Gastbeitrag
Das Pferd von hinten aufzäumen: Wie erkennt man die echten Potenziale von KI im schulischen Kontext?
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veröffentlicht am 15.01.2024
Lesezeit: 10 Minuten
Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 ging ein Ruck durchs Bildungssystem. Lernende können nun ihre Hausaufgaben mit ChatGPT erledigen und Lehrende lassen sich fertige Unterrichtsentwürfe erstellen. Aber liegt hier das Potenzial von KI im schulischen Kontext?
KI ist viel mehr als ChatGPT
ChatGPT des US-amerikanischen Unternehmens OpenAI bildete den Startschuss für eine Reihe von KI-gestützten Anwendungen, die seitdem genutzt werden können. Der Chatbot wird in der Basisanwendung kostenlos bereitgestellt und ist in der Lage, Texte und Bilder zu generieren und dabei auf die Eingaben der Anwender:innen, sogenannte Prompts, einzugehen. Die User:innen tippen einen Text ein und ChatGPT reagiert darauf live in Form von Text oder Bildern. In geringem Ausmaß ist die Software dabei auch in der Lage, Formatierungen vorzunehmen, zum Beispiel Absätze, Aufzählungen, Listen, Tabellen oder Programmiercodes zu erzeugen.
In den vergangenen Monaten haben viele Anwender:innen die Potenziale von ChatGPT und anderen generativen KI-Modellen ausgelotet und dabei sowohl positive als auch enttäuschende Ergebnisse erzielt. So kann eine Lehrkraft beispielsweise im Kunstunterricht mithilfe einer bildgenerativen Software wie DALL:E oder Midjourney digitale Kunstwerke im Stil verschiedener Künstler:innen erzeugen. Gemischt mit echten Bildern der Künstler:innen erhalten die Lernenden den Auftrag zu recherchieren, welche Themen der:die Künstler:in behandelt hat, und darüber zu entscheiden, welche der Bilder entsprechend ihm:ihr zuzuordnen sind.
Neben Text kann man generative KI-Modelle auch in die Lage versetzen, Bilder, Töne, Animationen oder Filmmaterial zu generieren. Durch geschickte Kombination von mehreren solcher Modelle können Produkte erzeugt werden, zu denen eine einzelne Anwendung nicht in der Lage wäre. In einer Reportage für den Youtube-Kanal PLUS des Bayerischen Rundfunks beispielsweise zeigt Reporterin Nadine Hadad, wie sie mithilfe der Musik-KI AIVA und ChatGPT einen kompletten Song produziert. Dabei wird deutlich, dass AIVA nicht direkt einen passenden Sound generiert, sondern die Reporterin in mehreren Rückkopplungsschleifen das Ergebnis so lange verfeinert, bis sie zufrieden ist. Anschließend erzeugt sie mit ChatGPT einen Songtext. Auch hier zeigt sich, dass nicht das erste Ergebnis das beste ist. Wieder sind mehrere Schleifen notwendig, um einen akzeptablen Songtext zu erhalten. Mit dem selbst eingesungen Text entsteht mit ein bisschen Nachbearbeitung ein hörbares Ergebnis. Unter Einsatz weiterer KI-Tools wäre es sogar möglich, die Stimme zu verändern oder den Text künstlich einsingen zu lassen. In jedem Fall zeigt das Beispiel schön auf, wie Künstliche Intelligenzen miteinander verbunden werden können und dabei trotzdem (noch) menschliches Nachsteuern notwendig ist. Andere KIs wie LALAL.AI sind übrigens zum Beispiel in der Lage, die einzelnen Gesangs- und Instrumentenspuren aus einem Arrangement zu extrahieren.
»Gemein ist allen Anwendungsszenarien von KI, dass stets ein direktes oder indirektes Geschäftsmodell der treibende Faktor für die kostspielige Entwicklung ist. Sich dies bewusst zu machen, ist essenziell, um über KI im schulischen Kontext zu sprechen.«
Neben generativen Anwendungen lassen sich KI-Tools auch auf ganz andere Muster anwenden. Zum Beispiel kann man mit der Google-Anwendung Teachable Machine eine KI darauf trainieren, ein bestimmtes Muster in einem Bild oder einer Audiosequenz zu erkennen. Das Bild oder die Audiospur ist also nicht der Output (wie bei generativen KI-Modellen), sondern der Input. So kann man Teachable Machine beispielsweise beibringen, verschiedene Personen zu unterscheiden. Das Modell ist anschließend in der Lage zu bestimmen, welche der Personen im Bild zu sehen ist – im Grunde eine Art Gesichtserkennung.
Im professionellen Kontext können in Texten Rechtschreib- und Grammatikfehler identifiziert, das Wetter vorhergesagt, Spam-Mails erkannt oder auch Schweißnähte kontrolliert werden. Gemein ist allen Anwendungsszenarien von KI, dass stets ein direktes oder indirektes Geschäftsmodell der treibende Faktor für die kostspielige Entwicklung ist. Sich dies bewusst zu machen, ist essenziell, um über KI im schulischen Kontext zu sprechen.
Sich an der Wirkung orientieren: Was ist der Outcome von KI-Tools?
OpenAI veröffentlichte ChatGPT als kostenfreie Anwendung, zu der es mittlerweile eine (deutlich performantere) Bezahl-Version gibt. Über eine Schnittstelle nutzen außerdem mittlerweile zahlreiche andere Anbieter das Large Language Modell (LLM), ein KI-Modell zum Auswerten und Generieren natürlicher Sprache. LLM ist beispielsweise im Microsoft-Browser Bing integriert, um die Suche nach Informationen intuitiver im Chat-Stil zu gestalten. Für den Bildungsbereich ist ChatGPT aus Datenschutzgründen nicht direkt nutzbar. Außerdem verbieten die AGB des Unternehmens das Anlegen eines Accounts für Personen unter 18 Jahren. Über die Schnittstelle ist es aber dennoch möglich, mit dem KI-Tool zu arbeiten. Anbieter wie beispielsweise Fobizz machen sich dies zunutze und bieten datenschutzkonforme KI-Tools für Lernende und Lehrende auf der Grundlage von ChatGPT und anderen LLMs an.
Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Anwendungen. Unternehmen unterbreiten aktuell auf der Basis von generativer KI Angebote, welche dann von den Nutzer:innen getestet werden, die dabei sinnvolle Anwendungsfälle erstellen. Die Nutzer:innen entwickeln hier sozusagen für das Unternehmen die Verkaufsstrategie auf Basis ihrer eigenen Nutzungsstrategie. Im Fall von ChatGPT bedeutet das im schulischen Kontext etwa das Entwickeln von Aufgabenstellungen, Unterrichtsideen, Elternbriefen, Übungsaufgaben und -texten, Programmiercodes, Kompetenzrastern und vielem mehr sowie Unterstützung bei der Erstellung von Beurteilungen und Gutachten und bei der Überprüfung von Schüler:innentexten hinsichtlich Sprache und Grammatik. Um solche spezifischen Anwendungen zu erzeugen, wird häufig auf die Schnittstelle von ChatGPT oder anderen LLMs zurückgegriffen. Das Modell wird durch einen geeigneten Prompt für diese spezifische Aufgabe „angelernt“, um mithilfe der Benutzereingabe ein möglichst hochwertiges Ergebnis zu erzeugen. Dieses „Anlernen“ ist nicht nur KI-Profis vorbehalten. Mit ein wenig Übung sind auch Lehrkräfte in der Lage, entsprechende Prompts zu erzeugen und so die Potenziale der LLMs nach ihren spezifischen Bedürfnissen zu nutzen.
»Statt sich durch das Angebot der Unternehmen am Markt vorgeben zu lassen, welche KI-Tools genutzt werden, sollten Anwendungsfälle ermittelt und entsprechende Anforderungen formuliert werden – sprich eine Outcome-Orientierung die Richtung weisen.«
An diesem Vorgehen ist grundsätzlich nichts auszusetzen und die positiven Anwendungsfälle zeigen, dass sich dadurch durchaus ein Mehrwert ergibt. Dennoch bleiben die Wirkungsmöglichkeiten von KI bei diesem Ablauf relativ beschränkt – nämlich auf die Anwendungen, die von Unternehmen bereitgestellt werden und hinter denen ein entsprechend lukratives Geschäftsmodell steckt. Wäre es nicht geschickter, wenn aus dem Blick der Lernenden und Lehrenden Problemfelder formuliert werden, in denen KI-Modelle unterstützen können? Statt sich durch das Angebot der Unternehmen am Markt vorgeben zu lassen, welche KI-Tools genutzt werden, sollten Anwendungsfälle ermittelt und entsprechende Anforderungen formuliert werden – sprich eine Outcome-Orientierung die Richtung weisen. Auf dieser Basis können dann Unternehmen beauftragt werden, eine entsprechende KI-gestützte Software zu programmieren und die Anwendung datenschutzkonform bereitzustellen. Wenn man so „das Pferd von hinten aufzäumt“, agieren die schulischen Akteure aktiv und selbstbestimmt im Sinne der Lernenden und lassen sich nicht durch kommerziell orientierte Geschäftsmodelle fremdbestimmen.
Ein Beispiel aus der Schule
Ein leicht nachvollziehbares Beispiel lässt sich aus dem Mathematikunterricht ableiten. Immer wieder beobachten Mathematiklehrkräfte Schüler:innen, denen das Rechnen und mathematische Denken besonders schwerfallen. Eine mögliche Ursache dafür kann eine Rechenschwäche, die sogenannte Dyskalkulie, sein. Ähnlich wie bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche liegt es bei Kindern mit Dyskalkulie nicht am Fleiß oder der Intelligenz, dass sie sich mit dem Rechnen schwertun. Für den Lehrenden ist es im Unterricht mit 30 Lernenden jedoch ebenfalls nicht leicht, Indizien für eine Rechenschwäche zu erkennen.
An dieser Stelle kann Künstliche Intelligenz eine echte Hilfe sein. Es wäre möglich, ihr auf Basis von wissenschaftlich basierten Daten das Muster beizubringen, anhand dessen man eine Dyskalkulie erkennt. Wenn die Lernenden dann ein entsprechendes Muster aufweisen, kann eine KI-Anwendung der Lehrperson einen entsprechenden Hinweis geben. Diese kann dann das Kind genauer beobachten und bei Bedarf entsprechend diagnostizieren und in einen empathischen und zugewandten Kommunikationsprozess mit allen Beteiligten gehen. So kann ein echter Mehrwert in der schulischen Bildung geschaffen werden.
KI kann uns helfen, die Schule der Zukunft zu entwickeln
Ein weiteres Potenzial von KI liegt im Bereich der Lehrpläne. Wenn es gelingt, diese maschinenlesbar zu gestalten und mit einem semantischen Modell zu versehen, ergeben sich verschiedene Nutzungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu einem LLM, welches keinerlei inhaltliches Verständnis des erzeugten Textes hat, erzeugt das semantische Modell eine inhaltliche Deutungsebene. Dadurch erhöht sich die Qualität der Ergebnisse eines LLM deutlich. Insbesondere bei Querschnittsthemen wie Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Medienbildung, aber auch im Kontext von Projektunterricht steckt hier ein erhebliches Potenzial.
Ein mögliches Anwendungsszenario ist das lehrplanorientierte Entwickeln von fächerübergreifenden Projekten. Da Lehrkräfte in der Regel nur für zwei oder drei Fächer ausgebildet sind, ist das lernzielorientierte Planen von fachübergreifenden Projekten eine Herausforderung. Ein Projekt zum Thema „Überleben im Wald“ ist für eine Biologie-Lehrkraft in Bezug auf den Lehrplan Biologie zwar schnell überschaubar (unter anderem Lehrplaneinheit „Ökosystem Wald“), inwiefern aber auch Lernziele aus den Fächern Chemie (zum Beispiel Wasseraufbereitung durch Filtern oder chemisch) oder Physik (etwa Flaschenzug und Hebelgesetze beim Bau eines Shelters) relevant sind, ist nur nach zeitintensiver Recherche, Einlesen in mehrere fachfremde Lehrpläne und einem qualitätssichernden Austausch mit Fachkolleg:innen möglich. Mithilfe eines mit einem semantischen Modell versehenen Lehrplans in Kombination mit einem LLM ist es sehr schnell möglich, Lernziele und zu schulende Kompetenzen aller tangierten Fächer für das Projekt zu ermitteln. Denkbar wäre auch, durch ein LLM das Projekt so anzupassen, dass ein spezifisches Lernziel erreicht wird.
Solch eine semantikbasierte Unterstützung kann für alle Lehrenden einen Mehrwert bieten. Vor allem angehende und frisch ausgebildete Lehrkräfte sowie Seiten- und Quereinsteiger:innen können davon profitieren. Die nachgeordneten Anwendungsfälle sind zahlreich und beschränken sich nicht nur auf das beschriebene Beispiel. Daher wird bereits an einzelnen Bausteinen zur Umsetzung eines solchen Vorhabens gearbeitet, zum Beispiel im Rahmen von länderübergreifenden Vorhaben des DigitalPakts Schule des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
»Solch eine semantikbasierte Unterstützung kann für alle Lehrenden einen Mehrwert bieten. Vor allem angehende und frisch ausgebildete Lehrkräfte sowie Seiten- und Quereinsteiger:innen können davon profitieren.«
In Anbetracht der Tatsache, dass projektartiger Unterricht, verbunden mit dem Auflösen von tradierten zeitlichen (45-Minuten-Takt) und räumlichen (Lernen im Klassenzimmer) Strukturen, ein zentrales Element einer zukunftsfähigen Schule ist, wird dieser mit Blick auf die zukünftigen Anforderungen an das System Schule an Bedeutung gewinnen. Lehrpläne, die mit einem semantischen Modell versehen wurden, können Lehrkräfte bei der Umsetzung und Ausgestaltung solcher Unterrichtsformate maßgeblich unterstützen und somit ein kleiner Baustein auf dem Weg der Transformation sein.
Gemeinsam Anwendungsfälle identifizieren
Das Formulieren von Outcome-orientierten KI-Anwendungfällen aus Sicht der Lernenden und Lehrenden kann in der Regel nicht von einer einzigen Person übernommen werden. Stattdessen sollten kleine Teams aus Personen in unterschiedlichen Funktionen zusammenkommen. Neben Lehrkräften und schulischen Expert:innen müssen einem solchen Team auch KI-Expert:innen angehören, welche die technische Umsetzbarkeit bewerten können. Solche Teams sollten unter der professionellen methodischen Anleitung eines:einer Business-Moderator:in kreativ werden und sinnvolle Anwendungsszenarien entwickeln. Größere Veranstaltungsformate wie Barcamps oder Hackathons können ebenfalls Interessierte aus allen Bereichen zusammenbringen, um gemeinsam Ideen zu entwickeln.
Der Hype um ChatGPT hat das Thema Künstliche Intelligenz in den Fokus der Gesellschaft gerückt. Leider beschränken sich aktuell die Nutzungsszenarien im schulischen Kontext weitgehend auf generative KI-Modelle, insbesondere LLMs, die nur einen winzig kleinen Bereich abdecken. Um die echten Potenziale von KI im Kontext Schule zu heben, ist es notwendig, unter Einbezug relevanter Stakeholder Anwendungsfälle zu formulieren und dabei rückwärts zu denken: Ausgehend von der gewünschten Wirkung wird ein Anforderungskatalog an ein Produkt formuliert. Dadurch wird konsequent der Nutzen für Lernende und Lehrende fokussiert und zugleich der Lösungsraum für Unternehmen geöffnet. Nur so ist es möglich, die echten Potenziale von KI im Kontext Schule zu heben.