Gastbeitrag

Schulleitungshandeln in ungewissen Zeiten

von Julia Gerick
veröffentlicht am 14.06.2023
Lesezeit: 5 Minuten

Die Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen in der digitalen Welt wird vielerorts als Herausforderung wahrgenommen. Warum ist das so? Eine wichtige Rolle spielen oftmals Ungewissheiten und verschiedene Formen des Nichtwissens. Gerade diese Aspekte gilt es daher in Qualifizierungsmaßnahmen für Schulleitungen stärker zu adressieren. Als Personengruppe nehmen sie in digitalisierungsbezogenen Schulentwicklungsprozessen eine zentrale Funktion ein, sind sich dieser jedoch häufig noch nicht vollständig bewusst. Indem Ungewissheiten und potenzielles Nicht-Wissen systematisiert und benannt werden, können entsprechende Momente zu Gelegenheiten gemeinsamen Lernens werden.

Die Leitung einer Schule in der digitalen Welt ist komplex, anforderungsreich und herausfordernd. Wenn es um die Initiierung, Gestaltung und Begleitung erfolgreicher digitalisierungsbezogener Schulentwicklungsprozesse in den Dimensionen Organisations-, Personal-, Unterrichts-, Kooperations- und Technologieentwicklung geht, spielen Schulleitungen eine zentrale Rolle (u. a. Gerick et al. 2023a, Tulowitzki et al. 2021). Sie sind damit in vielfacher Hinsicht Treiber:innen der digitalen Transformation in Schulen. 

Auch wenn es viele engagierte Schulleitungen in diesem Bereich gibt, wissen wir aus der Forschung zum Schulleitungshandeln in der digitalen Welt: Schulleitungen in Deutschland messen der Digitalisierung von Schule und Unterricht im internationalen Vergleich im Rahmen der International Computer and Information Literacy Study (ICILS 2018) im Durchschnitt eine geringe Priorität bei (Gerick, Eickelmann & Labusch 2019). Weniger als die Hälfte der Schulleitungen in Deutschland gaben 2022 in der Cornelsen-Schulleitungsstudie an, die Digitalisierung des Unterrichts sei aktuell und in den kommenden Jahren ein wichtiges Schulleitungsthema (Fichtner et al. 2023). Für Schulleitungsaktivitäten spielen digitale Medien eher in Kontexten des Verwaltens und Organisierens als des Gestaltens und Entwickelns eine Rolle (u. a. Tulowitzki & Gerick 2020, Tulowitzki, Gerick & Eickelmann 2022). Aktuelle Befunde aus dem Schulleitungsmonitor Deutschland 2022 der Wübben Stiftung Bildung zeigen, dass nur 40 Prozent der befragten Schulleitungen der Aussage voll zustimmen, dass sie Hilfestellungen bei Schwierigkeiten mit dem Einsatz digitaler Medien zu Verfügung stellen. Nur 31 Prozent stimmten voll zu, neue Unterrichtsmethoden mit digitalen Medien in der Schule zu thematisieren (Tulowitzki, Pietsch, Sposato, Cramer & Groß Ophoff, 2023).

Ungewissheit und Formen des (Nicht)Wissens

Schulleitungen agieren – wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure auch – unter Bedingungen von Ungewissheit, denn in unserer heutigen Wissensgesellschaft haben wir es zunehmend mit neuem Wissen und damit verbunden neuen Ungewissheiten und verschiedenen Formen des Wissens und insbesondere auch Nichtwissens zu tun (u. a. Killus & Gerick 2021). Dabei lassen sich verschiedene Formen von Nichtwissen differenzieren:

Formen von Nichtwissen nach Killus & Gerick (2021), in Anlehnung an Wehling (2008)
  • Während explizit gewusstes Nichtwissen im Kontext digitalisierungsbezogener Schulentwicklungsprozesse klar kommunizierbare Wissenslücken adressiert (z. B. fehlende Expertise bei der Erstellung eines Medienkonzepts), meint ungewusstes Nichtwissen die Unkenntnis darüber, welches Wissen es zu etwas geben könnte. Dass dies nicht expliziert werden kann, hängt naheliegenderweise damit zusammen, dass man sich in einem Themenfeld nicht auskennt und somit keine Vorstellungen darüber bestehen, was es möglicherweise zu wissen geben könnte.
  • Mit dem Nicht-Wissen-Wollen als zweite Form des Nichtwissens können enge Bezüge zu Fragen der Haltung in der digitalen Transformation hergestellt werden, so etwa zu den drei Haltungen der Theorie U nach Schamer: „open heart“, „open mind“ und „open will“. Dem gegenüber steht das unbeabsichtigte und damit unvermeidbare Nichtwissen.
  • Die dritte Form, das Nicht-Wissen-Können, weist auf ein Dilemma hin, das sich insbesondere für Schulen im Kontext der digitalen Transformation zeigt: Wer weiß heute, welche Entwicklungen in ein paar Monaten, in ein paar Jahren sichtbar werden und was dies für das Lehren und Lernen bedeutet? Dem gegenüber steht das temporäre Noch-Nicht-Wissen.

Diese Systematisierung von Formen des Wissens und Nichtwissens ermöglicht es, Schulentwicklungsprozesse differenziert zu beschreiben und zu analysieren. Im Rahmen einer Sekundäranalyse von Interviews mit schulischen Akteur:innen aus einem Modellprojekt zum Lernen mit digitalen Medien wurde untersucht, welche Formen des Nichtwissens von schulischen Akteur:innen adressiert werden und in welchen Bereichen digitalisierungsbezogener Schulentwicklung Ungewissheit artikuliert wird (Killus & Gerick 2021). Die Befunde zeigen, dass sich die geäußerten Ungewissheiten, die mit Digitalisierung unmittelbar zusammenhängen, insbesondere auf das explizit gewusste Nichtwissen beziehen und sich vor allem den digitalisierungsbezogenen Schulentwicklungsdimensionen Personal- sowie Technologieentwicklung zuordnen lassen (Killus & Gerick 2021).

Perspektiven der Schulleitungsqualifizierung

Welche Perspektiven lassen sich vor dem Hintergrund von Ungewissheit und (Nicht)Wissen in der digitalen Transformation für die Gestaltung von Schulleitungsqualifizierung ableiten? Um Schulleitungen hierbei im Allgemeinen zu stärken und zu unterstützen, erscheint es relevant, in der Qualifizierung von Schulleitungen explizit zu adressieren, dass Schulentwicklungsprozesse nicht nur rationale und klar planbare Prozesse sind, sondern durch Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Offenheit charakterisiert sind. Diese Ungewissheit zu akzeptieren und sie als selbstverständlichen Bestandteil von Schulentwicklung zu betrachten bzw. Momente der Ungewissheit auch als Gelegenheiten des gemeinsamen Lernens anzuerkennen und sie gemeinsam mit dem Kollegium zu bearbeiten, erscheint als wichtiger Lerngegenstand, um den oftmals spürbaren und unangemessenem Druck zur Gewissheit zu reduzieren. Eine solche Erweiterung der Perspektive auf Schulentwicklung erscheint nicht nur für die Professionalisierung von Schulleitungen selbst relevant. Gleichzeitig könnten sie in einer immer komplexer und ungewisser werdenden Welt auf diese Weise auch eine Haltung entwickeln, die dabei unterstützen kann, ihr Kollegium zu empowern und von nicht erfüllbaren Erwartungen zu entlasten.

»[…] Momente der Ungewissheit auch als Gelegenheiten des gemeinsamen Lernens anzuerkennen und sie gemeinsam mit dem Kollegium zu bearbeiten, erscheint als wichtiger Lerngegenstand, um den oftmals spürbaren und unangemessenem Druck zur Gewissheit zu reduzieren.«

Julia Gerick

Die verschiedenen Formen des Nichtwissens können zudem in Schulleitungsqualifizierungen als Tool zur Unterstützung bei Schulentwicklungsprozessen genutzt werden. So kann beispielsweise reflektiert und gemeinsam diskutiert werden, ob es sich bei bestimmten Herausforderungen bei der Schulleitung selbst oder bei den beteiligten schulischen Akteur:innen um ein Nicht-Wissen-Können oder ein Nicht-Wissen-Wollen handelt – was wiederum ganz unterschiedliche Implikationen mit sich bringt, wie damit umgegangen werden kann. Ist Ersteres der Fall, können die Herausforderungen (z.B. unter Einbezug externer Expertise) potenziell adressiert werden, was als Anstoß für ko-konstruktive Lernprozesse dienen kann (u. a. Gerick et al. 2023b). Handelt es sich hingegen primär um ein Nicht-Wissen-Wollen, können Strategien zum Umgang mit Widerstand als möglicher Lösungsweg zum Einsatz kommen (u. a. Dedering et al. 2023). 

Weiterhin weist gerade die Form des ungewussten Nichtwissens auf die Bedeutsamkeit hin, im Kontext von Schulleitungsqualifizierung innovative, neue und zukunftsorientierte Themen außerhalb des Mainstreams aufzugreifen und kreative Begegnungen zu ermöglichen. Dadurch können bei den Beteiligten Ideen, Bilder und Perspektiven entstehen, welche Potenziale und Gestaltungsmöglichkeiten die digitale Transformation für Schulen bieten kann. Zusätzlich wird  die Möglichkeit eröffnet, explizit gewusstes Nichtwissen entstehen zu lassen, an dem individuelle und schulische Entwicklungs- und Lernprozesse anknüpfen können.

Julia Gerick

Prof. Dr. Julia Gerick ist Professorin für Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Braunschweig. Sie ist unter anderem Teilprojektleiterin in den Verbundvorhaben DigiSchuKuMPK und LeadCom im Rahmen der Kompetenzverbünde lernen:digital, Kompetenzzentrum Schulentwicklung. Zudem ist sie Mitglied des nationalen Konsortiums der International Computer and Information Literacy Study (ICILS 2023).

Literatur

Dedering, K., Gerick, J., Schmid-Kühn, S. M. & Demski, D. (Hrsg.) (2023): Schulentwicklung und Widerstand [Themenheft]. In: Die Deutsche Schule. 115/1. https://doi.org/10.31244/dds.2023.01 

Fichtner, S., Bacia, E., Sandau, M., Hurrelmann, K. & Dohmen, D. (2023): Cornelsen Schulleitungsstudie 2023. Schule stärken – Digitalisierung gestalten. Gesamtstudie. Berlin: Cornelsen

Gerick, J., Eickelmann, B. & Labusch, A. (2019): Schulische Prozesse als Lern- und Lehrbedingungen in den ICILS-2018-Teilnehmerländern. In: B. Eickelmann, W. Bos, J. Gerick, F. Goldhammer, H. Schaumburg, K. Schwippert, M. Senkbeil & J. Vahrenhold (Hrsg.): ICILS 2018 #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking, S. 173-203. Münster: Waxmann

Gerick, J., Eickelmann, B., Panten, B., Rothärmel, A., Rau, M. & Gottschalk, T. (2023a): Abschlussbericht zum Forschungsprojekt ‚Gelingensbedingungen und Transfer von erfolgreichen Digitalisierungsprozessen an Schulen in Nordrhein-Westfalen‘ (‚GuTe DigiSchulen NRW‘). TU Braunschweig/Universität Paderborn. Verfügbar unter: https://www.tu-braunschweig.de/fileadmin/Redaktionsgruppen/Institute_Fakultaet_6/Schulpaedagogik/pdf-Dateien/GuTeDigiSchulenNRW_Abschlussbericht_2023_Gerick_Eickelmann_et_al_final.pdf 

Gerick, J., Eickelmann, B., Rau, M., Panten, B., Rothärmel, A. & Gottschalk, T. (2023b): Digitalisierungsbezogene Schulentwicklungsprozesse erfolgreich gestalten. Handreichung für die schulische Arbeit zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts ‚GuTe DigiSchulen NRW‘. Technische Universität Braunschweig. Verfügbar unter: https://www.tu-braunschweig.de/fileadmin/Redaktionsgruppen/Institute_Fakultaet_6/Schulpaedagogik/pdf-Dateien/GuTeDigiSchulenNRW_Praxishandreichung_2023_Gerick_Eickelmann_et_al_final.pdf 

Killus, D. & Gerick, J. (2021): Ungewissheit in Schulentwicklungsprozessen am Beispiel von Digitalisierung. In: Zeitschrift für Bildungsforschung 11, S. 509-528. https://doi.org/10.1007/s35834-021-00324-4

Tulowitzki, P. & Gerick, J. (2020): Schulleitung in der digitalisierten Welt. Empirische Befunde zum Schulmanagement. In: Die Deutsche Schule 112/3, S. 324-337. doi.org/10.31244/dds.2020.03.08

Tulowitzki, P., Gerick, J. & Eickelmann, B. (2022): The role of ICT for school leadership and management activities: An international comparison. In: International Journal of Educational Management 36/2, S. 133-151. https://doi.org/10.1108/IJEM-06-2021-0251

Tulowitzki, P., Grigoleit, E., Haiges, J., Kruse, C. & Gerick, J. (2021): Schulleitungen und digitale Schulentwicklung. Impulse zur Stärkung von Professionalisierungsangeboten. Berlin: Forum Bildung Digitalisierung. Verfügbar unter: https://www.forumbd.de/wp-content/uploads/2023/02/211028_FBD_Impulspapier_SLQ.pdf  

Tulowitzki, P., Pietsch, M., Sposato, G., Cramer, C. & Groß Ophoff, J. (2023).  Schulleitungsmonitor Deutschland.  Zentrale Ergebnisse aus der Befragung 2022. Wübben Stiftung Bildung. Verfügbar unter: https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/wp-content/uploads/2023/06/WST-23-003_Schulleitungsmonitor.pdf

Wehling, P. (2008). Wissen und seine Schattenseite: Die wachsende Bedeutung des Nichtwissens in (vermeintlichen) Wissensgesellschaften. In T. Brüsemeister & K.-D. Eubel (Hrsg.), Evaluation, Wissen und Nichtwissen (S. 17–34). Wiesbaden: Springer VS.