Interview

Ekkehard Thümler: „Digitale Leseförderung muss wissenschaftlich fundiert sein”

von Anja Reiter
mit Ekkehard Thümler
veröffentlicht am 12.10.2023
Lesezeit: 9 Minuten

Jedes vierte Kind in Deutschland verlässt die Grundschule, ohne richtig lesen zu können. Der Innovationsforscher Ekkehard Thümler träumt von Schulen, in denen alle Kinder die Basiskompetenzen erwerben – mithilfe von digitalen Systemen. Deshalb hat er gemeinsam mit der Universität Hamburg eine digitale Tutoring-Plattform entwickelt, die Kindern spielerisch beim Lesenlernen hilft.

 

Ob die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) oder die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends: Aktuelle Studien zeigen, wie schlecht es um die Lesekompetenzen von deutschen Schüler:innen steht. Nur 60 Prozent der Viertklässler:innen erreichen laut der IQB-Erhebung die Regelstandards beim Lesen, jedes fünfte Kind verfehlt die Mindeststandards. Bei der IGLU-Erhebung liegt Deutschland bloß im internationalen Mittelfeld, weit abgeschlagen hinter Singapur, England oder Finnland. Besonders alarmierend: Im Vergleich zum Beginn der IGLU-Untersuchung im Jahr 2001 ist die Lesekompetenz in Deutschland um 15 Punkte gesunken.

Der Innovationsforscher Ekkehard Thümler will das nicht hinnehmen. Seit 20 Jahren konzentriert sich seine Arbeit auf die Frage, wie wirksame neue Lösungen für soziale Probleme entwickelt und verbreitet werden können, insbesondere im Bereich der Bildung. Nun hat er ein gemeinnütziges Bildungs-Startup gegründet, um die Lesekompetenz von deutschen Schüler:innen durch Tutoring zu fördern. Sein Schlüssel ist eine digitale Plattform – die Inspiration dafür fand er in England.

Foto: Gerrit Meier

Zur Person

Ekkehard Thümler ist Gründer und Geschäftsführer von Tutoring for All und Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg. Er war für die Joachim Herz Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Baden-Württemberg Stiftung sowie die Vodafone Stiftung Deutschland tätig. Für Teach First arbeitet er als Berater.

25 Prozent der Viertklässler:innen in Deutschland können laut der aktuellen IGLU-Untersuchung nicht richtig lesen. Schüler:innen in England oder Polen schneiden beim Leseverständnis viel besser ab. Warum steht es in Deutschland so schlecht um die Basiskompetenzen von Grundschüler:innen?

Viele Schulen in Deutschland haben sich noch nicht ausreichend auf die veränderte Schüler:innenschaft eingestellt. Unterricht wird so gestaltet, als ob wir noch die Schüler:innenschaft von vor 20 oder 30 Jahren hätten. Heute sind die Klassen aber viel diverser geworden, viele Kinder sprechen zu Hause kein Deutsch oder bekommen keine Unterstützung beim Lesenlernen. Schulen müssten unter diesen Gegebenheiten ganz andere Angebote machen: eine andere Unterrichtsgestaltung, ein anderes Förderangebot.

Sie haben sich vor einigen Jahren an einer Brennpunktschule in London umgeschaut, an der Lesen und Leseverständnis in einer ganz besonderen Form gefördert wird. Dieser Besuch hat Sie später zur Gründung Ihrer gemeinnützigen Organisation Tutoring for All inspiriert. Was hat Sie in London dermaßen beeindruckt?

Am meisten hat mich die Kompromisslosigkeit beeindruckt, mit der die Schulleitung und die Lehrkräfte an der Applegarth Academy, einer Grundschule im Süden Londons, gesagt haben: Bei uns müssen alle Kinder Erfolg haben! Wir holen alle Kinder dort ab, wo sie stehen – die starken wie die schwachen. Alle Kinder können lesen lernen, niemand geht hier raus, ohne über die Grundlagen für die weitere Bildungslaufbahn zu verfügen.

Diese Haltung würden wahrscheinlich auch die meisten Lehrkräfte in Deutschland unterschreiben. Warum ist England damit erfolgreicher?

An der Schule in London wird mit dem Programm „Success for All“ gearbeitet, das in den USA entwickelt wurde. In diesem Programm zur Förderung der Lesefähigkeit werden die Kinder regelmäßig getestet, um leistungshomogene Gruppen zu bilden – und so ein Lehrangebot schaffen zu können, das auf die jeweiligen Bedürfnisse der Gruppe zugeschnitten ist. Der Unterricht basiert außerdem auf einem stark vorgegebenen Curriculum: Die Lehrkräfte entscheiden nicht autonom über die Inhalte und Materialien, stattdessen ist jede einzelne Stunde stark durchstrukturiert. So wird sichergestellt, dass der Unterricht wissenschaftlich fundiert ist und auf abwechslungsreichen Methoden beruht. Außerdem nimmt man sich viel mehr Zeit zum Lesenlernen als in Deutschland: Jeder Schultag beginnt mit anderthalb Stunden Lesepraxis.

»Die Forschung zeigt, dass Förderung außerhalb des regulären Unterrichts einer der wirksamsten Ansätze ist – insbesondere bei Kindern aus den Risikogruppen, denen es an Basiskompetenzen fehlt.«

Ekkehard Thümler

Das Programm „Success for All“ wurde in den 1980er-Jahren an der Johns Hopkins University von Robert Slavin und Nancy Madden entwickelt. Insbesondere unter der Bush-Administration und dem „No Child Left Behind Act“ wurde es an tausenden Schulen in den USA angewandt – durchaus mit Erfolg. Immer wieder gibt es aber auch kritische Stimmen: Das Programm sei zu dogmatisch und autoritär, die minutengenaue Taktung schränke Lehrkräfte in ihrer Autonomie ein.

Soweit ich das sehe, ist die Kritik in den USA inzwischen verebbt. Auch die Lehrkräfte in London haben uns ganz andere Geschichten erzählt: Ihre Arbeit verliere nicht an Freiheit, sondern gewinne an Substanz. Eine Lehrerin sagte: Zum ersten Mal habe sie das Gefühl, überhaupt professionell zu arbeiten. Das Programm führt nicht dazu, dass die Lehrkräfte zu Robotern werden. Stattdessen können sie sich mehr auf die einzelnen Kinder konzentrieren, weil sie nicht die ganze Zeit überlegen müssen, mit welchen Inhalten sie die Stunden füllen.

Sie haben das Konzept nach Deutschland gebracht, als Gründer der gemeinnützigen Organisation Tutoring for All. Gemeinsam mit der Universität Hamburg entwickeln Sie die digitale Tutoring-Plattform „Lesen mit dem Turbo-Team“ zur Leseförderung für Grundschüler:innen. Wie funktioniert diese Plattform?

Anders als in England oder den USA krempeln wir nicht den gesamten Unterricht um, sondern haben uns einen kleinen Teil des Programms herausgegriffen: das Thema Tutoring. Die Forschung zeigt, dass Förderung außerhalb des regulären Unterrichts einer der wirksamsten Ansätze ist – insbesondere bei Kindern aus den Risikogruppen, denen es an Basiskompetenzen fehlt. Damit Tutoring wirksam ist, muss es aber gut gemacht sein. Herkömmliche Nachhilfe hat vergleichsweise geringe Effekte. Die individuelle Förderung muss wissenschaftlich fundiert sein und bestenfalls von qualifizierten Lehrkräften durchgeführt werden. Von diesen Kräften gibt es aber viel zu wenige! Unser Ansatz ist es, Freiwillige, Studierende oder Honorarkräfte zu befähigen, wissenschaftlich fundierte Förderung durchzuführen. Das können Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Qualifikationen sein. Bisher haben Freiwillige oft bloß Kopiervorlagen aus den Regalen gezogen, wenn es nachmittags an die Leseförderung ging. Nun können sie mit einem digitalen Instrument arbeiten, das auf den aktuellen Forschungserkenntnissen und auf 40 Jahren Praxiserfahrung beruht.

Wie konkret sehen Lerneinheiten mit der Plattform „Lesen mit dem Turbo-Team“ aus?

Je zwei Kinder teilen sich ein Endgerät. Die Plattform funktioniert wie ein Computerspiel, durch das sich die Kinder weitestgehend selbstständig durcharbeiten können. Stets haben sie aber Tutor:innen an ihrer Seite. In den Lerneinheiten geht es nicht darum, eine abstrakte Fähigkeit zu trainieren – sondern am Ende einen Text lesen zu können, den man am Anfang noch nicht lesen konnte. Im Mittelpunkt jeder Lerneinheit steht eine Geschichte, die extra für das Programm entwickelt wurde. Diese beruht auf dem üblichen Grundwortschatz, der auch in den Fibeln verwendet wird. Die Kinder bearbeiten Teilaufgaben, die für das Lesen der Geschichte wichtig sind: Sie trainieren bestimmte Wörter, Wortbedeutungen oder Buchstabenkombinationen. Wenn sie die Teilaufgaben bewältigt haben, sind sie dazu befähigt, die ganze Geschichte in Angriff zu nehmen – nicht nur sie zu lesen, sondern auch zu verstehen.

»Die individuelle Förderung muss wissenschaftlich fundiert sein und bestenfalls von qualifizierten Lehrkräften durchgeführt werden.«

Ekkehard Thümler

Inwiefern erheben und nutzen Sie auch Daten der Lernenden, um individualisiertes Lernen zu ermöglichen?

Arbeitet ein Kind zum ersten Mal mit der Plattform, wird zuallererst der Leistungsstand überprüft. Anhand eines kleinen, niedrigschwelligen Tests können die Tutor:innen beurteilen, wo das Kind steht. Auf Basis des Ergebnisses wird die Startgeschichte festgelegt. Aber auch nach jeder einzelnen Lerneinheit ist es die Aufgabe der Tutor:innen, zu beurteilen, ob die Kinder die Anforderungen der Schwierigkeitsstufe gemeistert haben. Erst dann dürfen sie die nächste Schwierigkeitsstufe freischalten. So wird garantiert, dass die Kinder weder unter- noch überfordert sind, weder gelangweilt noch frustriert. Das Lernen wird durch die Plattform transparent: Auf Basis von Erfahrungswerten kann beurteilt werden, ob sich die Lerngeschwindigkeit des Kindes im grünen, gelben oder roten Bereich bewegt. Treten Verzögerungen auf, können wir im Gespräch mit den Tutor:innen herausfinden, woran es liegt. Lernverzögerungen können zum Beispiel auftreten, wenn die Lerngruppe größer ist als vorgesehen – oder das Programm nicht im Sinne des Erfinders durchgeführt wird.

An wie vielen Schulen wird Ihr Programm bislang eingesetzt?

Das Programm ist im Moment regulär an zehn Standorten in der Region Frankfurt am Main im Einsatz. Die Schulen, die mit uns kooperieren wollen, machen das auf Basis eines Nutzungsvertrags und bezahlen eine Nutzungsgebühr. Tutor:innen müssen von der Schule zur Verfügung gestellt werden, erhalten von uns aber eine halbtägige Schulung, bei der sie lernen, die Plattform zu bedienen. Haben sie keine pädagogische Vorerfahrung, bekommen sie eine weitere Schulung. Die Kinder, die mit dem Programm arbeiten, werden üblicherweise von den Lehrkräften ausgewählt. Sie erhalten über einige Wochen eine hochintensive, wirksame Förderung – eine Art Booster – und können danach den Platz wieder für andere freigeben.

Welche Erfahrungen konnten Sie bisher im Praxiseinsatz sammeln?

Die Erfahrungen an unseren ersten Standorten sind überaus positiv: Die meisten Tutor:innen arbeiten sehr gern mit dem Programm, weil es sie entlastet. Für die Kinder ist das Programm aufgrund der spielerischen Elemente sehr attraktiv. Gerade Kinder, die zuvor gar keinen Bock auf Lesen hatten, haben plötzlich Spaß daran. Anhand unserer eigenen Analyseinstrumente konnten wir sehen, dass die Kinder teils sehr große Fortschritte in kurzer Zeit gemacht haben. Die Universität Hamburg haben wir damit beauftragt, eine wissenschaftliche Evaluation durchzuführen. Die Ergebnisse liegen uns seit Kurzem vor. Sie sind ausgezeichnet und belegen Lernzuwächse, die der Größenordnung früherer Evaluationen aus den USA und Großbritannien entsprechen.

Was ist Ihre Vision für die Transformation der Bildung in Deutschland – und was können gemeinnützige Organisationen wie Ihre dazu beitragen?

Die Schule der Zukunft wird in sehr großem Umfang hybrid stattfinden, also als Kombination von digitalen Systemen und menschlicher Begleitung. Unterricht wird zunehmend auch von Personen erteilt werden, die keine grundständige Ausbildung haben, aber mithilfe von digitalen Systemen zum Unterrichten befähigt werden. Die ausgebildeten Lehrkräfte werden den Einsatz der digitalen Systeme organisieren, das Personal koordinieren und Qualitätssicherung betreiben. Meine feste Überzeugung ist es, dass die digitalen Systeme von privaten Anbietern kommen werden. Digitalisierung ist ein so schneller und dynamischer Prozess, dass ihm hierarchische, bürokratische Organisationen nicht gerecht werden. Versuche, eine staatliche Digitalisierung zu betreiben, sind meiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilt. Die Politik muss aber die Rahmenbedingungen gestalten – und vermeiden, dass hochwertige Bildungsangebote am Ende nur noch Leuten zur Verfügung gestellt werden, die dafür zahlen. Hier kommen gemeinnützige Organisationen wie unsere ins Spiel.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

https://anjareiter.com/