Gastbeitrag

Postdigitale Schule

von Felicitas Macgilchrist
veröffentlicht am 27.02.2020
Lesezeit: 5 Minuten

Der Diskurs um den Einsatz von digitalen Medien in Schule und Unterricht wird in Deutschland oft sehr techniklastig geführt. Nachhaltige Effekte, die die zunehmende Einbindung digitaler Technologien auf das Bildungssystem haben könnte, die Transformation von Lernumgebungen oder ein grundsätzlicher Haltungs- und Kulturwandel, treten oft in den Hintergrund. Wie könnte also eine Schule nach dem Fokus auf Digitalisierung aussehen?

Ist die Schule schon postdigital? Wenn wir über postdigitale Praktiken reden, bedeutet das Präfix Post-, dass wir, so Christine Sinclair und Sarah Hayes, „etwas zu besprechen haben“. Das Präfix problematisiert den alltäglichen Gebrauch des Worts Digitalisierung. Selbst wenn allgemeinere gesellschaftliche Prozesse bezeichnet werden sollen, bringt der Begriff Digitalisierung eine Fokussierung auf das Digital-machen von etwas Analogem mit sich (Bücher werden „digitalisiert“, indem sie eingescannt werden; was passiert dementsprechend, würde die Schule „digitalisiert“ werden?).

Die meisten Stimmen in diesen Debatten sind sich einig: Bildung kann nie „nur digital“ sein. Der Begriff postdigital rückt zwei Annahmen in den Vordergrund. Erstens, dass wir alle—heute, hier, im deutschsprachigen Raum—vernetzt sind, ob durch unser eigenes Smartphone oder durch die Vernetzung unserer Daten in Gesundheits-, Bank-, Versicherungs-, Schul- und weiteren Systemen. Digital vernetzt zu sein ist nichts Neues mehr; die digitale Disruption ist zur neuen Routine geworden.

Zweitens, dass wir stets in hybriden, immer auch physischen, analogen, gedruckten, gefühlten oder gesprochenen Kontexten handeln. Digitalität an sich kann nicht mehr in Rhetoriken des Fortschritts oder Innovation eingeschrieben werden. Was Digitalität mit uns macht und was wir mit Digitalität machen, hängt von den spezifischen Kontexten ab, in denen digitale Technologien eingebettet werden.

Daraus folgt, dass in den Debatten um postdigitale Praktiken in der Bildung die kritische Reflexion unseres Umgangs mit Technologien häufig im Mittelpunkt steht. Wie Petar Jandrić und Kolleg*innen schreiben, „the postdigital is about dragging digitalisation and the digital – kicking and screaming – down from its discursive celestial, ethereal home and into the mud. It is about rubbing its nose in the complexities of everyday practice, such as managing a class of 7-year olds working on tablets (half of them not charged and the other half with links to dubious sites); the realities of gender or racial bias of algorithms or how notions of imagined efficiency gains brought about by ‘the digital’ impact on work-life balance in organisations.“

In der schulischen Praxis geht es darum, eine kritisch-konstruktive Haltung umzusetzen: Wie wollen wir Technik nutzen? Wofür wollen wir sie nutzen? Was wollen wir reflektieren? Welche Medien passen zu welchen Aktivitäten? Wann ist ein Bleistift die optimale Technik? Ist vielleicht das „Ausschaltenkönnen“ zu einer wichtigen digitalen Kompetenz geworden? In welchen sozialen Gemeinschaften besprechen wir den Input aus welchen Datentechnologien? Wie können wir kreativ gesellschaftlichen Hierarchien entgegnen und wie können Technologien so gestaltet werden, dass sie dazu beitragen?

Postdigitale Schulentwicklung am Beispiel der Alemannenschule Wutöschingen

Was passiert, wenn Digitalisierung nicht mehr explizit im Vordergrund steht, sondern lediglich ein Aspekt eines umfassenden Transformations- oder Schulentwicklungsprozesses ist, wird am Schulalltag einer Gemeinschaftsschule aus Wutöschingen deutlich. Zwei Schülerinnen beschreiben diesen Alltag als „anders als bei anderen Schulen“, da es „keine Lehrer“, sondern „Lernbegleiter“, „keine Deutsch- und Mathebücher“ und „ganz andere Klassenzimmer“ gebe. Das Lernen könne man sich so vorstellen, dass die Schüler*innen zuerst einen „Input, in dem alle wichtigen Themen“ eines Themenbereichs besprochen und erklärt werden, besuchen, und sich, nachdem sie alles verstanden haben, eine Stempelkarte holen, „auf der […] alle Arbeitsblätter, Folien, Bücher, Infos, Material, Scancodes für Apps und Links für Lernvideos“ sowie Lernziele aufgelistet sind, die sie für den Gelingensnachweis brauchen. (Zit. nach Johannes Zylka et al., Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Schule auf dem Weg zur personalisierten Lernumgebung, Weinheim 2017, S. 7f., hier S. 8.)

Apps und Online-Lernvideos werden mitten in einer Liste von digitalen und nicht-digitalen Materialien erwähnt. Postdigitale Ansätze befinden sich also jenseits von Technoskeptizismus, aber auch jenseits von Technikeuphorie. Priorisiert werden hier die Ziele statt der Technik. Dieses Beispiel umfasst individualisiertes Lernen und gemeinsames Lernen, eine gelingende Kommunikation zwischen Eltern und Schule, Materialienaustausch unter Lehrkräften und Schüler*innen, die sich über Schule und Lernen freuen.

In anderen Beispielen betreffen die Ziele eine Reflexion über die Kultur der Digitalität, eine Analyse der konvivialen Gestaltung der eingesetzten Bildungsmedien oder die gemeinschaftliche Entwicklung von Konzepten für eine gerechtere Schule oder Gesellschaft. Diese Ziele sind nicht alle neu, aber die Art und Weise, wie sie erreicht werden sollen, ist es. Sie umfasst sowohl architektonische als auch soziale und technologische Änderungen. „Innovation“ wird hier nicht als die Einführung von Tablets, VR, AR oder KI verstanden, sondern als die subtile Transformation der schulischen Alltagspraktiken. Um das zu tun, müssen wir bekannte Grenzen und Strukturen neugestalten – und gerade dies bedarf zusätzliche Förderung, um ein solches Experimentieren zu ermöglichen.

Fazit

Wer nur auf die Digitalisierung reagiert, hat eingeschränkte Möglichkeiten und kann nicht viel mehr tun, als didaktische Konzepte zu finden, mit denen man besser unterrichten beziehungsweise mit denen man Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Medien besser fördern kann. Dies birgt allerdings die Gefahr, eine instrumentelle Nutzung digitaler Bildungsmedien zu bevorzugen und den Blick auf den potenziell gesamtgesellschaftlichen Kulturwandel zu versperren. Wer neugestaltet, denkt die Rolle von Schule anders und sieht sich selbst als Teil eines postdigitalen, soziotechnischen Netzwerks, das Entscheidungen über Daten, Umwelt, zwischenmenschliche Beziehungen, Gerechtigkeit, Dekolonisierung, Design, Respekt, Lernaktivitäten, Kommunikation, Architektur, Relationalität und Teilhabe fällt. Wenn es um die Gestaltung von digitalen Technologien in der Schule geht, geht es im Kern auch immer um die allgemeinere Frage, welche Welt mit welcher Technik wir uns wünschen.

*Einige Abschnitte des Beitrags werden von hier repostet.

Felicitas Macgilchrist

Felicitas Macgilchrist ist Leiterin der Abteilung Mediale Transformationen am Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig und Professorin für Medienforschung mit dem Schwerpunkt Bildungsmedien an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie forscht an der Schnittstelle von Medien und schulischer Bildung mit einem besonderen Fokus auf den sozialen und politischen Kontext von Bildung in der digitalen Welt. Ihre Forschungsprojekte untersuchen u. a. die sozio-technische Materialität der digitalen Technologien, schulische Praktiken in einer (post-)digitalen Welt und die wissenschaftlichen, bildungspolitischen und medialen Debatten zum Thema Digitale Bildung.

http://www.gei.de/en/staff/dr-felicitas-macgilchrist.html