Gastbeitrag

Chancen von Serious Games und Game-based Learning in der Bildung für nachhaltige Entwicklung

von Antonia Schorer
veröffentlicht am 26.02.2024
Lesezeit: 8 Minuten

Der Einsatz von Serious Games in der Bildung für nachhaltige Entwicklung eröffnet spannende Möglichkeiten zur Sensibilisierung und Bewältigung globaler Herausforderungen. Dabei kann das emotionale Erleben im Lernprozess eine wichtige Rolle spielen. Wie dieses Potenzial in der Lehrpraxis umgesetzt werden kann, lässt sich exemplarisch anhand des NEMESIS Game – einem digitalen Spiel zu sozialen Innovationen und den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen – nachvollziehen.

Die Entwicklung neuer Fähigkeiten und Kenntnisse durch den Einsatz von Serious Games und Game-based Learning im Kontext des Konzepts der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bietet im schulischen Umfeld das Potenzial für zukunftsweisende und vielversprechende Möglichkeiten. BNE kann Kinder und Jugendliche durch ihre Verknüpfung mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) motivieren und befähigen, sich aktiv mit globalen Herausforderungen auseinanderzusetzen und zu einer nachhaltigen Zukunft beizutragen. Die dafür gewünschte Beteiligung an gesellschaftlich relevanten Aktivitäten und die damit verbundene Selbstwirksamkeit können insbesondere durch spielbasierte Lernformate und die damit verbundenen positiven emotionalen Lernerfahrungen gestärkt werden. Doch wie können diese Potenziale in der Lehrpraxis genutzt werden?

Serious Games – Digitale Spiele mit „ernsten“ Absichten 

Als Serious Games werden digitale Spiele bezeichnet, die in erster Linie nicht der Unterhaltung dienen, sondern ernsthafte Ziele, wie beispielsweise die Wissensvermittlung, verfolgen (Michael & Chen 2006). Auch Spiele, die ursprünglich nicht für Bildungszwecke entwickelt wurden, können durch Konzepte des Game-based Learnings (Prensky 2001) ihr Bildungspotenzial durch die Einbettung in Lehr- und Lernszenarien entfalten. Generell liegt der Fokus darauf, die Potenziale von Spielen mit Lernaspekten zu verknüpfen und den positiven Charakter des Spiels auf den Lernkontext zu übertragen. 

Qualitativ hochwertige Serious Games berücksichtigen in einem ausgewogenen und sich ergänzenden Verhältnis die Erreichung der charakteristischen Ziele (Serious) und das Hervorrufen und Aufrechterhalten der Spielerfahrung (Game) (Caserman, Hoffmann, Müller, Schaub, Straßburg, Wiemeyer, Bruder & Göbel 2020). Die Chancen solcher Spiele entfalten sich in vielerlei Hinsicht: Sie fördern das Verständnis und die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden, sie schaffen flexible Lernmöglichkeiten, verbessern die Lernergebnisse, erleichtern das soziokulturelle Lernen hinsichtlich kognitiver und motivierender Effekte und erhöhen die Zufriedenheit der Lernenden (Yu 2019). Vielfältige Einsatzszenarien ermöglichen sowohl formelles als auch informelles Lernen. Die ernsthaften Absichten dieser Spiele sind nicht auf den Bildungsbereich beschränkt, sondern finden sich unter anderem auch in den Gebieten des sozialen Wandels, der Berufswelt, der Gesundheit, der Politik und des Marketings (Michael & Chen 2006). Für BNE sind dementsprechend auch solche Spiele von besonderer Bedeutung, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch den gesellschaftlichen Wandel oder politische Ereignisse thematisieren.

BNE – Bildung für nachhaltige Entwicklung

Im Sinne der UNESCO befasst sich Bildung für nachhaltige Entwicklung mit den globalen Zusammenhängen und Herausforderungen unserer heutigen Gesellschaft und deren Bewältigung in der Zukunft. Durch handlungsorientierte und innovative Maßnahmen sollen Lernende das notwendige Wissen und die erforderlichen Kompetenzen erwerben, um ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Transformation der Gesellschaft leisten zu können. BNE thematisiert dabei die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs), die von den Vereinten Nationen formuliert wurden, um eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene zu gestalten. BNE ist nicht nur grundlegend für die Erreichung der SDGs, sondern ist direkt als Teilziel (4.7) im Zielbereich „Qualitativ hochwertige Bildung“ (SDG 4) eingebunden. Das aktuelle Rahmenprogramm der UNESCO (BNE 2030) unterstützt die Verwirklichung der 17 Ziele, indem es die Menschen für die SDGs und ihre Relevanz im Alltag sensibilisiert, die Zusammenhänge zwischen den Zielen thematisiert und dazu motiviert, sich aktiv für die Umsetzung der SDGs einzusetzen (Deutsche UNESCO-Kommission o. J.; UNESCO 2021).

Serious Games & BNE – Potenziale für das emotionale Erleben des Lernprozesses

Serious Games eignen sich als Instrument für die Auseinandersetzung mit BNE-Themenfeldern, da sie unter anderem das emotionale Erleben der Lernenden positiv beeinflussen können (Schorer & Protopsaltis 2020). Emotionen sind innere, psychische Prozesse, die sich zum Beispiel anhand ihrer Wertigkeit in positive und negative Emotionen einteilen lassen und dazu beitragen, dass Situationen als angenehm oder unangenehm empfunden werden (Frenzel, Goetz & Pekrun 2020). Im Kontext von BNE können Lehrkräfte positiven Emotionen wie Freude, Hoffnung oder Stolz begegnen, zum Beispiel wenn Lernende sich darauf freuen, etwas für die Umwelt zu tun, oder stolz darauf sind, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Sie können aber auch mit negativen Emotionen wie Wut, Angst, Scham, Hoffnungslosigkeit oder Langeweile konfrontiert werden, wenn sich die Adressat:innen beispielsweise über bestimmte Themenfelder ärgern, Angst davor haben, wie andere sie beurteilen könnten, oder das Gefühl haben, dass ihr Handeln aussichtslos sei. Entscheidend ist hier allerdings, dass Lernende, die mit Interesse und Neugierde einem Thema begegnen, einen anderen Effekt erzielen werden als Personen, die den Inhalt als langweilig, herausfordernd und beängstigend empfinden (Frenzel, Goetz & Pekrun 2020). 

Emotionen sind allerdings keine reinen Reaktionen auf bestimmte Situationen, sondern werden durch kognitive Beurteilungen und Interpretationen beeinflusst. Hier spielt zum einen die subjektive Kontrolle eine Rolle, das heißt, wie die eigenen Möglichkeiten eingeschätzt werden, Situationen selbst zu beeinflussen. Diese Einschätzungen können sowohl positiv sein, indem die Relevanz des eigenen Beitrags erkannt wird, als auch negativ, wenn das eigene Handeln als sinnlos bewertet wird. Zum anderen ist der wahrgenommene Wert wichtig und bezieht sich darauf, für wie bedeutsam das Thema gehalten wird (Frenzel, Goetz & Pekrun 2020).

Um positive Kontroll- und Wertüberzeugungen im Bildungskontext herbeizuführen, sind nach Frenzel, Goetz & Pekrun (2020) vor allem folgende Aspekte hilfreich:

  • Klare Instruktionen geben
  • Angemessene Schwierigkeitsniveaus wählen
  • Bedeutung der Lernaktivität verdeutlichen
  • Autonomie gewährleisten
  • Keine überhöhten Erwartungen wecken

Digitale Spiele berücksichtigen diese Aspekte und verfügen über eine Vielzahl inhärenter lernfördernder Wirkungsmechanismen, indem sie neue Handlungsräume eröffnen und Problemlösekompetenzen und Verständnis fördern (Gee 2005). Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Serious Games besitzen das Potenzial, stärkere positive Emotionen und geringere negative Emotionen hervorzurufen (Schorer & Protopsaltis 2020; Lei, Wang, Chiu & Chen 2022), und können sich somit positiv auf Lernprozesse im Rahmen von BNE auswirken.

NEMESIS Game – Soziale Innovationen und SDGs spielerisch erfahren

Das NEMESIS Game wurde im Rahmen des Horizon-2020-Projekts NEMESIS – Novel Educational Model Enabling Social Innovation Skills“ entwickelt. Das Projekt setzte sich zum Ziel, Bildung und soziale Innovation an Schulen zu vereinen, um junge Menschen im Sinne der BNE für die sozialen Fragen der Zukunft zu sensibilisieren. In Co-Creation Labs wurden Schüler:innen, Lehrkräfte, Eltern und soziale Innovator:innen zusammengebracht, um gemeinsam an sozialen Innovationsprojekten zu arbeiten. Um den Jugendlichen die Bedeutung ihres Engagements für das Gemeinwohl noch stärker zu verdeutlichen, entstand die Idee, das bestehende Bildungsmodell durch ein Serious Game zu ergänzen, welches sich auf emotionale Aspekte des Lernens konzentriert und die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Schüler:innen in den Fokus nimmt.

Computergenerierte Spielfiguren stehen in einer Art Kontrollzentrum, im Hintergrund steht groß auf einem Bildschirm das Wort „Nemesis“.
Screenshot: Antonia Schorer

Spielfigur und NPCs im Co-Creation Lab des NEMESIS Game

Das didaktische Konzept des Spiels folgt einer Kombination aus Adventure- und Open-World-Spielen und verbindet interaktive Dialoge, Erkundungen und Herausforderungen mit freien und individuellen Elementen (Schorer & Protopsaltis 2020). Die Spielenden übernehmen die Rolle von Bürger:innen von NEMESIS City, die mit ihrer „sozialen Innovationskraft“ das Wohlbefinden der Bewohner:innen steigern möchten. Im Einklang mit dem NEMESIS-Ansatz können die Spielenden im Co-Creation Lab mit Lehrkräften, sozialen Innovator:innen und Eltern (als sogenannte Non-Player-Charaktere, NPCs) zusammenarbeiten. Durch die Umsetzung sozialer Innovationen werden die Spielenden mit Glückspunkten belohnt. Im Stadtplan können sie frei aus den verschiedenen Missionen wählen und verfolgen das Ziel, die Stadt so glücklich wie möglich zu machen. Die verschiedenen Spielmissionen decken unterschiedliche Ziele der nachhaltigen Entwicklung ab und beziehen sich auf den Alltag junger Menschen.

Zu sehen ist ein Textfeld mit dem Bild einer computergenerierten jungen Frau mit Brille auf der linken Seite. Der Text lautet: „Hi, mein Name ist Jenny. Ich brauche deine Hilfe. Ich liebe Mode, aber ich hab so viele Klamotten, die ich nicht mehr trage, weil sie entweder zu klein sind oder mir nicht mehr gefallen. Ich möchte sie aber nicht wegwerfen. Meinen Freunden geht es genauso. Wir verbrauchen so viele Ressourcen nicht nachhaltig. Was können wir tun?“
Screenshot: Antonia Schorer

Hilferuf einer NEMESIS-City-Bewohnerin auf der Stadtkarte

Die Funktionsweise des Spiels  kann anhand der Mission „Dauerhafte Mode“ beispielhaft nachvollzogen werden, die das SDG zu nachhaltigem Konsum und Produktion (SDG 12) schwerpunktmäßig thematisiert: Die Spielenden erhalten einen Hilferuf auf der Stadtkarte, der den Wunsch nach einem nachhaltigeren Umgang mit Mode thematisiert. Um herauszufinden, wie dieses Problem gelöst werden kann, arbeiten die Spielenden in Dialogen mit den NPCs im Co-Creation Lab zusammen und erwerben so beispielsweise Wissen über soziale Innovationen und die SDGs. Als Ergebnis werden die Spielenden erkennen, dass hier eine Kleidertauschaktion als soziale Innovation hilfreich sein kann. Diese kann nun in der Spielwelt durch Gespräche mit NPCs und dem Sammeln von Spielobjekten umgesetzt werden. In diesem Fall ist ein geeigneter Raum und die entsprechende Erlaubnis einer Lehrkraft nötig, sowie verschiedene Kleidungsstücke und Kleiderbügel, um die Kleidertauschaktion durchführen zu können. Nach dem Lösen der Aufgabe erhalten die Spielenden eine Rückmeldung, weitere Informationen und die Glückspunkte für die Stadt. 

Das Lernziel des Spiels besteht darin, die Grundlagen zu sozialen Innovationen und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft vorzustellen, Beispiele zu präsentieren, sowie den Handlungsbedarf der SDGs zu verdeutlichen. Um den unterschiedlichen Bedingungen in Schulen gerecht zu werden, ist das Spiel in verschiedenen Formaten und Sprachen verfügbar.

Spielszenen der Mission „Dauerhafte Mode“

Serious Games: Vielversprechende Chancen für die Gestaltung von Bildung für nachhaltige Entwicklung

Das NEMESIS Game kann als erfolgreiches Instrument zur Förderung sozialer Innovationen und der SDGs betrachtet werden. Es wird deutlich, dass die Kombination von spielbasierten Lernangeboten und BNE vielversprechende Chancen im schulischen Umfeld eröffnet. BNE motiviert Kinder und Jugendliche, sich aktiv mit globalen Herausforderungen auseinanderzusetzen und sich mit relevanten Aktivitäten an unserer Gesellschaft zu beteiligen. Serious Games wie das NEMESIS Game bieten die Möglichkeit, positive emotionale Lernerfahrungen zu schaffen und so das Engagement der Lernenden zu stärken.

Zu sehen ist eine blonde junge Frau mit Brille, die frontal in die Kamera schaut und leicht lächelt.
Antonia Schorer

Antonia Schorer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Lern-Innovation und Doktorandin am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre fachlichen Wurzeln liegen in der Sozialen Arbeit. Ihr Forschungsinteresse gilt den verschiedenen Aspekten des digitalen Lernens und der Frage, wie digitale Technologien wie Serious Games zur Erreichung pädagogischer und sozialer Ziele wirkungsvoll eingesetzt werden können.

Literatur

Caserman, P., Hoffmann, K., Müller, P., Schaub, M., Straßburg, K., Wiemeyer, J., Bruder, R. & Göbel, S. (2020): Quality Criteria for Serious Games: Serious Part, Game Part, and Balance. In: JMIR Serious Games 8/3, e19037. https://games.jmir.org/2020/3/e19037 (letzter Zugriff: 13.10.2023)

Deutsche UNESCO-Kommission (o. J.): Bildung für nachhaltige Entwicklung. UNESCO-Programm „BNE 2030“.

https://www.unesco.de/bildung/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung/unesco-programm-bne-2030 (letzter Zugriff: 13.10.2023)

Frenzel, A., Goetz, T. & Pekrun, R. (2020): Emotionen. In: E. Wild & J. Möller (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Berlin & Heidelberg: Springer, S. 210-235

Gee, J. P. (2005): Learning by Design: Good Video Games as Learning Machines. In: E-Learning and Digital Media 2/1, S. 5-16

Lei, H., Wang, C., Chiu, M. M. & Chen, S. (2022): Do educational games affect students’ achievement emotions? Evidence from a meta-analysis. In: Journal of Computer Assisted Learning 38/3, S. 1-14

Michael, D. & Chen, D. (2006): Serious Games – Games that Educate, Train, and Inform. Boston/MA: Thomson Course Technology

Prensky, M. (2001): Digital Game-Based Learning. Saint Paul/MN: Paragon House

Schorer, A. & Protopsaltis, A. (2020): Effects of Serious Games and game-based learning on learners’ achievement emotions. In: P. Fotaris (Hrsg.): Proceedings of the 14th International Conference on Game Based Learning ECGBL 2020. University of Brighton & Reading: Academic Conferences International Limited, S. 731-738 

UNESCO (2021): Bildung für nachhaltige Entwicklung – Eine Roadmap. https://www.unesco.de/sites/default/files/2022-02/DUK_BNE_ESD_Roadmap_DE_barrierefrei_web-final-barrierefrei.pdf (letzter Zugriff: 13.10.2023)

Yu, Z. (2019): A Meta-Analysis of Use of Serious Games in Education over a Decade. In: International Journal of Computer Games Technology 1, S. 1-8