Gastbeitrag

Digitale Schule zwischen Unterrichtsabsicherung und neuer Lernkultur

von Jöran Muuß-Merholz
veröffentlicht am 07.05.2020
Lesezeit: 8 Minuten

Es gibt zwei Themen im Bereich Schule, die laut diskutiert, aber in der Praxis nur zögerlich angegangen wurden: eine neue Lernkultur und digitale Medien. Durch die Coronakrise ändert sich schlagartig mehr, als vorher auch nur denkbar gewesen wäre. Entsteht tatsächlich eine neue Lernkultur?

Schule befindet sich im Frühjahr 2020, wo so vieles still steht, in größter Bewegung: „Ein System wankt“, schrieb Die ZEIT. Die Schule wurde „ver-rückt“, erklärte Michael Schratz. Die Corona-Ausnahmesituation hat dafür gesorgt, dass Schule und Unterricht so grundsätzlich anders gemacht werden, wie man es vorher nicht einmal denken konnte.

Neben vielen gemischten Alltagserfahrungen wird auch darüber diskutiert, wie Schule sich durch die Krise langfristig ändern könnte. Die ZEIT fragt: „Wofür muss ein Schüler noch in die Schule kommen?“ Für Michael Schratz könnte „die temporäre Außerkraftsetzung schulischer Routinen eine Jahrhundertchance sein“.

Damit stellt sich eine bekannte Frage mit neuer Schärfe: Inwieweit trägt der digitale Wandel zu einer Veränderung von Schule im Sinne einer neuen Lernkultur bei? Im Folgenden wird zunächst argumentiert, dass dieser Wandel nicht von oben kommt. Im Anschluss daran geht es um die Unterrichtspraxis und das SAMR-Modell. Dieses ist zwar verbreitet und eingängig – aber hinsichtlich einer neuen Lernkultur eher Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Screenshot: Jöran Muuß-Merholz / CC0 1.0

Eine Videokonferenz, bei der alle Teilnehmenden je eine farbige Haftnotiz auf die Webcam geklebt haben.

Der DigitalPakt als Verwaltungsvereinbarung

Wenn im Folgenden von einer neuen Lernkultur die Rede sein wird, dann ist damit nicht das gemeint, was zuletzt laut diskutiert und beschlossen wurde, namentlich der DigitalPakt, der Anfang Mai 2019 unterschrieben wurde. Er heißt tatsächlich offiziell „Verwaltungsvereinbarung DigitalPakt Schule 2019 bis 2024“. Darin wurden zusätzliche Gelder für die digitale Infrastruktur vereinbart. Von einem grundlegenden Wandel der Lernkultur ist nicht die Rede. Vielmehr sollen „die bestehenden Entwicklungen an den Schulen entscheidend unterstützt werden“. Nach Revolution klingt das nicht. Und tatsächlich sind auf Ebene von Administration und Unterricht starke Beharrungskräfte zu beobachten.

Angeschafft wird beim DigitalPakt, was am einfachsten angeschafft werden kann.

Die Ebene der Administration: Infrastruktur ist nicht sexy, aber wichtig. Hier geht es um das Fundament. Allerdings lässt sich beobachten, dass an vielen Orten die Gelder des DigitalPakts nicht entlang der sinnvollsten Entscheidungen investiert werden, sondern schlicht anhand der Frage, was im Rahmen der Verwaltung am einfachsten zu kaufen ist. Das sind nicht neue Konzepte und deren Einübung – das würde vor allem (Arbeits-)Zeit kosten. Das sind nicht ausreichende Personalstellen für Administration und Support – das bräuchte nicht nur einmalige Investitionen. Das sind nicht Fortbildungs- und Beratungsangebote für die Pädagoginnen und Pädagogen – auch das würde Arbeitszeit und neue Konzepte verlangen. Nein, am einfachsten lässt sich Hardware anschaffen: mehr digitale Tafeln, mehr Laptops, mehr Internetanbindung. Angeschafft wird beim DigitalPakt, was am einfachsten angeschafft werden kann.

Digitalisiert wird im Unterricht das, was am einfachsten digitalisiert werden kann.

Die Ebene des Unterrichts: Als Modernisierung durch digitale Medien werden vor allem zwei Bereiche hervorgehoben: 1. Inputs mit Veranschaulichung sowie 2. Übung mit Feedback. Beim Input kann der frontale Vortrag durch digitale Videos ersetzt werden, in denen der Lerngegenstand mithilfe verschiedener Visualisierungen erklärt wird. Durch digitale Übungen können Verständnis und Routinen trainiert werden, wobei die Programme auch gleich Feedback geben und das Niveau anpassen können. Input und Übung, hier liegen derzeit die Stärken digitaler Medien. Allerdings sind das nicht unbedingt die Felder, auf denen der Reformbedarf am größten wäre. Das Grundverständnis der traditionellen Lernkultur bleibt unangetastet. Digitalisiert wird im Unterricht das, was am einfachsten digitalisiert werden kann.

Unterrichtsabsicherung vs. neue Lernkultur

Auch in der Coronakrise wollte das BMBF „Entschlossenes Handeln in der Krise!“ zeigen. Die Pressemitteilung vom 26. März 2020 verspricht gleich im Untertitel: „Digitalpakt-Mittel sollen unkompliziert Unterrichtsabsicherung in Corona-Zeiten unterstützen“. Das Wort „Unterrichtsabsicherung“ ist ein Begriff, den man kaum besser erfinden könnte, wenn man das Gegenteil vom (eingangs zitierten) „wankenden System“ oder der „ver-rückten Schule“ ausdrücken möchte.

Die Digitalisierung in der Schule ist also keineswegs mit einem Wandel der Lernkultur verbunden. Hinter der Digitalisierungseuphorie steckt vielerorts ein stiller Konsens. Er lautet in etwa so: „Wir modernisieren die Schule nur an der Oberfläche. Wir optimieren mit digitalen Mitteln unsere traditionelle Lernkultur. Wir gießen den alten Wein in Hightech-Schläuche. Die Grundannahmen unserer Schule tasten wir nicht an.“ Für diejenigen, die einen grundlegenden Wandel der Lernkultur für notwendig halten, klingt das nach: „Wir optimieren mit den Technologien des 21. Jahrhunderts die Lernkultur des 19. und 20. Jahrhunderts.“

Wie eine neue Lernkultur tatsächlich aussehen kann, zeigen zahlreiche Beispiele, wie sie zum Beispiel beim Deutschen Schulportal dokumentiert werden. Diese Schulen haben neue Pädagogiken entwickelt, die sich begrifflich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Im Folgenden bleibt der Begriff „neue Lernkultur“ daher bewusst diffus. Ein gemeinsamer Nenner dieser neuen Lernkultur besteht darin, dass sie weit über Input und Übung hinaus denkt und den Lernenden eine aktive und selbstbestimmte Rolle zumuten. In der neuen Lernkultur geht es um Selbststeuerung und Freiarbeit, Arbeiten in Projekten und an Problemen der echten Welt, oft  in Zusammenarbeit mit Anderen und orientiert an kreativen Produkten. Eher die Ausnahme als die Regel ist in den meisten Beispielen, dass digitale Medien zum Einsatz kommen.

Schrittweise in die neue Lernkultur?

Wenn eine neue Lernkultur gemeinsam mit dem digitalen Wandel also nicht top-down etabliert werden wird, so muss sie von unten kommen. Und gerade durch die „Sturzgeburt des digitalen Unterrichts“ in der Coronakrise (Die ZEIT) gibt es neue Hoffnung, dass eine sich ändernde Lernkultur aus der Unterrichtspraxis kommen kann. Michael Schratz schrieb: „Das Coronavirus könnte zur wirksamsten Fortbildungsmaßnahme des Jahrhunderts werden.“

Viele Schulpraktiker:innen machen nun zwar notgedrungen ihre ersten Schritte ins neue Medium. Wer in diesem Zusammenhang nachfragt, ob damit denn auch eine neue Lernkultur verbunden ist, bekommt häufig entgegnet: Man könne die Kolleg:innen nicht mit zu großen Sprüngen überfordern. Vielmehr müsse man Schritt für Schritt vorgehen und für einen größeren Wandel eher eine mittel- bis langfristige Perspektive  einnehmen. Zur Unterfütterung dieser Position wird gerne das SAMR-Modell von Puentedura herangezogen. „SAMR“ setzt sich aus den ersten Buchstaben von vier unterschiedlichen Nutzungsarten von neuen Medien zusammen:

  1. Substitution (Ersetzung): Medien kommen als Werkzeug zum Einsatz, wobei das eine Medium durch das andere einfach ausgetauscht wird.
  2. Augmentation (Erweiterung): Medien im Werkzeug-Sinne werden ausgetauscht, wobei zusätzliche Möglichkeiten entstehen.
  3. Modification (Veränderung): Neue Medien ermöglichen eine veränderte Gestaltung von Aufgaben.
  4. Redefinition (Neudefinition): Durch die neuen Medien werden Aufgaben ermöglicht, die vorher unvorstellbar waren.

Das Modell wird gerne als Abfolge von stufenartigen Schritten interpretiert, wobei die grafische Darstellung in Form eines Wasserbeckens beliebt ist, bei der man stufenweise in immer größere Tiefen vorstößt. In der angewandten Debatte wird häufig argumentiert, dass man Schritt für Schritt voranschreiten und zunächst in einem Nichtschwimmerbecken üben müsse, aber nicht einen großen Sprung ins unbekannte Tiefe machen könne.

»Wenn eine neue Lernkultur gemeinsam mit dem digitalen Wandel also nicht top-down etabliert werden wird, so muss sie von unten kommen.«

Jöran Muuß-Merholz

Die Denkfehler von SAMR

Das SAMR-Modell wirkt plausibel und unterstützt die intuitive Wahrnehmung. Es baut aber auf Grundannahmen auf, die selten diskutiert werden und unter Umständen fatale Folgen haben.

  1. Das erste Problem: Mit SAMR kann man Vergangenheiten und Gegenwarten analysieren, aber keine Zukunft planen. Die SAMR-Logik setzt unausgesprochen voraus, dass ein Abschreiten der einzelnen Stufen schon in die richtige Richtung führen würde. Dabei ist aber gar nicht klar, was die Richtung dieser Treppe sein soll. In welchem Sinne sollen Veränderungen oder gar Neudefinitionen stattfinden?
  2. Das zweite Problem: SAMR suggeriert, dass man stufenweise vorgehen müsse, Schritt für Schritt. Aber möglicherweise braucht es große Sprünge statt kleiner Schritte. Der SAMR-Weg über die aufeinander aufbauenden Stufen sieht einfach und geradlinig aus. Aber in der Praxis nimmt eine gewünschte Entwicklung nicht einen solchen lehrbuchmäßigen Verlauf.

SAMR kann helfen, unterschiedliche Nutzungsarten zu beschreiben. Aber bei der Schulentwicklung oder in gesellschaftliche Debatten kann es dazu beitragen, dass 1. notwendig Klärungsprozesse zu Zielsetzungen ausbleiben und 2. eine tatsächliche Veränderung nur langsam oder gar nicht stattfindet. SAMR hilft nur bedingt, weil es eine neue Lernkultur als entfernten, kaum erreichbaren Status suggeriert.

Große Sprünge statt kleine Schritte

Wie können Beispiele einer neuen Lernkultur unter Einbezug neuer Medien aussehen? Gehen wir davon aus, dass dafür weder die Institution Schule noch das formgebende Konstrukt Unterricht in Frage gestellt werden. Selbst wenn diese Grundlagen bestehen bleiben, lassen sich Beispiele für größere Sprünge denken. Die folgende Tabelle zeigt Beispiele aus einem Schulunterricht, in dem neue Medien eingesetzt werden. Die linke Spalte zeigt typische Beispiele für den Einsatz digitaler Medien in einer traditionell geprägten Lernkultur. In der rechten Spalte sind Beispiele gegenübergestellt, wie Unterricht mit neuen Medien auch denkbar ist. (Er ist übrigens nicht nur „denkbar“ im hypothetischen Sinne, sondern auch praktisch erprobt, also „machbar“.*)

Zugespitzt und vereinfacht kann man von „neuen Medien in der alten Lernkultur“ (linke Spalte) und „neuen Medien in der neuen Lernkultur“ (rechte Spalte) sprechen.

* Alle Beispiele in der rechten Spalte stammen aus dem Buch „Digitale Schule – Was heute schon im Unterricht geht“ und wurden bereits 2015 im Unterricht dokumentiert. Eine Ausnahme bildet das letzte Beispiel. Es stammt aus dem Projekt „Schulen im Weltraum“, vorgestellt im Podcast „Jöran ruft an“, Episode 097 mit Jochen Leeder (2019), abrufbar unter https://www.joeran.de/jra097-schule-im-weltraum/.

Jöran Muuß-Merholz

Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge und betreibt mit einem kleinen Team die Agentur „J&K – Jöran und Konsorten“. Er arbeitet an den Schnittstellen zwischen Bildung & Lernen und Medien & Kommunikation. Neben beratenden und konzeptionellen Arbeiten der Agentur schreibt Jöran Muuß-Merholz für Fach- und Massenmedien, print und online. Jöran Muuß-Merholz hält Vorträge und gibt Workshops v. a. im deutschsprachigen Raum, aber zum Beispiel auch in Boston und Brno, Cape Town und London, Stockholm und Tokio.

http://www.joeran.de/