Interview

Myrle Dziak-Mahler: „Wissensvermittlung kann nicht mehr die Kernaufgabe von Schule sein“

von Klaus Lüber
veröffentlicht am 13.07.2022
Lesezeit: 5 Minuten

Wir leben in Zeiten zunehmender Unsicherheit. Veränderungen entwickeln eine zunehmende Geschwindigkeit, Herausforderungen werden komplexer und erfordern Lösungsstrategien, die Widersprüchlichkeiten berücksichtigen. Welchen Beitrag können und sollten Schulen hierbei leisten? Und welche Kraft könnte darin liegen, eine wünschenswerte Zukunft zum Maßstab des Handelns von heute zu machen?

Welche Kompetenzen brauchen Schüler:innen, um in einer unsicheren Welt Sicherheit zu gewinnen? In ihrer Keynote auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 sagte Myrle Dziak-Mahler: „Improvisationstalent ist heutzutage das A und O, es ist nahezu überlebenswichtig.“ Als Lehrerin und ehemalige Gründungsgeschäftsführerin des Zentrum für Lehrer:innenbildung (ZfL) an der Universität zu Köln bildete sie, deren Interesse der zukunftsfähigen Transformation des Bildungssystems gilt, bis 2021 angehende Lehrkräfte für den künftigen komplexen und anspruchsvollen Beruf aus. Denn Lehrkräfte müssen ihre Schüler:innen darauf vorbereiten, sich in der „VUCA-Welt“, die geprägt ist durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, zurechtzufinden und die Kompetenzen vermitteln, die Schüler:innen brauchen, um in einer unsicheren Welt Sicherheit zu gewinnen. Wir haben mit ihr dazu gesprochen.

Zur Person

Myrle Dziak-Mahler ist Kanzlerin der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft und Geschäftsführerin der Alanus Hochschule gGmbH sowie Geschäftsführerin der Alanus Werkhaus gGmbH. Myrle Dziak-Mahler ist erfahrener sowie umfangreich ausgebildeter und zertifizierter Coach, hat in St. Gallen Managementtheorie gelernt und ist ausgebildete (Großgruppen-) Moderatorin. Neben ihrer Tätigkeit an der Hochschule ist sie als Rednerin, Coach, Beraterin, Moderatorin und Autorin tätig. Für ihre Tätigkeit als Lehrende an Schule und Hochschule sowie als Führungskraft wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Universitätspreis der Universität zu Köln.

Frau Dziak-Mahler, Schule, so heißt es schon seit Jahren, müsse auf zunehmenden Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten vorbereiten. Was genau ist damit gemeint?

Die gesellschaftliche Entwicklung hat in den vergangenen 20 bis 30 Jahren erheblich an Tempo zugelegt. Das liegt primär an der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit, die die zunehmende Digitalisierung mit sich gebracht hat. Aber auch die Komplexität und Gleichzeitigkeit vieler Ereignisse, die nicht immer eindeutig zu beurteilen sind, fordert uns. Im Augenblick haben wir es ja hier in Europa mit mindestens drei signifikanten Disruptionen zu tun: der Pandemie, dem Klimawandel, wie er sich etwa in der Ahrtal-Flut gezeigt hat, und dem Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine. Deshalb glaube ich auch, dass die wichtigste Kompetenz in Zukunft „Change Literacy“ sein wird – also die Kompetenz, resilient mit Veränderungen umzugehen.

Was bedeutet es für die Vermittlung von Wissen, wenn dieses Wissen in kürzester Zeit vielleicht schon wieder veraltet ist?

Wissensvermittlung kann nicht mehr die Kernaufgabe von Schule sein. Es wird immer stärker darum gehen, Kinder und junge Menschen darin auszubilden, mit dem überall zur Verfügung stehenden Wissen umzugehen, indem man es einordnen und bewerten kann. Denn wir wissen ja: Nicht alles, was sich als faktischen Wissen tarnt, ist auch ein solches. Vieles ist Meinung, bloße Behauptung oder auch schlicht ein Hoax. Unser Ziel in Schule muss es sein, Schüler:innen auf ein „lebenslanges Lernen“ vorzubereiten. Damit wird es zukünftig viel weniger darauf ankommen, was genau in Schule gelehrt und gelernt wird, sondern vielmehr, wie es vermittelt wird.

Zentral für das Meistern zukünftiger Herausforderungen scheint der Umgang mit Widersprüchen zu sein. Wie könnte die Vermittlung einer solchen Kompetenz im schulischen Kontext aussehen?

Im Augenblick ist Schule stark darauf ausgerichtet, dasselbe Wissen möglichst vielen Lernenden zur gleichen Zeit zu vermitteln. Was wir brauchen, ist aber eigentlich das genaue Gegenteil: die Anerkennung des Individuums in seiner Einzigartigkeit, seiner Begabungen und Talente, Wünsche und Hoffnungen. Das heißt, dass Schule ein Ort sein muss, an dem unterschiedlichste Menschen nicht nur zusammenkommen, sondern sich alle aktiv mit Themen wie Diversität, Respekt, Rassismus, Antisemitismus und Inklusion auseinandersetzen. Denn: Kompetenzen kann man nicht vermitteln, Kompetenzen entstehen durch eine Vielzahl von Erfahrungen und Begegnungen, sie entstehen im Tun und sie entstehen auch durchs Scheitern.

»Unsere wichtigste Zukunftskompetenz wird Change Literacy sein.«

Myrle Dziak-Mahler

Müssen wir lernen, die Krise als das neue Normal zu akzeptieren?

Nein, die Krise ist nicht das neue Normal, sondern die Dynamik der Veränderung. Und deshalb handelt es sich auch nicht um einen bestimmten Zustand, in dem wir die nächsten 20 bis 30 Jahre leben werden. Sondern das viel zitierte „New Normal“ besteht einfach darin, mit permanenten Veränderungen zu leben. In unbekannten Situationen handlungsfähig zu bleiben, ist also eine wichtige Kompetenz. Hier können wir viel lernen von Menschen, die sich immer wieder in unbekannte und neue Situationen bringen oder gebracht worden sind, die den Mut zum Experiment haben und aus dem Scheitern lernen.

In Ihren Vorträgen propagieren Sie immer wieder die Fähigkeit, im Rahmen einer sogenannten Futures Literacy „von der Zukunft her zu denken“. Was genau meinen Sie damit?

Der Begriff Futures Literacy wurde von der UNESCO geprägt und meint, dass der Mensch in der Lage ist, Zukünfte zu entwerfen, also Vorstellungen und Visionen zu generieren. Denn unsere Zukunft als Menschen ist ja nicht vorbestimmt, wir haben es in der Hand, wie sich die Dinge entwickeln. Von der Zukunft her denken bedeutet in diesem Sinne nichts anderes, als eine wünschenswerte Zukunft zum Maßstab des Handelns von heute zu machen. Viel zu häufig gehen wir bei Entwicklungsprojekten nur von unseren Erfahrungen und unserem erlernten Wissen aus – und viel zu wenig davon, was wir uns von der Zukunft erhoffen und erträumen. Es gibt den schönen Satz: Pass auf, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. In einer komplexen Welt brauchen wir so etwas wie einen Nordstern, der uns leitet. Denn in einer komplexen Welt kommt man nicht auf dem kürzesten Weg zum Ziel. Eine positiv gestaltete Zukunft, ein Big Picture, kann ein solcher Leitstern sein.

Klaus Lüber

Klaus Lüber studierte Kulturwissenschaft, Publizistik und Philosophie in Berlin und München. Als freier Redakteur und Autor arbeitet er unter anderem für den F.A.Z.-Verlag, die Volkswagenstiftung und den Thinktank iRights.Lab. Zu seinen Lieblingsthemen zählen Innovation, Digitalisierung und Bildung. Er lebt und arbeitet in Berlin.

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