Gastbeitrag
Digitaler MINT-Unterricht? Erfolgreich mit einer neuen Lern- und Prüfungskultur!
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veröffentlicht am 22.09.2022
Lesezeit: 10 Minuten
Im digitalen Zeitalter gehören die MINT-Fächer zu den Vorreitern der zeitgemäßen Unterrichtsgestaltung. Durch die Verknüpfung des Potenzials digitaler Medien mit individuellen, forschenden, kreativen und projektorientierten Arbeitsaufträgen kann der MINT-Unterricht emotional anregender, wirkungsvoller, kompetenzorientierter und personalisierter gestaltet werden. Die Digitalisierung des Unterrichts wird allerdings nur dann erfolgreich sein, wenn mit einer Veränderung der Lernkultur auch ein Wandel der Prüfungskultur verbunden ist.
Im folgenden Beitrag werden Erfahrungen und Herausforderungen zur neuen Lern-, Diagnose- und Prüfungskultur im MINT-Unterricht anhand von Leitperspektiven und Beispielen aus der Schulpraxis in sieben Kapiteln vorgestellt. Zur Verknüpfung mit der Schulpraxis stehen im Artikel zwei Videos mit jeweils zehn Unterrichtsbeispielen zur Anwendung von einzelnen MINT-Apps und der projektorientierten Lernkultur zur Verfügung.
Leitperspektive: Wirkungsvoller MINT-Unterricht mit digitalen Medien
Im Rahmen einer Metastudie der Technischen Universität München (Hillmayr 2017) wurde gezeigt, dass digitale Medien im MINT-Unterricht bei Schüler:innen zu einer höheren Motivation und zu besseren Schulleistungen führen. Die positive Wirkung hängt stark davon ab, wie digitale Medien und mobile Endgeräte in den alltäglichen Unterricht integriert werden. Zu beachten sind folgende vier Anforderungen:
- Zeitlich begrenzter Einsatz (z. B. max. 50 Prozent der Unterrichtszeit in 1:1-Tablet-Klassen)
- Einsatz von digitalen Medien ergänzend zu analogen Methoden und Materialien
- Kombination des Medieneinsatzes mit kollaborativen und kooperativen Lernformen
- Digitaler Unterricht durch professionell geschulte Lehrkräfte
Am Friedrich-Gymnasium Freiburg wurden die vier Anforderungen im Jahr 2017 zu didaktischen Leitlinien für den wirkungsvollen Unterricht in Tablet-Klassen umgesetzt. Im März 2020 erfolgte eine Erweiterung der „vier Gebote“ für den Fernunterricht per Videokonferenz. Die Orientierung an wissenschaftlich fundierten Empfehlungen für den Unterricht mit digitalen Medien überzeugte bei uns auch viele Eltern, die der Digitalisierung teilweise bis heute skeptisch gegenüberstehen.
Unterrichtspraxis: Anwendung von einzelnen MINT-Apps und Sensoren
Für viele MINT-Kolleg:innen ist es eine Herausforderung, die Wissensaneignung im klassischen Unterrichtsgeschehen mit dem didaktisch geschickten Einsatz von digitalen Medien zu verknüpfen. Digitale und analoge Methoden sollten sich dabei nicht gegenseitig ausschließen, sondern in Form von fließenden Übergängen sinnvoll ergänzen. Lehrkräfte benötigen hierfür Sicherheit im Umgang mit den Endgeräten sowie ein großes Repertoire an kreativen Ideen für den zeitlich begrenzten Einsatz von Apps, Sensoren und digitalen Anwendungen im täglichen Unterricht.
Vor allem in den MINT-Fächern kann das große Potenzial der mobilen Endgeräte als universelle Messinstrumente voll ausgeschöpft werden. Zahlreiche fest eingebaute Sensoren ermöglichen unzählige Experimente – nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch im Alltag der Schüler:innen und zu Hause. Da nicht alle naturwissenschaftlichen Messgrößen über internen Sensoren zugänglich sind (wie z. B. Spannung, CO2, pH-Wert) sollten diese durch externe Tablet-Sensoren im Schülersatz (16 Stück für Partnerarbeit) ergänzt werden.
Am Friedrich-Gymnasium Freiburg haben sich alle MINT-Fächer für das Messwerterfassungssystem einer Firma entschieden und zahlreiche Sensor-Sätze für Schüler:innenexperimente in Tablet-Klassen angeschafft. Die externen Sensoren sind zentral gelagert und können von allen Fachschaften genutzt werden.
Erst mit den grundlegenden Erfahrungen zum Einsatz von einzelnen Apps und der Kenntnis über die Vielfalt von Sensor-Anwendungen kann es im nächsten Schritt darum gehen die Lernkultur im MINT-Unterricht z. B. durch mehrwöchige Projektarbeiten dauerhaft zu verändern (siehe übernächster Abschnitt).
Leitperspektive: Kompetenzorientierter digitaler MINT-Unterricht
Der technologische Wandel im Klassenzimmer wird im MINT-Unterricht häufig erst einmal dazu genutzt, um bekannte Unterrichtstätigkeiten zu digitalisieren: Statt Schulbuch ebook, statt Hefteintrag Tablet-Notiz, statt Lehrervortrag Erklärvideo und statt Übungsheft Lernplattform. Es handelt sich bei diesen Beispielen um ein digitales Konservieren der etablierten traditionellen Lehr- und Lernkultur. Zeitgemäßer digitaler MINT-Unterricht muss heute jedoch viel mehr bedeuten, als nur die neuen Möglichkeiten über bekannte traditionelle Lehr- und Lernkonzepte zu stülpen.
Das Potenzial des Einsatzes von mobilen Endgeräten im Klassenzimmer liegt weniger in der Reproduktion von Wissen mit „drill and practice“, sondern viel mehr in der Förderung des selbständigen Wissensaufbaus durch offen angelegte Lehr- und Lernprozesse. Die damit zu verknüpfenden 21st Century Skills wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken (Schnack 2021) lassen sich im späteren Arbeitsleben durch künstliche Intelligenz kaum ersetzen.
Community Call zu Prüfungsformaten am 12. Oktober 2022
Das Thema Prüfungsformate steht auch auf der Agenda im Community Call am 12. Oktober 2022, 16:00 Uhr. Wie gelingt es, zukunftsfähige Prüfungsformate zu entwickeln, die Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken und Kommunikation mit einbeziehen und gleichsam Reflexionsleistungen und Lernstrategien berücksichtigen? Welche Formate eignen sich besonders gut für die Leistungsbeurteilung? Und wie können sie erfolgreich in der Unterrichtspraxis implementiert werden? Darüber diskutieren spannende Gäste und geben Impulse für geeignete Formate – mit dabei ist auch der Autor dieses Gastbeitrags, Dr. Patrick Bronner.
Unterrichtspraxis: Projektorientierte Lernkultur
Ein möglicher Zugang zu einem schüler:innenzentrierten sowie konstruktivistischen Lernverständnis ist die Verknüpfung von digitalen Medien mit offenen, forschenden und projektartigen Arbeitsaufträgen.
Mit einer offen formulierten Aufgabenstellung z. B. im Rahmen einer Projektarbeit werden die Schüler:innen zu Produzent:innen ihres eigenen Wissens. Digitale Medien können hierbei durch den schnellen Zugang zu Informationen, die einfache Erstellung von multimedialen Produkten und dem Zugang zu beliebigen Messgrößen über externe Sensoren zahlreiche Lernprozesse fördern. Im Rahmen der Projektmethode erleben die Lernenden einen hohen Grad an Handlungsorientierung, Selbstwirksamkeit, sozialer Eingebundenheit und Autonomie. Die Verbindung von digitalen Medien mit offenen und forschenden Aufgaben leistet gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur (Selbst-)Differenzierung und fördert prozessbezogene Kompetenzen.
Das Allheilmittel für guten Unterricht ist das Projektlernen allerdings auch nicht. Schule braucht beides: Auf der einen Seite die Wissensaneignung mit dem didaktisch geschickten Einsatz von digitalen Medien im Klassenverband und auf der anderen Seite offene und forschende Aufgabenformate zum eigenständigen Erarbeiten z. B. von digitalen Lernprodukten. Das richtige Verhältnis aus Tradition und Innovation muss dabei ständig ausgelotet werden: Die Mischung macht es.
Leitperspektive: Personalisierter digitaler MINT-Unterricht
Neben der Kompetenzorientierung sollte auch die Individualisierung, Binnendifferenzierung und Eigenständigkeit beim Lernen mit digitalen Medien berücksichtigt und gefördert werden. In der Handreichung der Robert Bosch Stiftung „Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien“ (Holmes 2018) werden sieben Dimensionen beschrieben, die bei der Personalisierung im Unterricht berücksichtigt werden können. Zur Visualisierung und für das bessere Verständnis können diese Dimensionen mit Schieberegler (Haverkamp 2020) verknüpft werden. Der „Lehrer als DJ im Lernprozess“ ist eine gute Metapher, um die Einstellungen der Schieberegler zu der Personalisierung des Lernens mit digitalen Medien im Unterricht immer wieder zu variieren. Statt jeden Tag die gleiche Platte aufzulegen, müssen sich Lehrer:innen flexibel auf ihr Publikum einstellen und je nach Unterrichtssituation die Schieberegler wie Lernkontext, Sozialform, Lerntempo, Lernpfad, Lernziel, Lerninhalt sowie Lernansatz immer wieder neu justieren. Garanten für gute „Mischpulteinstellungen“ sind dabei Methoden zur Schüler:innenaktivierung und die Projektarbeit.
Ein weiterer Baustein für das personalisierte Lernen sind adaptive Lernplattformen, die jedem Lernenden auf Basis einer täglichen Lerndiagnose mithilfe von Künstlicher Intelligenz individuell abgestimmte Fördermaterialien zur Verfügung stellen. Im Gegensatz zu Ländern wie den USA sind wir in Deutschland von solch KI-basierten adaptiven Lernsystemen im täglichen MINT-Unterricht noch weit entfernt. Trotzdem können auch bei uns erste algorithmische Ansätze wie die Aufdeckung von Wissenslücken und die Bereitstellung von spezifischen Übungsmaterial in der Lernplattform bettermarks bereits jetzt schon sinnvoll im Fach Mathematik eingesetzt werden.
Unterricht: Drei Zugänge zur neuen Prüfungskultur für den MINT-Unterricht
Der „heimliche Lehrplan“ ist bekanntlich das zu erfüllende Prüfungsformat. Vor diesem Hintergrund ist die Bedingung für das Gelingen der neuen Lernkultur im MINT-Unterricht, dass zunehmend auch offene, forschende und projektorientierte Aufgabenformate mit digitalen Medien Bestandteil der Leistungsbewertung werden. Im Unterricht am Friedrich-Gymnasium Freiburg gibt es derzeit drei Ansätze zur neuen Prüfungskultur:
- Klassenarbeiten in Tablet-Klassen: Diese bestehen aus traditionellem Paper-Pencil-Teil ohne Hilfsmittel und Aufgaben zur Lösung mit dem Tablet. Die digitalen Aufgabenteile sind in der Regel so angelegt, dass verschiedene Lösungswege möglich sind. Die Ergebnisse der digitalen Aufgaben werden von den Schüler:innen über die Classroom-App auf das Lehrer:innen-Tablet gesendet und zusätzlich zur Dokumentation sowie Bewertung auf dem Tablet-Drucker im Klassenzimmer ausgedruckt.
- Bewertung von Projektarbeiten: Bei einer Projektarbeit ist die Grundlage für eine transparente Notengebung ein Erwartungshorizont. Dieser gibt den Lernenden während der eigenständigen Erarbeitungsphase Orientierung und enthält objektive Bewertungskriterien. Der Erwartungshorizont wird oft von den Lehrkräften vorgegeben, aber auch immer mal wieder von den Schüler:innen am Anfang des Projekts in Gruppenarbeit selbst entworfen. Neben der kriteriengeleiteten Lehrer:innen-Bewertung des Lernprodukts wird bei Projektarbeiten auch die Bewertungskompetenz der Schüler:innen durch digitales Peer-Feedback gefördert.
- Lernprozessdiagnose im Unterricht: Adaptive Lernplattformen zur formellen Lernprozessdiagnose wie bettermarks erlauben eine effiziente Durchführung, eine automatisierte Diagnostik sowie eine übersichtliche Ergebnisrückmeldung ohne Notendruck. Mit den Ergebnissen können vor der eigentlichen Klassenarbeit Schüler:innen individuell beraten und problematische Aufgaben mit der gesamten Klasse im Lehrer:innen-Schüler:innen-Gespräch thematisiert werden. Zu beachten ist, dass es sich bei der Lösung von Aufgaben auf Lernplattformen meist um das Einüben und die automatisierte Abfrage von Reproduktionswissen handelt. Dabei kommt es oft auch nicht auf die formal richtige Darstellung und Begründung z. B. des Rechenweges, sondern meist nur auf die Nennung des einen richtigen Ergebnisses an.
MINT-Selbstlernkurs „Endlich! Mein Dienst-Tablet ist da – und jetzt?“
Weitere kompetenzorientierte Beispiele für den digitalen Mathematik- und Physikunterricht gibt es in der kostenlosen Lehrerfortbildung „Endlich! Mein Dienst-Tablet ist da – und jetzt?“ der Freiburger School of Education FACE sowie des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg (ZSL). Zum zeit- und ortsunabhängigen Lernen wurde die Fortbildung in Form eines Online-Selbstlernkurses konzipiert. Der Lehrgang ist offen für Lehrkräfte und Studierende aller Bundesländer. Weitere Informationen finden Sie hier.
Fazit: Digitale Schulentwicklung
Das langfristige Ziel ist, dass der kompetenzorientierte Einsatz von digitalen Medien nicht als Herausforderung gesehen wird, sondern zu einem selbstverständlichen Teil des zeitgemäßen MINT-Unterrichts wird.
Der Digitalisierungsschub, den das Bildungssystem in den letzten Jahren durch die Corona-Krise erhalten hat, darf im Schulalltag nicht wieder versanden. Die Digitalisierung des Unterrichts wird nur dann erfolgreich sein, wenn neben einer funktionierenden 1:1 Tablet-Ausstattung zum zeit- und ortsunabhängigen Lernen für alle Schüler:innen z. B. ab Klasse 8 auch ein Wandel der Lern- und Prüfungskultur angestrebt wird – weg von der Fokussierung auf Faktenwissen und hin zu einer Förderung von 21st Century Skills.
Dabei darf die schulische Bildung nicht für Zwecke der Berufs- und Arbeitswelt 4.0 instrumentalisiert werden. Auch im digitalen Zeitalter muss das Bildungsziel die umfassende Persönlichkeitsentwicklung der Schüler:innen zu selbstständigen, kritikfähigen, wertebewussten, verantwortungsvollen und medienmündigen jungen Menschen bleiben.
Der langjährige Weg zur digitalen Schule mit dem Ziel des wirkungsvollen, kompetenzorientierten und personalisierten Unterrichts mit Integration von neuen Lern- und Prüfungsformaten erfordert ein hohes Maß an Engagement jeder einzelnen Lehrkraft, viel Kommunikation mit der gesamten Schulgemeinschaft sowie eine große Bereitschaft zur Kooperation im Kollegium. Der Weg ist arbeitsintensiv und steinig – aber er lohnt sich!
Literatur
- Hillmayr, D.; Reinhold, F.; Ziernwald, L.; Reiss, K. (2017): Digitale Medien im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe. Einsatzmöglichkeiten, Umsetzung und Wirksamkeit. Münster: Waxmann.
- Holmes, W., Anastopoulou S., Schaumburg, H. & Mavrikis, M. (2018): Personalisiertes Lernen mit digitalen Medien. Ein roter Faden. Robert Bosch Stiftung, Stuttgart.
- Haverkamp, H. (2020): Verknüpfung der sieben Dimensionen mit Schiebereglern. Beitrag bei Twitter: https://bit.ly/2Oh2ZHn
- Schnack, J. (2021): Themenheft „4K – Skills für das 21. Jahrhundert?“ Zeitschrift PÄDAGOGIK, Beltz Verlag, Ausgabe 12/21.