Impuls
Demokratie lernen: Vier Initiativen für Demokratiebildung im Porträt
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veröffentlicht am 26.05.2021
Lesezeit: 5 Minuten
Streitkultur, Nachrichtenkompetenz, Beteiligung im digitalen Raum – in der digitalisierten Demokratie gibt es vieles zu lernen. Immer mehr Initiativen entstehen, die Schüler:innen helfen wollen, sich kritisch und kompetent im digitalen Raum zu bewegen. Sie wollen nicht nur die Schulen demokratischer gestalten, sondern Kinder und Jugendliche darüber hinaus mit demokratischen Prozessen vertraut machen. Wir stellen vier solcher Initiativen vor.
Lie Detectors: Fake News und Desinformation entlarven
Als Journalistin für die deutsche Ausgabe des „Wall Street Journal“ interviewte Juliane von Reppert-Bismarck im Jahr 2016, kurz vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, Schüler:innen in Niedersachsen zum Thema Ausländerhass. Ein Mädchen erklärte ihr, ihre Klassenkamerad:innen würden Trump wählen, wenn sie dürften. Als Entscheidungsgrundlage erwies sich ein Instagram-Post, in dem Hillary Clinton beschuldigt wurde, CIA-Agenten für sich morden zu lassen. Von Reppert-Bismarck kam ins Nachdenken. Wenn Instagram, Tiktok, Youtube oder Twitch heute die Nachrichtenkanäle der Schüler:innen sind, muss ihnen jemand erklären, dass die Informationen, die sie dort finden, nicht immer stimmen, oftmals sogar Desinformationen sind.
Daraufhin gründete sie 2018 die Lie Detectors, eine Organisation für Nachrichtenkompetenz, bei der professionelle Journalist:innen in Schulklassen gehen, um über Fake News aufzuklären. Das Projekt läuft mittlerweile in Deutschland, Österreich und Belgien. Weitere Länder sind in Planung. Partner ist das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit. Finanziert wird Lie Detectors ausschließlich von einer US-amerikanischen Charity-Stiftung (WYSS). Sponsoring von Regierungen oder Unternehmen lehnt die Organisation ab. In den Workshops zeigen die mittlerweile 600 Journalist:innen, die sich bei Lie Detectors engagieren, den Schulklassen, wie und warum Fake News funktionieren, wie sie Desinformationen erkennen können und wie seriöse Journalist:innen arbeiten – nach bestem Wissen und Gewissen, aber auch nicht immer fehlerfrei.
„Auf der ganzen Welt bringt man Kindern bei, keine Süßigkeiten von Fremden anzunehmen“, schreiben die Lie Detectors auf ihrer Webseite. In der Informationsflut sollten sie nun auch lernen, in Sachen Nachrichten nicht alles zu „schlucken“, was man ihnen vorsetzt. Über 1.000 Klassen haben die Lie Detectors bis jetzt besucht.
#netzrevolte: Mit den Schattenseiten des sozialen Medien umgehen
Kinder und Jugendliche wachsen ganz selbstverständlich mit sozialen Medien auf. Aber nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit lernen sie, auch mit den Schattenseiten umzugehen, mit Cybermobbing, Falschbehauptungen oder Gewalt im Netz. Gleichzeitig bieten soziale Medien viele Möglichkeiten, sich gesellschaftlich und politisch zu beteiligen. Aber wie? Auch das lernen Kinder und Jugendliche nicht selbstverständlich.
#netzrevolte ist ein Schulprojekt der Stiftung Lernen durch Engagement (LdE), das beides zum Ziel hat: Eingebettet in den Unterricht und eng verbunden mit den Lehrplänen erhalten die Schüler:innen der beteiligten Schulen sowohl Digital- als auch Demokratie – bildung. Sie setzen sich mit Hate Speech, Fake News und Diskriminierung auseinander und starten eigene Projekte in verschiedenen Schulfächern, bei denen sie demokratische Mitgestaltung erlebbar machen. Eine Klasse veranstaltete zum Beispiel einen „No Hate Slam“ in ihrem Stadtteil. Schüler:innen lasen dabei abwertende Netzkommentare vor – inklusive gut argumentierter oder lustiger Retourkutschen. Eine andere Klasse entwickelte ein interaktives Wahr-oder-falsch-Spiel zum Thema Fake News und teilte es mit den Jugendeinrichtungen in ihrer Stadt. Das Lernkonzept „Service-Learning – Lernen durch Engagement“ kommt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Dabei wird gesellschaftliches Engagement mit fachlichem Lernen verknüpft. Für das Demokratiekompetenz-Projekt #netzrevolte erhalten die Lehrkräfte fachlich fundiertes Lehrmaterial, Beratung und Fortbildung.
#vrschwrng: Mit einem interaktiven Tool gegen Verschwörungstheorien kämpfen
Wenn Menschen sich in Verschwörungstheorien verabschieden und für faktenbasierte Argumente nicht mehr zugänglich sind, ist das für die Demokratie ein Problem. Teilöffentlichkeiten spalten die Gesellschaft. Darauf setzen populistische und extremistische Bewegungen gezielt und sie benutzen dafür hauptsächlich Social-Media-Kanäle.
An diesem Punkt setzt #vrschwrng an, ein „interaktives Toolkit gegen Verschwörungstheorien“, wie es in der Eigenbeschreibung heißt, mit dem die Berghof Foundation Multiplikator:innen helfen will, Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren für dieses Thema zu sensibilisieren. Das Toolkit besteht aus mehreren Modulen zu unterschiedlichen Aspekten von Verschwörungstheorien. Behandelt werden unter anderem typische Narrative und Einstellungsmuster, Kompetenzen für das Erkennen von Verschwörungstheorien, Funktionsweisen der Verbreitungskanäle (vor allem Social Media), Konflikteskalation und Reflexion darüber, welche Folgen Verschwörungstheorien für Gesellschaft, Demokratie und letztlich die eigene Lebensgestaltung haben. Das Besondere: Die Module entwickeln nicht Sozial – pädagog:innen oder Medienwissenschaftler:innen, sondern Teams junger Erwachsener zwischen 17 und 24 Jahren selbst, direkt aus ihrer Lebenswelt. 2021 befindet sich das Modellprojekt in Baden-Württemberg in der Pilotphase. Ab 2022 können dann auch Schulen und außerschulische Einrichtungen aus anderen Bundesländern #vrschwrng-Workshops buchen.
AULA: Schule mit einem digitalen Debattierforum mitgestalten
Demokratie will gelernt sein – und ist mitunter mühsam: Wer sich an demokratischen Prozessen beteiligen und Veränderungen anstoßen möchte, muss Vorschläge ausarbeiten, Mitmenschen überzeugen, Kompromisse finden und Mehrheiten generieren. Ist der demokratische Abstimmungsprozess aber gelungen, erlebt man als Belohnung ein ganz besonderes Gefühl von Selbstwirksamkeit – ob in der Vereinsarbeit, der Gemeindepolitik oder auf überregionaler Ebene.
Die Initiative aula, ein Projekt des Vereins politik-digital unter der Leitung von Marina Weisband (siehe auch das Interview auf S. 26), will Schüler:innen dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit möglichst früh vermitteln. Ziel ist es, Schüler:innen am Schulentwicklungsprozess direkt zu beteiligen – mithilfe von digitalen Mitteln. Das Wort „aula“ ist dabei ein Akronym und steht für „ausdiskutieren und live abstimmen“. Die Initiative stellt Schulen ein kostenloses digitales Debattierforum mit Abstimmungsfunktion zur Verfügung, das vom Verein Liquid Democracy entwickelt wurde. Die Software strukturiert Vorschläge und hält Entscheidungen fest. Die Hauptprozesse der demokratischen Ideenentwicklung und Diskussion finden aber real an der Schule statt. Im Austausch miteinander entwickeln Schüler:innen Vorschläge zur Veränderung der Hausordnung, für neue Veranstaltungen oder zur Verbesserung des Unterrichts. Das digitale Tool hilft ihnen anschließend bei der Kommunikation, Abstimmung und Protokollierung der Vorschläge. Die Schulkonferenz verpflichtet sich im Vorfeld dazu, die Ideen der Jugendlichen mitzutragen, solange sie einen bestimmten Rahmen nicht verlassen. So müssen die Jugendlichen bei kostspieligen Ideen auch für die nötige Finanzierung sorgen.
Hauptziel des Projektes ist es, einen didaktischen Rahmen zu schaffen, in dem Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu schließen – in einem schulischen Kontext. Dazu erhalten Schulen auch didaktisches Material, um gezielt Kompetenzen wie Kommunikation, Zusammenarbeit, Kreativität oder Kritisches Denken zu stärken. All dies sind Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche auch später benötigen, um in einer Demokratie wirksam zu werden. Je früher sie damit anfangen, umso besser.