Interview

Florian Nuxoll: „ChatGPT kann Lehrkräfte entlasten“

von Anja Reiter
mit Florian Nuxoll
veröffentlicht am 23.03.2023
Lesezeit: 10 Minuten

Hat ChatGPT das Potenzial, Schule zu revolutionieren? Im Interview spricht der Englisch- und Gemeinschaftskundelehrer Florian Nuxoll darüber, wie man das neue KI-Tool sinnvoll im Unterricht einsetzen kann – und welche Erfahrungen er mit seinen Schüler:innen dabei gemacht hat.

Revolution des Lernens – oder Gefahr für die Bildungsgerechtigkeit? Der Textgenerator ChatGPT des US-Unternehmens OpenAI scheidet auch in der Bildungswelt die Geister. Die einen verweisen auf die spannenden Perspektiven, die durch den Einsatz des KI-Tools für das Lernen entstehen, die anderen fordern ein Verbot des Chatbots im Klassenzimmer, weil er auch immer wieder Falschinformationen liefert.

Der Englisch- und Gemeinschaftskundelehrer Florian Nuxoll hat in seinem Unterricht bereits mit dem Chatbot, der auf Basis des Sprachmodells GPT-3 eigenständig Texte in erstaunlicher sprachlicher Qualität generieren kann, experimentiert – und wertvolle Erfahrungen mit seinen Schüler:innen gesammelt. Er spricht im Interview über konkrete Anwendungsmöglichkeiten des Chatbots in der Unterrichtspraxis, Chancen für den Fremdsprachenunterricht und die notwendigen Voraussetzungen, damit der Einsatz von ChatGPT keine Spielerei bleibt, sondern lernförderlich wirkt.

Foto: Privat

Zur Person

Florian Nuxoll ist Lehrer für Englisch und Gemeinschaftskunde an der Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen. Außerdem ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und entwickelt dort intelligente Tutorsysteme für das Fach Englisch mit. Einmal im Monat spricht er im Podcast „Doppelstunde“ über die Chancen und Risiken der Digitalisierung in Schulen.

Die ganze Welt diskutiert seit Wochen über ChatGPT – und darüber, wie der Textgenerator den Schulalltag verändern könnte. Manche fürchten das Tool, weil es neben grammatikalisch richtigen Texten auch viele Falschinformationen liefert. Der Schulbezirk New York hat den Einsatz von ChatGPT daher verboten. Ist das der richtige Weg?

Ein allgemeines Verbot ergibt keinen Sinn, weil die Umsetzung technisch gar nicht möglich oder zu aufwendig wäre. Außerdem bietet der Einsatz von ChatGPT auch viele Chancen. Ich verstehe aber den Wunsch von Lehrkräften, dass es Phasen geben muss, in denen Schüler:innen ohne Textgenerator arbeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Zukunft im Unterricht und bei Prüfungen immer wieder Phasen ohne Tools, die generative Sprachmodelle nutzen, geben wird – und dann eine Phase, in denen ein Chatbot verwendet werden darf. Ähnlich wie im Mathematikunterricht, wo der Taschenrechner mal eingesetzt werden darf und dann wieder nicht. Zu verbieten ist ChatGPT aber nicht. Wir müssen die Schüler:innen dazu befähigen, mit den Ergebnissen der Textgeneratoren umzugehen – und ihnen sowohl die Chancen als auch die Gefahren vermitteln.

Welche Chancen und welche Gefahren des Einsatzes von ChatGPT an Schulen möchten Sie besonders hervorheben?

Die größten Chancen des Einsatzes von ChatGPT liegen für mich in hybriden Teams: Wenn Mensch und Algorithmus zusammen an einem Text arbeiten, können sie als hybrides Team tatsächlich schnellere und bessere Texte produzieren. Das kann auch im Schulalltag sehr nützlich sein – für Schüler:innen und Lehrkräfte. Eine der größten Gefahren liegt aus meiner Sicht in der Frage der Bildungsgerechtigkeit: Stärkere Schüler:innen profitieren mehr vom Einsatz von Textgeneratoren, weil sie ChatGPT als Hilfestellung begreifen und nicht als Tool, das ihnen die komplette Arbeit abnimmt. Schwächere Schüler:innen erkennen oft gar nicht, wo die Defizite in den Ergebnissen von ChatGPT liegen. Sie reproduzieren die Ergebnisse eins zu eins – und haben dadurch keinen Lernerfolg.

»Wenn Mensch und Algorithmus zusammen an einem Text arbeiten, können sie als hybrides Team tatsächlich schnellere und bessere Texte produzieren.«

Florian Nuxoll

Sie sind Englisch- und Gemeinschaftskundelehrer und haben in Ihrem Unterricht bereits mit KI und ChatGPT experimentiert. Welche Erfahrungen haben Sie gesammelt?

Die Gruppe der Englischlernenden und Englischlehrkräfte profitiert am meisten von ChatGPT. Die englischen Texte sind grammatikalisch richtig und verfügen über einen stimmigen Wortschatz. Damit kann man im Unterricht sehr gut arbeiten. Dank ChatGPT ist es möglich, innerhalb von Sekunden Beispieltexte zu generieren. Zum Beispiel habe ich ChatGPT im Englischunterricht gebeten: „Write a comment about gun culture in the United States.“ Den entstandenen Text konnte ich sofort in meinen Unterricht einbauen. Im nächsten Schritt habe ich den Text leicht variiert, indem ich ChatGPT gebeten habe, den Text aus der Perspektive eines Trump-Fans oder eines deprimierten Teenagers zu schreiben. Jedes Mal beinhaltete der Text einen anderen Wortschatz und andere Argumentationslinien.

Welche Kompetenzen und Fähigkeiten erlangen Schüler:innen im Englischunterricht, wenn sie auf diese Weise mit ChatGPT experimentieren?

Schüler:innen können durch den Vergleich der Texte sehen, welche die strukturierenden Elemente von Kommentaren sind, worin sich die Texte ähneln und wo die Unterschiede liegen. Welchen Wortschatz nutzen eher Ältere, welche Begriffe die jüngere Generation? Daneben können Schüler:innen ihren Wortschatz trainieren und Grammatik üben. Sie können eigene Texte hochladen und sie von ChatGPT verbessern lassen. Findet ChatGPT Grammatikfehler, erhält man sogleich Vorschläge, wie man sie verbessern kann. Außerdem können Schüler:innen lernen, eine gewisse Feinfühligkeit gegenüber Texten, Subtexten und Textintentionen zu entwickeln. Lassen die Schüler:innen sich zu einem Thema verschiedene Textvarianten erstellen, können sie Vergleiche ziehen: Wieso erzeugt ein bestimmtes Wort eine negative Konnotation, während ein anderer Begriff den Text eher ins Positive rückt?

Kann ChatGPT auch beim selbstständigen Lernen zu Hause förderlich sein?

Ja, auch für die Hausaufgaben kann ChatGPT sinnvoll sein. Wenn Schüler:innen bei einer Schreibaufgabe nicht vorankommen, können sie ChatGPT nach einem Gliederungsvorschlag fragen, sich Beispiele für einen Einstieg geben oder ein erstes Argument vorschlagen lassen. Daran können sich die Schüler:innen orientieren. Nicht sinnvoll wäre es natürlich, wenn Schüler:innen sich den kompletten Aufsatz von ChatGPT schreiben lassen. Hier muss man als Lehrkraft ein Bewusstsein schaffen, damit Chatbots das Lernen künftig fördern und nicht verhindern.

»Eine der größten Gefahren liegt aus meiner Sicht in der Frage der Bildungsgerechtigkeit«

Florian Nuxoll

Wie müssen sich Prüfungsformate verändern, damit sie neuen Technologien wie ChatGTP gerecht werden?

Momentan müssen Schüler:innen bei Prüfungen Ergebnisse produzieren, ohne dabei Hilfsmittel zu verwenden, außer vielleicht einen Taschenrechner oder ein Wörterbuch. So werden Basiskompetenzen überprüft. Ich kann mir für die Zukunft aber auch Phasen vorstellen, in denen ein Rechner einbezogen werden darf und es in Richtung Ko-Kreation geht. Das ist schließlich auch später im Beruf oder im Studium die Lebensrealität. Wir brauchen also auch Prüfungsformate, in denen Schüler:innen mit einem Computer, mit generativen Sprachmodellen wie ChatGPT und meinetwegen auch mit dem kompletten Internet arbeiten dürfen. Dafür müssen natürlich die Rahmenbedingungen stimmen: Die Länder müssen sicherstellen, dass jede:r Schüler:in ein funktionierendes Endgerät mit einer funktionierenden Internetverbindung hat.

Wie kam ChatGPT bei Ihren Schüler:innen an? Hat es ihre Motivation gesteigert – oder hat es im Gegenzug zu einer Demotivation geführt?

Das ist von Schüler:in zu Schüler:in verschieden. Es gibt schon Schüler:innen, die sich die Frage stellen: Warum muss ich überhaupt noch Fremdsprachen lernen, wenn DeepL meine Texte übersetzt und ChatGPT Texte generiert? Wenn Schüler:innen nur schnell mit einer Aufgabe fertig werden wollen, wirkt es eher demotivierend. Ich sage dann immer: Be a learner, not a finisher. Es geht nicht darum, dass man fertig wird, sondern dass man den Prozess des Lernens durcharbeitet. Wenn dieses Bewusstsein bei den Schüler:innen ankommt, dann können sie davon profitieren.

In welchen anderen Unterrichtsfächern ist ein sinnvoller Einsatz von Chatbots wie ChatGPT denkbar?

ChatGPT kann für Lehrkräfte aller Fächer ein guter Ausgangspunkt sein, um sich Vorschläge für den Unterrichtsverlauf oder bestimmten Methoden liefern zu lassen. Die Schüler:innen können in unterschiedlichen Fächern davon profitieren: Neben dem Fremdsprachenunterricht lässt sich das Tool auch sehr gut in den Gesellschaftswissenschaften einsetzen – mit einer gewissen Vorsicht in Sachen Faktensicherheit. In den Naturwissenschaften gilt es, noch mehr aufzupassen, weil hier Genauigkeit und Exaktheit enorm wichtig sind. In Mathematik hat das Tool seine größten Schwächen. ChatGPT rechnet sehr gerne falsch. Generell scheinen Zahlen ein Problem zu sein. Zum Beispiel habe ich ChatGPT einmal aufgefordert, die Anzahl der Wörter eines bestimmten Satzes zu nennen. Das Tool hat darauf beharrt, dass es sechs Wörter seien – dabei waren es nur fünf.

Wie geht man als Lehrkraft damit um, dass ChatGPT auch immer wieder Falschinformationen produziert?

Das kann man nutzen, um die Medienkompetenz von Schüler:innen zu stärken. Eine schöne Idee ist es, sich von ChatGPT einen Text generieren zu lassen – und die Schüler:innen die faktischen Fehler finden zu lassen. So können Schüler:innen ihre Nachrichten- und Digitalkompetenz überprüfen. Das klappt etwa im Geschichts- und Politikunterricht sehr gut. Für meinen Seminarkurs habe ich ChatGPT einen Text zum Fall der Berliner Mauer generieren lassen, mit dem Auftrag, mit einer Anekdote über Helmut Kohl zu beginnen. ChatGPT hat diese Anekdote aber komplett erfunden. Um das zu erkennen, brauchen Schüler:innen verschiedene Kompetenzen: Um einschätzen zu können, wie valide und glaubhaft die Aussagen von ChatGPT sind, brauchen sie viel Vorwissen – in Form von Fakten- und Orientierungswissen. Außerdem müssen sie wissen, wo und wie man historische Fakten recherchieren und überprüfen kann.

»Langfristig unterschätzen wir die Auswirkungen von generativen Sprachmodellen, kurzfristig überschätzen wir sie.«

Florian Nuxoll

Wenn so viel Vorwissen nötig ist: Ab welcher Klasse ist ein lernförderlicher Umgang mit ChatGPT in der Schule dann denkbar?

Lehrkräften muss bewusst sein, dass Schüler:innen aller Jahrgangsstufen ChatGPT zu Hause nutzen werden – ob sie es gut finden oder nicht. Im Unterricht würde ich den Chatbot aber erst ab der achten oder neunten Klasse einsetzen. Fünft- oder Sechstklässlern würde ich es nicht als Lerntool in die Hand geben; sie haben zu wenig Vorwissen. Wenn der Textgenerator falsche Informationen ausspuckt, können sie diese nicht einordnen und würden im schlimmsten Fall falsche Regeln internalisieren. Als Lehrkraft kann ich die Ressource aber natürlich auch schon in niedrigeren Klassen nutzen. Ich kann mir von ChatGPT zum Beispiel Geschichten schreiben lassen, die ich individuell an die Jahreszeit oder die Klassenzusammensetzung anpasse. Das steigert die Motivation der Schüler:innen.

Kann KI auf diese Weise auch eine Entlastung für die Lehrkräfte werden?

Ich sehe einen absoluten Mehrwert für Lehrkräfte. In der Vergangenheit, bei anderen digitalen Tools, war es oft so, dass der Einsatz im Unterricht zwar Medien- oder Digitalkompetenz vermittelt hat, für die Vermittlung von fachlichen Inhalten aber nicht ganz so sinnvoll war. Durch ChatGPT können Lehrkräfte aber wirklich im Alltag entlastet werden. Einerseits durch die Erstellung von Unterrichtsmaterialien, Texten und Aufgaben, andererseits aber auch im administrativen Teil, etwa der Kommunikation mit den Eltern. ChatGPT ist extrem gut darin, produktiv und lösungsorientiert E-Mails zu generieren, etwa wenn eine Schüler:in länger krank ist oder häufig zu spät kommt. Der Sprachgenerator erstellt einen Vorschlag, den man überarbeiten, anpassen und verschicken kann. Auf diese Weise spart man sich 50 bis 70 Prozent der Zeit.

Aus Ihrer Sicht ist ChatGPT also kein Hype – sondern etwas, das aus Ihrem Arbeitsalltag bald nicht mehr wegzudenken sein wird?

Der Fokus auf ChatGPT ist riesig, dabei müsste uns bewusst sein, dass es in den nächsten Jahren oder sogar Monaten noch weitere Tools, die generative Sprachmodelle nutzen, geben wird. Kurzfristig ist ChatGPT daher vielleicht ein bisschen overhyped. Wie groß die Auswirkungen von KI, generativen Sprachmodellen oder intelligenten Tutorsystemen in fünf bis zehn Jahren sein werden, ist uns hingegen noch kaum bewusst. Ich würde sagen: Langfristig unterschätzen wir die Auswirkungen von generativen Sprachmodellen, kurzfristig überschätzen wir sie.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

https://anjareiter.com/