Interview

Joscha Falck: „Wir müssen erkennen, dass sich das Lernen außerhalb der Schule durch die KI-Revolution ändert und noch drastisch ändern wird.”

von Eric Stefanov
mit Joscha Falck
veröffentlicht am 06.02.2025
Lesezeit: 11 Minuten

Künstliche Intelligenz verändert die Prüfungskultur. Doch wie können Prüfungsformate KI nicht nur regulieren, sondern auch lernförderlich einbinden? Im Interview erklärt Mittelschullehrer und Schulentwicklungsmoderator Joscha Falck, warum Prüfungen angepasst werden müssen, welche Kompetenzen Schüler:innen brauchen und welche schulpraktischen Beispiele bereits existieren.

Die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) bringen einen enormen bildungspolitischen Diskurs mit sich. Befürworter:innen heben die potenzielle Arbeitserleichterung hervor: Von der Planung ganzer Unterrichtseinheiten bis zur Analyse von Schüler:innenkompetenzen biete die Technologie zahlreiche Möglichkeiten. Kritiker:innen hingegen warnen, dass der Lernprozess leide, wenn die KI schnelle Antworten liefert und damit möglicherweise die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen hemmt.

Besonders Prüfungsformate stehen im Mittelpunkt der Diskussion. Viele fürchten, dass KI-Systeme Wissens- und Kompetenztests überflüssig mache und damit einen echten Lernerfolg gefährde. Sie plädieren für ein Verbot von KI im Unterricht. Doch gibt es Alternativen? Mittelschullehrer Joscha Falck zeigt im Interview, wie sich Künstliche Intelligenz sinnvoll in Prüfungen einbinden lässt – und welche Anforderungen dies an Lehrende und Lernende stellt.

Zur Person

Joscha Falck ist Mittelschullehrer und Schulentwicklungsmoderator in Mittelfranken. Darüber hinaus ist er als Fortbildner, Referent, Blogger und Autor tätig. Im März 2024 ist sein zweites Buch zum Thema Künstliche Intelligenz in Schule und Unterricht erschienen. Auf www.joschafalck.de behandelt er das Thema Prüfungskultur und Künstliche Intelligenz in Beiträgen wie „Prüfungsaufgaben mit Künstlicher Intelligenz“ oder „KI-Einsatz im Unterricht reflektieren und bewerten“.

Künstliche Intelligenz wird gerade im Zusammenhang mit Prüfungen eher kritisch gesehen, der Verdacht auf Betrug im Kontext von Lernerfolgskontrollen liegt nahe. Wie lassen sich KI und Prüfungsformate dagegen lernförderlich zusammendenken?

Es herrscht große Einigkeit, dass sich schulische (und auch universitäre) Prüfungen unter den Bedingungen von Künstlicher Intelligenz ändern müssen. Warum eine Änderung nötig ist, lässt sich hingegen von zwei Seiten betrachten. Einerseits stehen wir vor dem Problem, dass sich Leistungen nur noch teilweise eindeutig einer Person zuordnen lassen, wenn diese KI-Systeme verwendet hat. Gerade bei häuslichen Aufgaben wie Referaten, Portfolio-Arbeiten oder Facharbeiten, aber auch bei Projektformen und Präsentationen fällt eine gerechte Bewertung schwer, wenn KI-Hilfsmittel dafür genutzt wurden. Hinzu kommt, dass KI-generierte Inhalte praktisch nicht mehr von menschlichen Inhalten zu unterscheiden sind und die aktuellen generativen KI-Systeme derart „kompetent“ sind, dass die allermeisten schulischen Aufgaben für sie kein Problem mehr darstellen – einschließlich der Abschlussprüfungen. Die Prüfungskultur muss sich also aus der Perspektive dieser Notlage heraus ändern, da es keine gangbare Option darstellt, alle schulischen Leistungen nur noch in Präsenz, auf Papier und mit entsprechender Aufsicht abzuprüfen.

Andererseits sollte sich die Prüfungskultur ändern, weil die Verfügbarkeit von KI-Systemen andere Aufgabenformate erfordert und sich dadurch der Unterricht ändert. Diese Veränderungen wiederum sind nötig, um die Kompetenzen auszubilden, die eine von KI geprägte Gesellschaft erfordert, etwa ein Verständnis über die Funktionsweise von KI und  seine konkrete Nutzung, das Prompting. Wenn im Unterricht aber mit KI-basierten Hilfsmitteln experimentiert und gearbeitet wird, muss sich das auch in Prüfungssituationen abbilden. In der Konsequenz heißt das, dass eine veränderte Prüfungspraxis unter anderem folgende Aspekte in den Fokus rücken muss: neue Aufgabenstellungen, die die Verwendung von Chatbots als Hilfsmittel zulassen, die stärkere Orientierung an Prozessen, mündliche Prüfungssituationen und die Kombination alternativer Leistungsformate mit KI als erlaubtes Hilfsmittel.

»Wenn im Unterricht mit KI-basierten Hilfsmitteln experimentiert und gearbeitet wird, muss sich das auch in Prüfungssituationen abbilden.«

Joscha Falck

Gibt es schulpraktische Beispiele, die Sie uns beschreiben können?

Stellen wir uns folgende Situation vor: Eine Schülerin bereitet ein Referat über die Landung der Alliierten in der Normandie während des Zweiten Weltkriegs vor. Für die Vorbereitung steht ihr Zeit im Geschichtsunterricht zur Verfügung. Diese reicht ihr jedoch nicht, sodass sie auch zu Hause an ihrem Thema weiterarbeitet. Für die Recherche verwendet sie eine klassische Suchmaschine und ihr Schulbuch. Darüber hinaus fragt sie bei ChatGPT eine mögliche Gliederung für ihr Thema an und lässt sich die Inhalte für einzelne PowerPoint-Folien generieren. Des Weiteren recherchiert sie passende Bilder. Für die Erstellung ihrer Präsentation experimentiert sie zuerst mit der KI-basierten Funktion „Designer“ innerhalb von PowerPoint. Da sie mit den Ergebnissen unzufrieden ist, steigt sie um auf die KI-basierte Präsentationssoftware Gamma und lässt sich dort die Präsentation vollständig erstellen. Nach einem Korrekturdurchlauf und einzelnen Anpassungen hält sie ein ansprechendes Referat in der Schule. 

Hier „nur“ das Produkt zu bewerten, also die Präsentation und den Vortrag vor der Klasse, bildet die Leistung der Schülerin nicht adäquat ab. Stattdessen braucht es einen Modus, um zusätzlich zur Präsentation ein bestimmtes Maß an Prozessdokumentation einzufordern – also die Offenlegung der verwendeten Tools und/oder der Prompts – sowie einen zusätzlichen Fokus auf die mündliche Prüfungssituation, was weiterführende Fragen, das Einfordern von Erläuterungen oder Aspekte zur Reflexion einschließt. Zudem halte ich es für wichtig, sogenannte Meta-KI-Aufgaben zu stellen, die mit in die Bewertung einfließen. Das kann etwa die Begründung oder Bewertung des genutzten KI-Einsatzes und dessen Auswirkungen auf die eigene Leistung und das eigene Lernen sein. All das muss ebenso wie der klassische Referatsteil in die Bewertung einfließen, also mit operationalisierten Kriterien und Punkten versehen werden, zu denen eine Lehrkraft einen inhaltlichen und einen KI-basierten Erwartungshorizont formulieren muss.

Joscha Falck

Napkin-Grafik (bearbeitet)

Das Prüfen von KI geht weit über die Nutzung allgemeiner Large Language Models wie ChatGPT und Co. hinaus. Welche Kompetenzen müssen Schüler:innen im Vorfeld erworben haben, um KI bei der Leistungskontrolle nutzen zu können?

An dieser Stelle treffen wir auf einen Effekt, den ich als Kompetenzparadoxon beschrieben habe. Die zielführende Nutzung von KI-Anwendungen erfordert Kompetenzen, die wir erst während der Nutzung ausprägen. Eine Vorbereitung darauf halte ich nur sehr bedingt für möglich. Insofern bauen Schüler:innen KI-Kompetenz in erster Linie dadurch auf, indem sie ausprobieren und das Ergebnis reflektieren.

Zu dem Kompetenzbündel gehört ein grundsätzliches Verstehen der Technologie, die Fähigkeit, bestimmte Programme bedienen und anwenden zu können, die Fähigkeit, die Anwendungserfahrung kritisch und umfassend zu reflektieren und ausgehend davon zu entscheiden, inwiefern der Einsatz verworfen, verändert oder weiterentwickelt werden muss, möglicherweise sogar auf der Ebene der Mitgestaltung, etwa durch die Entwicklung eines eigenen KI-Bots. Prompting ist sicher eine Teilkompetenz, die Schüler:innen im Unterricht erlernen müssen, bevor sie KI in der Prüfungssituation einsetzen. Aus meiner Sicht geht es aber vor allem darum, dass sie in der Lage sind, ihren KI-Output kritisch prüfen und fachlich einschätzen zu können, was wiederum Fachwissen und eine hohe Medienkompetenz voraussetzt.

In Chemie gibt es den Bunsenbrenner-Führerschein, kommt jetzt auch der KI-Führerschein?

Ich will nicht ausschließen, dass es Schulen geben wird, die das in dieser Form umsetzen. Möglicherweise führt ein KI-Führerschein auch zu gewissen Erfolgen, weil das Thema in einer solchen Lehrgangsform kompakt bearbeitet werden kann. Die beschriebenen KI-Kompetenzen erfordern jedoch mehr als nur einen einmaligen Führerschein. Hier geht es um den Aufbau von Wissen über KI und um das kontinuierliche Arbeiten mit „intelligenten“ Denkwerkzeugen. Idealerweise entwickelt sich das, was die Kultusministerkonferenz eine „versierte Koaktivität“ nennt, also eine zielführende, kritische und reflektierte Nutzung von KI-Technologie.

Für die Praxis bedeutet das, dass Schulen eher über eine Art KI-Curriculum nachdenken sollten, das den Einsatz von KI für Fächer und Jahrgangsstufen festlegt und in Bezug auf Lehrpläne und Inhalte reflektiert. So kann sichergestellt werden, dass KI nicht nur punktuell behandelt und in einem begrenzten Zeitraum eingesetzt wird. Der Führerschein kann dann ein Teil eines größeren Fahrplans sein, so wie ein Suchmaschinenführerschein ein sinnvoller Teil eines Mediencurriculums sein kann. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren verschiedene Spielarten sehen und können dann von Good-Practice-Beispielen lernen.

»Aus meiner Sicht geht es vor allem darum, dass Schüler:innen in der Lage sind, ihren KI-Output kritisch prüfen und fachlich einschätzen zu können, was wiederum Fachwissen und eine hohe Medienkompetenz voraussetzt.«

Joscha Falck

Die Vermittlung von Meta-Kompetenzen zur KI-Nutzung liegt bei den Lehrkräften. Welche didaktischen Kompetenzen brauchen diese, um Schüler:innen effektiv bei der Kompetenzentwicklung zur KI-Nutzung zu unterstützen?

Lehrkräfte brauchen aus meiner Sicht die gleichen KI-bezogenen Kompetenzen wie Lernende, vor allem auf den Ebenen des Verstehens, des Anwendens, des Reflektierens und des Mitgestaltens. Hinzu kommen grundsätzliche didaktische und pädagogische Kompetenzen, die dabei helfen, KI-Systeme für erfolgreiches Unterrichten, aber auch für das Erziehen und Innovieren einzusetzen. Hier ist Mut und Experimentierfreude ebenso wichtig, wie eine Aufgeschlossenheit dafür, gemeinsam mit den Schüler:innen neue Wege auszuprobieren und diese anschließend gemeinsam und kritisch zu reflektieren.

Mit einem Blick in die verschiedenen KI-bezogenen Diskurse in den Fachdidaktiken erleben wir, dass KI-Anwendungen in Bezug auf alle möglichen Fragen betrachtet werden und werden müssen. Das betrifft Aspekte rund um Lesen, Schreiben, selbstreguliertes Lernen, Lernstrategien, Recherche, Erstellung von Materialien, fachbezogene Kompetenzen und vieles mehr. Die Unterrichtspraxis hängt da in der Fläche der Schullandschaft eher hinterher. Ein Blick in die Datenlage verrät, dass die allermeisten Lehrkräfte KI-Systeme noch gar nicht wirklich effektiv im Einsatz haben. Deswegen wird Fortbildung zu den beschriebenen KI-Kompetenzen bei Lehrkräften und deren Übertrag auf Didaktik und Pädagogik ein zentrales Thema der nächsten Jahre bleiben.

Wie steht es um die Rahmenbedingungen zur Nutzung von KI in Prüfungssituationen? Zu welchem Grad sind KI-Prüfungen schon jetzt durchführbar?

Die rechtlichen Prüfungsbestimmungen für Schulen sind – abgesehen vom Saarland – in den Bundesländern bislang nicht angepasst worden. Das heißt, dass Lehrkräfte, die in der Praxis mit KI in Prüfungssituationen arbeiten wollen, selbst aktiv werden müssen, um Spielräume auszuloten. Die erste Ansprechperson ist dazu die Schulleitung. Sofern bestimmte Szenarien hier diskutiert und genehmigt werden und die entsprechenden datenschutzkonformen Tools zur Verfügung stehen, kann KI durchaus in Prüfungen eingesetzt werden. Das beginnt bei einzelnen Aufgaben, die mithilfe eines Chatbots gelöst werden – zum Beispiel mit den KI-Tools von fobizz oder SchulKI – geht weiter über den Prüfungsmodus adaptiver Lernsysteme wie  Bettermarks und reicht bis hin zum Einsatz von KI-Feedback in einem Deutsch-Test, beispielsweise mit FelloFish (ehemals Fiete.ai), wie ich es selbst ausprobiert und auf meinem Blog beschrieben habe.

Spielräume sehe ich zudem bei sogenannten alternativen Prüfungsformaten, bei denen Lehrkräfte oft mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben. KI kann wie beschrieben bei Referaten, aber auch bei Portfolio-Arbeiten, in Projekten, zur Unterstützung einer Podcast-Aufnahme oder beim Erstellen eines Erklärvideos zum Einsatz kommen. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass eine KI-integrierende Prüfungskultur auch KI-generierte Inhalte aufgreifen kann, um zu ermöglichen, dass über KI geprüft werden kann. Bei allen Ansätzen ist es sinnvoll, sich hier nicht allein auf den Weg zu machen, sondern sich mit der Schulleitung abzustimmen und die Kooperation im eigenen Kollegium anzustreben. Mittelfristig wird es auch hier erforderlich sein, die Dimensionen des Geprüftwerdens über, mit, von, trotz und ohne KI in den verschiedenen Jahrgangsstufen konzeptartig zu erfassen und mit dem beschriebenen KI-Curriculum zu verbinden.

Joscha Falck und Hendrik Haverkamp

Fünf Dimensionen für die Schule

Eine Frage zum Abschluss: Muss sich nicht auch das Verständnis von Lehren und Lernen grundlegend verändern, um auf Prüfungsformate mit KI vorzubereiten?

Wir müssen erkennen, dass sich das Lernen außerhalb der Schule durch die KI-Revolution ändert und noch drastisch ändern wird. Im Kern haben wir es mit einer Revolution der Informationsverarbeitung zu tun, die individuelles Lernen mit einem allwissenden und immer zur Verfügung stehenden Chatbot ermöglicht. Im Unterschied zu Anwendungen wie Suchmaschinen oder YouTube sind diese Assistenten persönlicher und ihre Antworten auf uns zugeschnitten. Wir können mit ihnen sprechen und teilweise entsteht sogar eine Art Beziehung. Dadurch prägt sich ein neuer Umgang mit Wissen aus und mit ihm neue Gewohnheiten und Routinen beim selbstständigen Lernen außerhalb von Bildungseinrichtungen. Schule und Unterricht muss diese Entwicklungen reflektieren und aufnehmen, sich in den eigenen Arbeitsweisen anpassen und auf die veränderten Kompetenzanforderungen einstellen. Manches wird wohl aber auch außerhalb der Schule bleiben müssen, zum Beispiel sind die Auflagen des AI-Act der EU für bewertende KI-Systeme relativ hoch. Von einigen Einsatzmöglichkeiten wird sich Schule bewusst abgrenzen müssen, etwa weil an manchen Stellen Bildungsansätze ohne technologische Kompetenzen in den Vordergrund gerückt werden. Gleichwohl sind wir aufgefordert, unseren Bildungsauftrag dahingehend zu reflektieren und neu zu justieren, dass junge Menschen in der Institution Schule fit gemacht werden auf ein Leben in einer von KI geprägten Welt. Das Unterrichten bzw. unser Verständnis von Lehren ändert sich dabei an zahlreichen Stellen. Das beginnt bei der Materialerstellung und der Gestaltung digitaler und zukünftig virtueller Lernräume, setzt an bei der Auswahl und beim Einsatz adaptiver Lernsysteme, schließt die immer wichtiger werdende Rollenverschiebung bei Lehrkräften hin zu Lernbegleiter:innen ein und nimmt  das Lernen selbst in den Fokus. Die wichtigsten Kompetenzen, die wir Schüler:innen heute mitgeben müssen, sind die Fähigkeit zum individuellen und selbstgesteuerten Lernen in sich verändernden Lebensumständen sowie die Vermittlung von Freude und Neugier, dies Zeit ihres Lebens zu tun.

Eric Stefanov

Eric Stefanov unterstützt als Werkstudent seit April 2021 die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit des Forums. Er betreut und pflegt unsere Website, textet für den Newsletter und die Social-Media-Kanäle und unterstützt bei Bedarf in den Projekten, zum Beispiel bei der Konferenz Bildung Digitalisierung. Neben seiner Arbeit beim Forum studiert er Grundschullehramt an der Humboldt-Universität zu Berlin und bringt spannende Impulse aus seinem Studium in den Arbeitsalltag mit ein – und andersrum.

eric.stefanov@forumbd.de