Zusammenarbeit: Räumlichkeiten, gemeinsame Zeitfenster, eine im internationalen Vergleich hohe Unterrichtsbelastung. Aber auch das Unbehagen, den eigenen Unterricht für andere zu öffnen oder mit dem Kollegium offen über Unterrichtsqualität zu sprechen, steht der Ko-Konstruktion im Weg – nicht zuletzt, da sich der eigene Unterricht möglicherweise als verbesserungsfähig herausstellen könnte. Sich verletzlich zeigen zu können, ist für die Entprivatisierung von Unterricht unabdingbar.
Die finnische Lehrkräfteausbildung – dual und kooperativ
Welchen Beitrag die Lehrkräftebildung zur Entprivatisierung leisten kann, zeigt ein Blick nach Finnland. Dort gibt es weder ein Referendariat noch ein Staatsexamen, das angehende Lehrkräfte unter enormem Druck anhand weniger Unterrichtsbesuche benotet. Statt die Lehrkräfteausbildung in zwei Phasen aufzuteilen, werden die Praxisphasen in das Studium integriert. Dazu wurden spezielle Übungsschulen in unmittelbarer Nähe der Universitäten eingerichtet.
In einer solchen Grundschule lernen die 24 Schüler:innen der 6c gerade die Anordnung von Subjekt, Prädikat und Objekt. Während der Grammatikstunde sitze ich hinten auf einem Sofa, von denen es hier – dank der vielen Hospitationen – in jedem Klassenzimmer eines gibt. Denn an den Übungsschulen übernehmen hauptsächlich Lehramtsstudierende den Unterricht, natürlich eng begleitet von speziell qualifizierten Betreuungslehrkräften, die selbst nur wenige Stunden in ihrer Klasse unterrichten.
In der finnischen Lehrkräfteausbildung ist es üblich, dass die Studierenden viele ihrer Praxisphasen entweder im Tandem oder im Team absolvieren. Heute unterrichten zwei Studenten und eine Studentin sogar im Team. Alle drei sind im ersten Semester und haben heute ihren ersten Lehrversuch. Mit ihrer Betreuerin haben sie diese Stunde sehr ausführlich gemeinsam geplant, wie es im ersten Studienjahr üblich ist. Im Laufe des Studiums erhalten die Studierenden dann immer mehr Verantwortung, bis sie auch selbstständig unterrichten können.

Ein Sofa für Hospitationen an einer finnischen Übungsschule
Auch im Studium selbst, so erzählen mir die drei angehenden Lehrkräfte, wird viel in kleinen Teams gelernt. Selbst beim obligatorischen Eignungstest wird in Gruppeninterviews überprüft, ob die Lehramtskandidat:innen gut zusammenarbeiten können. So bekommen angehende Lehrkräfte in Finnland gleich zu Beginn ihrer Ausbildung die Botschaft mit auf den Weg: Unterricht ist Teamsache!
»In der finnischen Lehrkräfteausbildung ist es üblich, dass die Studierenden viele ihrer Praxisphasen entweder im Tandem oder im Team absolvieren.«
Ob Lehrkräfteausbildung in Finnland, Unterrichtsentwicklung in Japan oder Teamstrukturen in Singapur: Leistungsstarke Schulsysteme fördern eine enge Kooperation – eine Kooperation, die Unterricht nicht zur Privatsache macht und die Lehrkräfte gemeinsam wachsen lässt. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen. Es braucht gemeinsame Arbeitsräume und Zeitfenster für Kooperation. Es braucht ein Studium mit weniger Einzelkämpfertum und ein Referendariat mit mehr bewertungsfreien Räumen, vielleicht sogar ein duales Studium, wie es Baden-Württemberg gerade erprobt. Und es braucht Führung, die ein Klima schafft, in dem Lehrkräfte sich trauen, über ihre Schwächen und Herausforderungen zu sprechen. Dann wird Kooperation nicht zum Kraftakt, sondern zur Kraftquelle.