Gastbeitrag

Bildung im Kontext von Digitalität und Nachhaltigkeit

von Uta Hauck-Thum
veröffentlicht am 11.10.2022
Lesezeit: 7 Minuten

Im Bildungssystem stehen wir vor komplexen Aufgaben, die über Fragen der Ausstattung weit hinausgehen. Grundlegende Veränderungen können aus einem Bildungsbegriff erwachsen, der ohne normative Setzung auskommt und dennoch als Reaktion auf gesellschaftliche Herausforderungen verstanden werden kann.

Die Ansprüche der Gesellschaft an die Institution Schule haben sich in einer zunehmend komplexen Welt gewandelt. Schule soll in erster Linie digitaler werden und einen kompetenten und verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien vermitteln, der dem Zurechtfinden im Digitalen dient (MacGilchrist 2017). Der wahre Mehrwert digitaler Medien liegt jedoch nicht darin, „alte Ziele schneller zu erreichen, sondern völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen, die im Idealfall gesellschaftlich und individuell bedeutsam sind“ (Krommer 2019, vgl. auch Rosa 2017). Zieldimensionen, die inhaltlich durch den Anspruch an Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) klar umrissen sind.

Bildung für nachhaltige Entwicklung als Querschnittsaufgabe in der digitalen Welt

Gemäß der Vision der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) geht es dabei in erster Linie um Bildungschancen, „die es ermöglichen, sich Wissen und Werte anzueignen sowie Verhaltensweisen und Lebensstile zu erlernen, die für eine lebenswerte Zukunft […] erforderlich sind“ (DUK 2011, S. 7). Die DUK betont in diesem Zusammenhang den Einfluss von Bildungseinrichtungen „auf die Teilhabe der Lehrenden und Lernenden an Entscheidungsprozessen genauso wie auf ihre Lehr- und Lernkultur oder die Qualifikation des Personals“ (DUK 2011, S. 9). Nur wenn angehende Lehrende bereits in der Ausbildung auf ihre Rolle als „change agents in gegenwärtigen ökosozialen Umbruchprozessen vorbereitet werden” (Hoiß 2019, S. 22), können sie damit verbundenen Herausforderungen kritisch reflektieren sowie sich ihnen situationsspezifisch stellen“ , können notwendige Transformationsprozesse angestoßen werden, die letztendlich in den Fragen münden: Wie wollen wir in Zukunft leben? Und was müssen wir jetzt dafür tun? Bildung übernimmt dabei die Funktion einer menschlichen Überlebensstrategie (Hoiß 2019).

Digitale Bildung im aktuellen Diskurs

In einem Whitepaper aus dem Jahr 2017 wird der globale Wandel im Zeitalter des Anthropozäns in einem interdisziplinären Ansatz von Natur-, Geistes- und Technikwissenschaften analysiert. Die Forscher:innen verweisen auf die Wirkmacht industrieller Aktivitäten, die sich mit den natürlichen Prozessen im Erdsystem vergleichen lässt, die wiederum biophysikalische Auswirkungen von erdgeschichtlicher Bedeutung haben werden (Renn et al. 2017). Zudem zeigen sie auf, dass im Rahmen dieses systemweiten Eingriffs die Bedeutung digitaler Transformation vernachlässigt wird, und heben die entscheidende Rolle digitaler Technologien als „Auslöser und Indikator für Veränderungen der Weltwirtschaft, im Rohstoff-, Material- und Energiefluss und im Management komplexer gesellschaftlicher Anforderungen und Kräfte“ (Renn et al. 2017, S. 1) hervor. Digitalisierung wird als „Dreh- und Angelpunkt gesehen, über den man die Kontrolle über die vor uns liegenden Zukunftspfade entweder gewinnen oder verlieren kann“ (Renn et al. 2017, S. 1) – und dadurch zum klaren Auftrag für neue Bildungskonzepte (Hauck-Thum 2020). 

Veränderungstendenzen werden beim Blick auf den aktuellen Bildungsbegriff bereits erkennbar, der seit geraumer Zeit ein neues Etikett trägt: digital. Ein Blick auf die Verwendung des Begriffs im aktuellen Diskurs offenbart jedoch, dass der Begriff der digitalen Bildung weder klar definiert noch einheitlich verwendet wird. Häufig wird er synonym zum digitalen Lernen gebraucht. Grob zusammengefasst setzt Bildung Lernen unbestritten voraus, doch nicht jeder Lernprozess führt letztendlich zu Bildung: „Lernen ist prinzipiell an mehr oder weniger bewusste Bewältigung von Aufgaben geknüpft, die der gesellschaftliche Lernprozess dem Individuum abfordert. Nicht so Bildung, die sich durch ein distanziertes Verhältnis zu dieser Praxis der Bewältigung von Problemen und Aufgaben auszeichnet“ (Borst 2020, S. 21). Die synonyme Verwendung negiert entsprechende Unterschiede und Zusammenhänge und kann als bewusste Komplexitätsreduktion interpretiert werden, die einer bestimmten bildungspolitischen Richtung Vorschub leistet. Deren Ziel ist es, „Lernen im Kontext ihrer Verwertbarkeit zu sehen und individuell nur noch nach ihrer ökonomischen Brauchbarkeit zu beurteilen“ (Borst 2020, S. 18). Digital wird dabei in seiner Bedeutung auf eine Eigenschaft von Technologien reduziert, da sich digitales Lernen in diesem Verständnis in der instrumentellen Auseinandersetzung mit einem Angebot an digitalen Tools und Plattformen zur Verteilung von Lernmaterialien erschöpft. Deren ursprüngliche Struktur und die damit verbundenen Aufgabenformate bleiben auch in digitaler Form erhalten (Allert & Asmussen 2017). Digitale Medien dienen dann lediglich als Werkzeuge, deren Einsatz den Erwerb von Kompetenzen und den Aufbau von abrufbarem Wissen digital unterstützt mit dem Ziel, ökonomisch zu reüssieren. Lernen an sich „verkommt zur reinen Technologie“ (Borst 2020, S. 18), da es ausschließlich auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts hin zugeschnitten wird und nicht an die subjektiven Erfahrungen der Lernenden anknüpft. Werden entsprechende Lernprozesse, die vornehmlich an die instrumentelle Bewältigung tradierter Aufgabenformate geknüpft sind, als Voraussetzung digitaler Bildung betrachtet, ist der neu etikettierte Bildungsbegriff nicht mehr als eine attraktive Worthülse, der die individuellen Bedürfnisse und Erfahrungen der Lernenden ausspart.

»Digitale Medien kommen dabei zum Einsatz, um Kinder und Jugendliche zum Nachdenken über die Welt, zum kritischen Reflektieren und zum kommunikativen Austausch anzuregen.«

Uta Hauck-Thum

Bildung im kulturellen Wandel

Aufgrund weitreichender Digitalisierungsprozesse hat sich in den vergangenen Jahren ein einschneidender kultureller Wandel vollzogen. Mit der Kultur der Digitalität als wesentlichem Bestandteil globaler Beschleunigungsprozesse ist ein neuer „kultureller Möglichkeitsraum“ (Stalder 2021, S. 4) entstanden, der auch Bildungserfahrungen grundlegend verändert (Stalder 2016). Gemeinschaftliche Prozesse, die für die heranwachsende Generation Global große Relevanz haben, rücken dabei in den Fokus. Gemeinschaften bestehen analog wie digital. Mechanismen digitaler Vernetzung erhöhen insbesondere die Reichweite und Wirkmächtigkeit sozialer Netzwerke und Plattformen (Papasabbas 2017). Beteiligte Individuen generieren laufend neue kreative und produktive Praktiken, verstanden als „routinierte gemeinsame Handlungsgepflogenheiten“ (Hörning, 2001, S. 162), die sich wechselseitig konstituieren. So verändert sich beispielsweise die Art der Kommunikation über geteilte Bilder, Tweets, Blogs und Memes, die „mithilfe von digitalen Technologien laufend produziert und reproduziert“ (Stalder 2016, S. 137) werden. Gemeinschaften nehmen kommunikative Beiträge ihrer Mitglieder wahr und erkennen diese an (Allert & Asmussen 2017). Auch über die Auswahl und Bewertung von Referenzen, also von anderen bereits gemachten kulturellen Äußerungen, ist die Beteiligung an den Gemeinschaften möglich (Stalder 2016). Diese Referenzen werden nicht nur von Menschen generiert. Dahinter steckt vielmehr eine algorithmische Vorauswahl, die der Mensch bestätigt, was wiederum „als Feedback für die stete Anpassung dieses Algorithmus genutzt wird“ (Stalder 2016, S. 19). Entsprechende Zusammenhänge müssen erlernt und verstanden werden, wenn Individuen sich auch weiterhin an kulturellen Prozessen beteiligen wollen (Hauck-Thum 2021). Aus dieser Notwendigkeit heraus erwächst der Bildungsauftrag zur grundlegenden Veränderung von Lehr- und Lernprozessen, die gemäß der Kultur der Digitalität verstärkt aus dem sozialen Miteinander erwachsen, neue Handlungshorizonte und neue Formen der Subjektivierung eröffnen und nicht länger auf den Erwerb von Kompetenzen im Bereich instrumenteller Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Medien abzielen (Allert & Richter 2016). Kinder und Jugendliche benötigen anregende Räume, Gelegenheiten und ausreichend Zeit zur kreativen und produktiven Auseinandersetzung mit relevanten Themen. Sie sollten dabei als Teil der Gemeinschaft agieren und sich gemäß ihrer Lernausgangslage in Austausch- und Gestaltungsprozesse einbringen. Digitale Medien kommen dabei zum Einsatz, um Kinder und Jugendliche zum Nachdenken über die Welt, zum kritischen Reflektieren und zum kommunikativen Austausch anzuregen. Reguliertes individualisiertes Lernen steht dem Lernen in der Gemeinschaft nicht grundsätzlich entgegen. Aber erst in der Gemeinschaftlichkeit im Rahmen arbeitsteiliger Kooperation und Kollaboration, über kollektive Reflexion, gegenseitige Unterstützung und Feedback in analogen und digitalen Lernumgebungen erfährt auch selbstorganisiertes Lernen Ordnung und Regulierung (Allert & Asmussen 2017). Dadurch wird die Passung schulischer Bildungsgelegenheiten für Kinder und Jugendliche mit heterogener Lernausgangslage erhöht (Hauck-Thum & Heinz 2021). Gleichermaßen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dabei die Basis für eine kritische und reflektierte Meinungsbildung gelegt werden kann (Giesinger 2007). Im Kontext der Themen Digitalisierung und Umwelt ist diese Kompetenz von besonderer Relevanz, da es nicht darum gehen darf, Lernende zum Zweck gesellschaftlicher Transformation zu instrumentalisieren (Singer-Brodowski 2016). Heranwachsende haben vielmehr das Recht auf eine unabhängige Meinungsbildung und benötigen deshalb vielfältige Anregungen zur kritischen Reflexion „über die Herkunft bestimmter Diskurse und der im Lehr-Lern-Setting dargebotenen Nachhaltigkeitsexpertise“ (Parker 2008, S. 55f.). Sollte Schule und Unterricht weiterhin auf einer stabilen „Vorstellung von Lernen als Weitergabe von bereits bestimmtem Wissen und Vermittlung bestehender Kultur, Bedeutung und Regeln an isolierte Individuen“ (Allert & Asmussen 2017, S. 49) basieren, kann das Bildungsziel, reflektiert und kritisch zu denken, nur von wenigen erreicht werden.

Zum Verständnis digitaler Bildung in der Schule

Heranwachsende stehen zukünftig vor komplexen Herausforderungen, die sie nur dann bewältigen können, wenn sie bereits während der Schulzeit von Anfang an Teilhabe erleben und im Rahmen gemeinschaftlicher Prozesse zukunftsrelevante Kompetenzen erwerben können, die für den Umgang mit Veränderungen in den Bereichen Digitalisierung und Umwelt dienlich sind. Solange digitale Bildung als Konsequenz der instrumentellen Auseinandersetzung mit digitalen Medien verstanden wird, aus denen individualisierte Bildungschancen erwachsen sollen, werden Heranwachsende nicht ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. Erst wenn digitale Bildung unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität reflektiert wird, aus nachhaltigen Lehr- und Lernprozessen hervorgeht und auf die Fähigkeit zur unabhängigen kritischen Meinungsbildung abzielt, kann sie zur tragfähigen Zielperspektive im Bildungsbereich werden und ihr transformatives Potenzial im Sinne einer lebenswerten Zukunftsperspektive entfalten.

Uta Hauck-Thum

Prof. Dr. Uta Hauck-Thum ist Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Aktuell leitet sie die BMBF-geförderten Projekte „Digitale Chancengerechtigkeit – Digitale Lehr- und Lernumgebungen im Lese- und Literaturunterricht zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit und Bildungsteilhabe in der Grundschule“, „BesserLesen. Mobile Anwendung zur kooperativen Leseförderung von Kindern durch KI-gestützte Spracherkennung und -überprüfung“ sowie „Poetische Bildung digital” als Teilprojekt des Verbundes „DiäS“. Zudem gehört sie dem wissenschaftlichen Beirat der BMBF-geförderten Projekte Schultransform und Kompetenzverbund lernen:digital an.

Literatur

Allert, H. & Asmussen, M. (2017): Bildung als produktive Verwicklung. In: H. Allert, M. Asmussen & C. Richter (Hrsg.). Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript, S. 27-68 

Allert, H. & Richter, C. (2016): Kultur der Digitalität statt digitaler Bildungsrevolution. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de0168-ssoar-47527-7 letzter Zugriff: 17.09.2022) 

Borst, E. (2020): Theorie der Bildung. Eine Einführung. (5. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 

Deutsche UNESCO-Kommission DUK) (2011): UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung!“ 2005-2014. Nationaler Aktionsplan für Deutschland. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission. https://www.bibb.de/dokumente/pdf/a33_nationaler_aktionsplan_2011.pdf (letzter Zugriff: 17.09.2022)

Giesinger, J. (2007): Was heißt Bildungsgerechtigkeit? In: Zeitschrift für Pädagogik 53/3, S. 362-381 

Hauck-Thum, U. (2020): Das Anthropozän als Denkrahmen für Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität (2020). In: E. Rauscher, C. Sipp & M. Scheuch (Hrsg.). Das Anthropozän lernen und lehren. Innsbruck & Wien: Studienverlag S. 443-453 

Hauck-Thum, U. & Heinz, J. (2021). Die Kultur der Digitalität als Ausgangspunkt co-kreativer Prozesse im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule. In: merzWissenschaft 65/5, S. 74-86 

Hauck-Thum, U. & Pallesche, M. (2022): Schulentwicklung mit Medienkonzepten in der Kultur der Digitalität. In: GS aktuell 157, S. 23-26 

Hoiß, C. (2019): Deutschunterricht im Anthropozän: didaktische Konzepte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. https://www.edoc.ub.uni-muenchen.de/24608/1/Hoiss_Christian.pdf (letzter Zugriff: 17.04.2022) 

Hörning, K. H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 

Krommer, A. (2019): Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist. https://www.goethe.de/de/spr/spr/21451837.html (letzter Zugriff: 17.09.2022) 

MacGilchrist, F. (2017): Die medialen Subjekte des 21. Jahrhunderts. Digitale Kompetenzen und/oder Critical Digital Citizenship. In: H. Allert & M. Asmussen (Hrsg.). Digitalität und Selbst: Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 145-168 

Papasabbas, L. (2017): Die Generation Global. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/die-generation-global (letzter Zugriff: 17.04.2022). 

Pallesche, M. (2021): Mediendidaktische Konzepte und die Kultur der Digitalität. In: U. Hauck-Thum & J. Noller (Hrsg.). Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven. Berlin & Heidelberg: J. B. Metzler, S. 83-96

Parker, J. (2008): Situating education for sustainability: A framework approach. In: J. Parker & R. Wade (Hrsg.). Journeys around education for sustainability. London: London South Bank University, S. 33-63 

Renn, J., Schlögl, R., Rosol, C. & Steininger, B. (2017): White Paper: A rapid transition of the world’s energy systems. In: Nature Outlook: Energy Transitions 511. https://www.mpg.de/12545963/geo-anthropologie-digitale-transformation (letzter Zugriff: 17.09.2022) 

Singer-Brodowski, M. (2016): Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der BNE. In: Umweltdachverband GmbH (Hrsg.). Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Im Wandel. Wien: Forum Umweltbildung im Umweltdachverband, S. 130-139 

Stalder, F. (2016): Kultur der Digitalität (1. Aufl.). Berlin: Suhrkamp 

Stalder, F. (2021): Was ist die Kultur der Digitalität? In: U. Hauck-Thum, & J. Noller (Hrsg.). Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven. Berlin & Heidelberg: J. B. Metzler, S. 3-8