Gastbeitrag

Zur Fortbildung auf Facebook? Eine digitale Lerngemeinschaft in Singapur

von Alexander Brand
veröffentlicht am 13.08.2020
Lesezeit: 6 Minuten

Damit in Schulen der flächendeckende Einsatz digitaler Medien Realität wird, brauchen Schulleitungen und Lehrkräfte durchdachte Formate zur Weiterbildung. Ein Beispiel aus Singapur zeigt, wie mithilfe von sozialen Medien über Schulgrenzen hinweg eine digitale Lerngemeinschaft gebildet werden kann.

Ich stehe schwitzend an der Bushaltestelle des Bildungsministeriums. Es hat 32 °C und es ist schwül – aber hier herrscht nun mal das heiß-tropische Klima Südostasiens, auch im Januar. Bereits seit drei Wochen bin ich in Singapur. Am Morgen besuchte ich eine Grundschule auf der anderen Seite der Insel, mittlerweile die vierte Schule, die ich im Stadtstaat kennenlerne. Nur wenige Monate ist es her, dass ich die letzte Lehramtsprüfung abgelegt und den Uni-Hörsaal gegen Klassenzimmer in Estland, Finnland, Singapur und Japan eingetauscht habe. Um fünf Monate lang in die Bildungssysteme der PISA-Spitzen einzutauchen, fragte ich bei diversen Schulen auf gut Glück an, ob ein Besuch möglich wäre. Man empfing mich mit offenen Armen. Am ersten Tag in Singapur lud mich der Schulleiter zum koreanischen Barbecue mit seiner Familie ein.

Mich beeindruckte am Schulsystem von Singapur, wie viel Zeit, Geld und Energie dieses Land in die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften investiert. Lehrkräfte in Singapur unterrichten weniger und bilden sich 100 Stunden im Jahr fort – oft im Team als professionelle Lerngemeinschaft. Am Anfang meines Aufenthalts traf ich auf einen ehemaligen Schulleiter, dessen Masterstudium an der Stanford University durch ein staatliches Stipendium bezahlt wurde. Jetzt leitet er im Ministerium das Ressort „Digitale Bildung“ und lud mich kurzerhand zum Gespräch in die Schulbehörde ein.

Masterplan: Digitale Bildung

Im Konferenzraum angekommen präsentiert mir sein Team stolz die vier Masterpläne, die seit 1997 die Digitalisierung des Schulsystems in Singapur vorantreiben. Im ersten Masterplan ging es um die Grundlagen: Computer in jede Schule, verpflichtende Fortbildungen zu Word und PowerPoint. Das Fünf-Jahres-Ziel war damals, dass alle Schüler*innen einfache Computerkenntnisse vorweisen können. Auch in den späteren Masterplänen folgte man dem Prinzip: kleine Schritte, dafür aber flächendeckend. „Wir lassen uns Zeit“ erklärt mir das Team. „Schulleitungen und Lehrkräfte können nicht behaupten, dass es sich um eine über Nacht durchgeführte Aktion handelt. Wir gehen schrittweise und langsam an die Sache heran. Die Kehrseite ist, dass der Prozess sehr lange dauert, aber wenn wir jetzt entschieden handeln wollen, haben wir eine solide Grundlage. Die meisten Lehrkräfte im Land besitzen Grundkenntnisse in Sachen digitaler Bildung.“

Mittlerweile geht es nicht mehr darum, ob digitale Medien im Unterricht integriert werden, sondern wie deren Einsatz sinnvoll gestaltet werden kann. An allen Schulen wurde das Online-Lernportal Student Learning Space eingerichtet. Auf diesem wird am Lehrplan orientiertes Lernmaterial zur Verfügung gestellt. Die Schüler*innen können selbstständig mit Lernspielen, Videos und Simulationen lernen. Lehrkräfte haben Zugang zu Stundenentwürfen, die sie eins zu eins oder an die jeweilige Klasse angepasst einbauen können. Das Team im Ministerium überlegte sich, welche Kompetenzen Lehrkräfte für den Einsatz des Lernportals im Unterricht benötigen, und entwickelte Online-Kurse dazu: „Wir wollen, dass Lehrkräfte in Etappen denken. Zuerst wählt man ein Lernziel aus und überlegt, wie digitale Medien den Lernfortschritt festhalten können. Auf dieser Grundlage werden Aufgaben konzipiert. Wir geben den Lehrkräften viele Beispiele. Am Ende des Kurses steht ein selbst erstellter Unterrichtsentwurf, der dann in der Praxis ausprobiert wird.“

Soziales Netzwerk für Unterrichtsdesign

Eine Herausforderung blieb: Wie bringt man Lehrkräfte nach einer ersten Einführung in das Portal dazu, es kontinuierlich in den Unterricht einzubauen und sich zu seiner Nutzung weiterzubilden? Was fehlte, war eine digitale Lerngemeinschaft über Schulgrenzen hinweg. Es gab noch keinen Ort, an dem Lehrkräfte informell Stundenentwürfe miteinander teilen und Ideen austauschen konnten. Auf der Suche nach der richtigen Plattform stellte sich die Frage: Wo verbringen Lehrkräfte online am meisten ihre Zeit? Auf den sozialen Medien! Genauer gesagt auf Facebook.

Das Team war skeptisch, ob eine vom Ministerium erstellte Facebook-Gruppe bei Lehrkräften Anklang finden würde. Eine Abteilungsleiterin erzählt mir, wie sie zu Beginn am Telefon eine Lehrerin überzeugen musste, ihren Unterrichtsentwurf in die Gruppe zu posten: „Es ist eine befremdliche Situation. In sozialen Netzwerken teilt man Urlaubsfotos, aber unsere Gruppe sollte etwas ganz anderes sein – sie sollte professionelle Gespräche unter Kollegen ermöglichen.“ Doch wichtiger war, dass die Plattform ungezwungen und vertraut ist; dass man während einer Busfahrt ohne Umstände nach neuen Beiträgen schauen kann. Informalität als Schlüssel zur effektiven Teamarbeit. Sie tauften die Gruppe „Singapore Learning Designers Circle“ – ein Netzwerk für Unterrichtsdesigner. Zutritt gibt es nur mit einer dienstlichen E-Mail-Adresse; nur echte Lehrkräfte sollen beitreten dürfen.

Im Ministerium befürchtete man, dass die Lerngemeinschaft nach maximal einem Jahr einschlafen würde. Doch mittlerweile, drei Jahre später, sind bereits über 15.000 Lehrkräfte beigetreten. Laut offizieller Statistik unterrichten an öffentlichen Schulen in Singapur nur knapp 33.000 Lehrkräfte.

Doch wie mobilisiert man tausende Lehrkräfte für eine Fortbildung auf Facebook?

Eine Kultur des gemeinsamen Lernens

Es überrascht nicht, dass sich eine Online-Gemeinschaft dieser Größe nicht von allein aufbaut. Das Team investierte vor allem am Anfang viel Mühe in das Sammeln und in die Moderation der Inhalte. „Wir geben Input, weil die Plattform einen Mehrwert bieten soll. Es darf nicht nur ein Ablageort sein. Wir sagen: Ihr könnt jede Woche vorbeischauen, es wird Neues zu lernen geben. Das ist unser Motto.“ Nachdem die ersten Inhalte online gingen, wurden alle Lehrkräfte zu einem informellen Treffen im Ministerium eingeladen, das erste von vielen. Der regelmäßige persönliche Kontakt half, eine Gemeinschaft aufzubauen und Gruppennormen zu etablieren. Niemand sollte davon abgehalten werden, eine noch so unausgereifte Idee mit anderen zu teilen. So kam es, dass Lehrkräfte, die im ersten Jahr nur Ideen sammelten, selber anfingen Inhalte zu posten. Inzwischen gibt es jeden Sommer ein freiwilliges Ferien-Bootcamp zur Orientierung für neugierige Lehrkräfte, die auch Teil des Netzwerks werden wollen.

Eine Grundvoraussetzung für den Erfolg der Gruppe war, dass alle Lehrkräfte im Land dasselbe Portal im Unterricht nutzten, das Student Learning Space. Der gemeinsame technische Rahmen erleichterte den Austausch über Schulgrenzen hinweg.

Doch das Digitalteam strebte auch einen gemeinsamen didaktischen Rahmen an. Deshalb entwickelte es ein E-Didaktik-Konzept, das den Austausch zum Einsatz digitaler Medien unterstützen soll. Die E-Didaktik baut auf einer früheren Initiative auf: die Singapore Teaching Practice (dt. Singapur Unterrichtspraxis). Es handelt sich hierbei um ein in Singapur in der Lehrerfortbildung eingesetztes und weit verbreitetes Modell, das guten Unterricht konkretisiert und in einzelne Komponenten zerlegt. Wenn Lehrkräfte einander nach einem Unterrichtsbesuch Feedback geben, dann sollen sie ein geteiltes Verständnis davon haben, wie z. B. gute individuelle Förderung konkret aussieht und welche Strategien es dafür gibt. Die Singapore Teaching Practice gibt Lehrkräften damit ein gemeinsames Repertoire an didaktischen und pädagogischen Strategien.

Die E-Didaktik soll Lehrkräften nun helfen, die vertrauten Strategien der Singapore Teaching Practice mithilfe von digitalen Medien neu umzusetzen. Die Idee ist auch hier, Lehrkräften im ganzen Land eine Art Wortschatz bereitzustellen, damit sie über Schulgrenzen hinweg den Einsatz digitaler Medien auf didaktischer Ebene diskutieren können. Pädagogik bestimmt Technik.

Das Team fasst zusammen: „Gemeinsamer didaktischer Rahmen, die gleiche Technik für alle und eine Gemeinschaft zum Austauschen. So schafft man eine Kultur des gemeinsamen Lernens.“

Nach diesem Schlusswort und dem obligatorischen Gruppenfoto nehme ich zwei hübsch verpackte Mandarinen entgegen – ein Geschenk zum chinesischen Neujahr – und frage mich, ob man solch ein System auch im durch den Föderalismus geprägten deutschen Bildungsdschungel etablieren könnte.

Alexander Brand

Alexander Brand ist Lehrer an einer Stadtteilschule in Hamburg. Als Fortbildner und Referent gibt er regelmäßig seine Erkenntnisse darüber weiter, was wir von ausländischen Schulsystemen lernen können.

blog@alexanderbrand.de http://www.alexanderbrand.de/