Gastbeitrag

Individualisiertes Lernen in der digitalen Gesellschaft

von Björn Nölte
veröffentlicht am 12.12.2019
Lesezeit: 6 Minuten

Die Forderung nach einer Individualisierung des schulischen Lernens, die über die Reformpädagogik hinaus eine sehr lange Tradition hat, gewinnt unter den Vorzeichen der digitalen Gesellschaft neuen Aufschwung. Zwänge entfallen, Möglichkeiten entstehen, Gefahren werden diskutiert.

Wer sich Individualisierung beim Lernen auf die Fahnen schreibt, sollte zunächst weniger nach Rezepten, Werkzeugen und Handlungsanweisungen schauen, sondern die eigene Haltung überprüfen. Was nicht gebraucht wird, ist eine Kultur des Abhakens von Aufgaben. Viel zu oft herrscht in unseren Klassenzimmern noch eine Vorstellung von Unterricht im Sinne einer To-do-Liste. Diese Sicht geht von der Perspektive der darbietenden Lehrkraft aus und nicht von der Perspektive des lernenden Schülers bzw. der lernenden Schülerin. Stattdessen sollten wir eine Schulstunde oder einen Schultag dann als erfolgreich ansehen, wenn jeder einzelne Schüler und jede einzelne Schülerin wirklich etwas Neues oder Relevantes gelernt hat. Der Fokus verschiebt sich vom Lehren in Richtung Lernen, denn Lernfortschritt ist immer ein individueller und kann nicht für eine gesamte Lerngruppe „abgerechnet“ werden. Im Mittelpunkt sollte nicht die Frage  stehen: Wie vermittle ich auf möglichst gute Weise meinen Stoff in Richtung der Schüler:innen? Die Leitfrage sollte lauten: Wie ermögliche ich jedem Schüler und jeder Schülerin sinnvollen Lernzuwachs im Rahmen meines Verantwortungsbereichs?

Diese Erkenntnis ist nicht neu, erhält aber unter den Bedingungen des digitalen Lernens neue Möglichkeiten der Beantwortung. Darüber hinaus erwächst für die Organisation und Leitung einer Schule die Aufgabe, die Gesamtheit der Abläufe möglichst so zu gestalten, dass sich jede einzelne daran beteiligte Person in möglichst freiem Umfang als selbstverantwortliches Individuum fühlen kann. Das bedeutet nur so viel Kontrolle wie nötig und so viel Eigenverantwortung wie möglich, denn die Haltung, die bei den Schüler:innen über das Lernen entstehen soll und gleichzeitig dessen Grundvoraussetzung darstellt, kann nur in der Begleitung durch Personen entstehen, die ihrerseits individuelle Entfaltungsmöglichkeiten erfahren. Dabei kommt der Schulleitung die große Aufgabe zu, die Balance aus individuellen Interessen und Gesamtinteressen der ganzen Schule zu moderieren und führend einzugreifen.

Organisation des Unterrichts und Entwicklung der Persönlichkeit

Im Zentrum schulischer Bemühungen sollte das individuelle Lernen stehen. Digitale Möglichkeiten erleichtern die Organisation eines Unterrichts, der viele Grenzen überschreiten kann. Individualisiertes Lernen heißt nicht zwangsläufig, dass Schüler:innen alleine arbeiten und lernen, sondern dass sie selbst begründet entscheiden können, ob es an dieser Stelle sinnvoller ist, alleine, zu zweit oder in der Gruppe zu arbeiten. Die Grenze der festen Lerngruppe wird überschritten, wenn in digitalen Lerngruppen kursübergreifend gearbeitet wird oder sogar über die Grenzen der Schule hinweg Arbeitsergebnisse diskutiert werden. Natürlich entfallen auch die Begrenzungen der Vorgaben, mit denen Lehrkräfte die Lernprozesse steuern. Es kann – angepasst an den Entwicklungsstand der Schüler:innen – ihnen überlassen werden, zu entscheiden, welches Produkt am Ende des Lernens entsteht, in welcher Weise sie ihre Kompetenz unter Beweis stellen oder wie ihre Ergebnisse gesichert werden. All diese Entgrenzungen erzeugen einen Abbau von Statusdifferenz und Hierarchie. Es entstehen Potenziale, die Eigenverantwortung der Lernenden zu stärken und die Beziehung zu ihnen positiv zu verbessern. Möglicherweise entdecken Schüler:innen mit ihren Lehrkräften neue Lösungsmöglichkeiten, was die gesamte Gruppe zu einer motivierten Gemeinschaft machen kann. Wenn man individuelles Lernen ernst nimmt, muss man auch die Lernenden selbst ernst nehmen. Es kann nicht darum gehen, als Lehrkraft individuelle Wege festzulegen und deren Nachvollzug zu kontrollieren, sondern die Subjekte des Lernens selbst müssen über Instrumente der Selbstreflexion in den Stand versetzt werden, den eigenen Lernvorgang zu sehen, zu beurteilen und zu steuern. 

Formatives Assessment und zeitgemäße Prüfungsformate

Digitale Formen des Arbeitens und Kommunizierens ermöglichen nun nicht nur die Chance, dieser Individualität aus Sicht der Lehrkraft den nötigen Überblick zu verschaffen, sondern darüber hinaus sogar Peer-Feedback und andere lernunterstützende Hilfen. Digitale Mündigkeit ist dabei ebenso Gegenstand wie Methode. Denn auf der einen Seite müssen Lernende zu kritischen Denkern in den Zusammenhängen der digitalisierten Gesellschaft gemacht werden – und zwar mithilfe ihrer Lehrpersonen, die nicht mehr Fachleute und Wissensüberbringende eines unüberschaubar gewordenen Kanons, sondern eher Vorbilder im Sinne von Adaptivität und Anpassungsbereitschaft an neue Herausforderungen unter Einsatz von problemorientiertem Denken und eigener Urteilsbereitschaft sind. Auf der anderen Seite sollte geklärt werden, was digitale Mündigkeit eigentlich für den Einzelnen bzw. die Einzelne bedeutet: In welchen Grenzen möchte ich mich bewegen, wie gehen wir mit juristischen und normativen Grenzen um, welche Verantwortungsbereitschaft braucht die Einzelperson sich selbst und der Gesellschaft gegenüber? Wenn dieses anspruchsvolle Setting von den Beteiligten mit einem sogenannten Growth Mindset mit Leben erfüllt wird, bedeutet individuelles Lernen nicht mehr so etwas wie verschiedenfarbige Arbeitsblätter, sondern das In-die-Hand-nehmen der eigenen Entwicklung.

Ein vielversprechender konkreter Ansatz, der sich auf das Lernen, die beteiligten Personen und deren Beziehung fulminant auswirken kann, ist das sogenannte Formative Assessment. Hierbei verändern sich Rolle und Funktion der Lehrperson. Sie gibt dem Lernenden während des Lernprozesses Rückmeldungen. Dieses Feedback wird vom Lernenden genutzt, um sein entstehendes Lernprodukt gezielt zu verbessern („Feed-Forward“ statt „Feed-Back“). Weniger entscheidend wird die Leistungsbewertung am Ende des Lernprozesses, das sogenannte Summative Assessment. Das kann natürlich trotzdem ergänzend durchgeführt werden. Die Rückmeldungen des Formative Assessment werden jedoch vom Lernenden intensiver angenommen, weil sie für den eigenen Lernprozess verwendet werden. Damit ändern sich auch Rollenverteilung und Beziehung: Die Lehrperson ist nicht mehr die sortierende Beurteilende am Ende des Lernprozesses, an dem nichts verändert werden kann und die Begründungen nur eine nachträglich legitimierende Funktion haben. Vielmehr wird die Lehrperson jetzt zur unterstützenden Begleitung, die vorrangig am Lernen interessiert ist. Außerdem diagnostiziert diese Lehrkraft intensiver, denn der direkte Blick in den Lernprozess verlangt und ermöglicht Erkenntnisse über das Vorgehen jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin. Unter digitalen Vorzeichen gewinnt dieser Ansatz ungemein an Bedeutung. Überarbeitungsprozesse der Lernenden sind in digitalen Formen eine Selbstverständlichkeit, die papiergebundene Form von Schüler:innentexten ließ das kaum zu. Hinzu kommen die vielfältigen Möglichkeiten, in denen die Lehrperson ihr Feedback adressieren kann: Kommentar, Audio, Video – im besten Fall entstehen zwischen Lernenden und Lehrperson hier produktive Konversationen. Individuelles Lernen realisiert sich hier auch in der persönlichen Ansprache an die Lernenden. 

Dass es für den Begriff Formative Assessment bislang noch immer keine deutschsprachige Entsprechung gibt, die sich etabliert hätte, ist bezeichnend für den entwicklungsfähigen Diskussionsstand zu diesem Thema hierzulande. Dringend geboten ist darüber hinaus eine mutige Diskussion zu zeitgemäßen, angemessenen Prüfungsformaten, denn alles Lernen, das in institutionellen Bahnen wie der Schule abläuft, wird mehr oder weniger sichtbar beeinflusst von den Formen der Beurteilung, die auf das lernende Subjekt wartet. Niemand, auch keine Schulleitung, kann einzelne Kolleg:innen überreden oder überzeugen, Schritte in Richtung Haltungsänderung, Digitalisierung oder Rollenmodulierung zu unternehmen. Vielmehr bestehen gute Erfahrungswerte darin, einzelne Kolleg:innen durch eigenes Tun anzustecken und sich zunächst auch mit kleineren Fortschritten zufrieden zu geben. Das fällt natürlich umso leichter, je überzeugender ein zugrundeliegendes Gesamtkonzept ausfällt.

Björn Nölte

Björn Nölte ist Referent der Schulaufsicht der Evangelische Schulstiftung in der EKBO Berlin/Brandenburg und dort insbesondere für das Thema Digitalisierung zuständig. Zuvor war er Lehrer für Geschichte und Deutsch an einer Potsdamer Gesamtschule und bildete als Hauptseminarleiter angehende Lehrer:innen aus.

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