Interview
Uta Hauck-Thum: „Wir brauchen einen insgesamt veränderten Unterricht“
von
mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum
veröffentlicht am 08.04.2024
Lesezeit: 8 Minuten
In Deutschland beeinflusst der familiäre Hintergrund maßgeblich den Bildungserfolg. Wie es Schule gelingen kann, diese enge Verbindung zu lösen und den individuellen Lernbedürfnissen gerecht zu werden, dazu forscht die Bildungswissenschaftlerin Uta Hauck-Thum. Sie empfiehlt, nicht nur die Unterrichtspraxis neu zu denken, sondern auch die Schulentwicklung.
Über 20 Jahre nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie bestätigten die Ergebnisse der aktuellen Erhebungsrunde, was damals schon galt: Wie gut oder schlecht Schüler:innen abschneiden, hängt stark von den sozioökonomischen Verhältnissen ab, in denen sie aufwachsen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen zuletzt auch die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) sowie der IQB-Bildungstrend. Uta Hauck-Thum, Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, will mit ihrer Forschung zu einer Verbesserung der Bildungsungleichheit beitragen. Ihr Ziel: ein Bildungssystem, in dem alle Kinder die für ihre Zukunft wichtigen Kompetenzen erwerben können.
Wenn Sie dem deutschen Bildungssystem eine Note mit Blick auf die Sicherstellung von Chancengerechtigkeit geben müssten, welche wäre das?
Ich würde keine Note geben, weil ich für eine veränderte Prüfungskultur bin. Ich würde eher ein formatives Assessment durchführen, also eine fortlaufende Beratung mit einer Ist-Stand-Analyse, einem Monitoring und ganz konkreten adaptiven Angeboten – und laufend Rückmeldung geben, damit sich das Bildungssystem gemeinsam mit den Akteur:innen weiterentwickeln kann.
Dann lassen Sie uns doch einmal näher auf die Ist-Stand-Analyse eingehen: Wie steht es um die Chancengerechtigkeit in Deutschland?
Das Problem ist, dass wir einen sehr engen Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg haben, beispielsweise beim Lesen. Welche Kompetenzstufe Kinder erreichen, ist ganz stark davon abhängig, ob sie von ihren Eltern entsprechend sozialisiert worden sind. Das gilt interessanterweise auch für den Umgang mit digitalen Medien: Die zu Hause gemachten Erfahrungen beeinflussen, ob Kinder digitale Angebote für den eigenen Bildungserfolg nutzen oder ob sie eher passive Konsument:innen sind. Gleichzeitig haben wir in Deutschland große Passungsprobleme zwischen den Kompetenzen der Kinder und den Angeboten der Schule, vor allem mit Blick auf die unterschiedliche Medien-Sozialisation. Im Bildungssystem gelingt es nicht, adaptiv auf die unterschiedlichen Bedarfe einzugehen und Angebote zu schaffen, die für jedes Kind – nicht nur für einen kleinen Teil der Kinder – zu einem individuellen Bildungserfolg führen.
»Im Bildungssystem gelingt es nicht, adaptiv auf die unterschiedlichen Bedarfe einzugehen und Angebote zu schaffen, die für jedes Kind – nicht nur für einen kleinen Teil der Kinder – zu einem individuellen Bildungserfolg führen.«
Wie lässt sich diese Ausgangssituation verbessern?
Auf struktureller Ebene brauchen wir kooperative und kollaborative Prozesse. Statt Vorgaben von oben sollte es einen intensiven Austausch zwischen Kindern, Eltern, Lehrkräften, Schulleitung, der Schulaufsicht und dem Schulträger geben, um Schulentwicklung zusammen gestalten und dabei die unterschiedlichen Bedarfe berücksichtigen zu können. Entscheidend ist, die Eltern mitzunehmen, weil sie häufig eine sehr konservative Vorstellung von Schule haben. Sie wollen Noten, weil sie nichts anderes kennen. Regelmäßige Austauschformate können helfen, eine gemeinsame Vision von Bildung zu entwickeln.
Wie können solche Austauschformate in der Praxis umgesetzt werden?
Wir führen derzeit ein großes Schulentwicklungsprojekt mit 20 Grundschulen durch, CoTransform Freising, bei dem wir die Schulen anregen, sich in Schulfamilien von drei bis vier Grundschulen zu vernetzen, um gemeinsam Schulentwicklung zu gestalten. Die zugehörigen regelmäßigen Vernetzungstreffen finden sowohl analog als auch digital statt, weil wir festgestellt haben, dass gerade Akteur:innen von außen leichter digital zugeschaltet werden können. Die Beteiligten begegnen sich in einer positiven Umgebung, in der sie zusammen Ideen generieren können. Das Ziel dieser Treffen ist, jeweils den nächsten Entwicklungsschritt zu planen. Wenn beispielsweise eine Schule ein „Grünes Klassenzimmer“ einführen will, wird geklärt, wie sich das umsetzen lässt. Wie können sich die Eltern einbringen und wie die Kinder beteiligt werden? Wie kann der Schulträger unterstützen? Ausgehend von einer konkreten Idee soll das Format kooperative Prozesse anstoßen.
Und wie lässt sich im Kleinen, beispielsweise im Unterricht, direkt für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen?
Wir brauchen zum einen eine Förderung der Kinder im Bereich der Basiskompetenzen, denn diese entwickeln sich abhängig vom Elternhaus. Im Sinne einer kontinuierlichen, adaptiven Lernbegleitung sollte dafür zunächst erhoben werden, welche Schwierigkeiten die Kinder haben, um danach darauf abgestimmte Förderformate gestalten zu können. Dabei geht es nicht nur um bloßes Üben, wobei auch das mit zum Ziel führt. Gerade beim Lesenlernen ist es zum Beispiel wichtig, Prozesse zu automatisieren. Darüber hinaus lassen sich die Basiskompetenzen über kooperative und kreative Formate stärken.
Neben diesem Lernstands-Monitoring der Basiskompetenzen ist die Förderung zukunftsrelevanter, übergreifender Kompetenzen wichtig. Im projektorientierten Unterricht erhalten die Kinder nicht nur die Möglichkeit, ihre Basiskompetenzen anzuwenden, sondern auch diese zukunftsrelevanten Kompetenzen auszubilden. Zusammen mit einer Projektschule betreuen Studierende von mir beispielsweise die Webseite toniswelt.com. Dahinter steht ein gemeinsames BNE-Projekt: Die Kinder der Grundschule haben ihr Schulmaskottchen, den Stoffbären Toni, mit zwei Aussteigern auf Weltreise geschickt. In Zoom-Konferenzen tauschen sie sich mit dem Bären und den Reisenden aus, vor allem über Themen des Umwelt- und Klimaschutzes. Daraus ergeben sich Forschungsaufträge für die Schüler:innen. Mit den Ergebnissen gestalten die Kinder dann Erklärfilme und Beiträge für die Website. So lernen sie, wie sich Probleme lösen lassen, wie Teilhabe funktioniert und was Kreativität bedeutet – alles zukunftsrelevante Kompetenzen, die man eben nicht in einem frontalen Setting erwirbt.
Und der dritte große Bereich, auf den wir fokussieren sollten, ist der des demokratischen Lernens. Denn ob man angeregt wird, kritisch zu sein, Informationen zu hinterfragen oder Fake News zu verstehen, hängt ansonsten stark vom Elternhaus ab. Doch auch Kinder, die zu Hause in diesen Punkten weniger Förderung erhalten, brauchen die Möglichkeit, sich selbstbestimmt zu erleben, zu erfahren, was es heißt, sich einzubringen, eine Stimme zu haben, Kompromisse auszuhandeln. Da reicht keine Demokratie-Viertelstunde, wie sie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gefordert hat, in der man mit den Schüler:innen über Demokratie und Verfassung spricht. Demokratie muss man erleben. Das gilt gerade für Kinder, die wenig Vorerfahrung haben.
Wir brauchen also einen insgesamt veränderten Unterricht, der übergreifend Basiskompetenzen und Zukunftskompetenzen fördert, fachspezifische Wissenselemente vermittelt und dabei den Fokus auf demokratische Prozesse legt. So können wir adaptiv anknüpfen, an das, was die Kinder mitbringen, und das, was sie zukünftig brauchen.
»Wir brauchen also einen insgesamt veränderten Unterricht, der übergreifend Basiskompetenzen und Zukunftskompetenzen fördert, fachspezifische Wissenselemente vermittelt und dabei den Fokus auf demokratische Prozesse legt.«
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang digitale Medien?
Mit den digitalen Geräten ändert sich der gesamte kulturelle Möglichkeitsraum, also die Art, wie man kommuniziert, wie man sich austauscht und wo Informationen herkommen. Wir sprechen daher von einer Kultur der Digitalität. Und diese Veränderungen beeinflussen auch unser Bildungssystem. Ich kann nicht mehr Schule für das Industriezeitalter gestalten. Ich brauche Kinder, die kompetent mit analogen und digitalen Medien umgehen, die ein Tablet nicht nur bedienen können, sondern auch ein Verständnis für die Zusammenhänge entwickeln und beispielsweise wissen, wie man mit diesen Medien kreativ arbeitet, wie man sich verlässlich informiert. Digitale Bildung geht also über das instrumentelle Verständnis hinaus – es geht, wie im analogen Bereich, um vernetzte, ko-kreative Lernprozesse.
Wie wichtig ist es, dass dieses Lernen in der Schule stattfindet?
Das ist entscheidend, denn zu Hause, gerade wieder in Abhängigkeit vom soziodemografischen Hintergrund, sind Kinder häufig nur passive Konsument:innen, keine aktiven Gestalter:innen. Dann ist die Schule die einzige Chance, ihnen einerseits eine medienkritische Haltung, andererseits aber auch die gestalterischen Möglichkeiten digitaler Medien zu vermitteln.
Sie haben sich nun viel auf den Grundschulbereich bezogen: Lassen sich Ihre Aussagen auch auf andere Stationen des Bildungssystems übertragen?
Auf jeden Fall. Natürlich variieren die Inhalte und die Zugänge, aber die Notwendigkeit zu lernen, mit analogen wie digitalen Formaten umzugehen, besteht völlig unabhängig vom Alter. Im Bereich der Sekundarstufe gilt es natürlich weiterhin, den Fokus auf fachspezifische Kenntnisse zu richten, aber darüber hinaus geht es um eine Auflösung von Fächergrenzen, um perspektivübergreifendes Arbeiten in Projekten. Kinder brauchen die Möglichkeit, Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sich kompetenzorientiert individuell weiterentwickeln zu können.
An welchen Stellschrauben kann die Politik drehen, um die Chancengerechtigkeit in diesem Sinne zu verbessern?
Die Politik muss sich in diesen ko-kreativen Austauschprozess begeben und bereit sein, die Expert:innen anzuhören und auch die Kinder und die Eltern. Diese Bereitschaft fehlt häufig, wie ein aktuelles Beispiel aus Bayern zeigt, wo der Ministerpräsident als Reaktion auf die schlechten PISA-Ergebnisse kurzerhand bestimmt hat, dass es in der Grundschule zukünftig mehr Deutsch- und Matheunterricht geben wird. Da fehlt mir genau dieser Austausch mit der Wissenschaft, mit den Akteur:innen. Was braucht ihr eigentlich? Wie können wir gemeinsam eine Verbesserung herbeiführen? Von der Politik erwarte ich die Bereitschaft, sich an dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen und Akteur:innen von unterschiedlichen Ebenen anzuhören.