Gastbeitrag

Land in Sicht: Das Projekt „Lerninseln“

von Micha Pallesche
veröffentlicht am 19.10.2021
Lesezeit: 6 Minuten

Die Idee, den Lernort Schule zu öffnen und außerschulische Lernorte zu erschließen, ist nicht neu, hat aber im Zuge der Corona-Pandemie weitere Schubkraft erhalten. Nach einer Idee der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule wurden in Karlsruhe sogenannte Lerninseln geschaffen, die Kindern und Jugendlichen vielfältige Angebote für das Lernen außerhalb der Schule bereitstellen.

Wir alle, egal ob Lehrkraft, Schulleitung, Eltern oder Schüler:innen, erinnern uns vermutlich noch an einen schwarzen Tag in der Geschichte der Schule: Am Freitag, den 13. März 2020, wurde klar, dass die Corona-Pandemie nicht nur eine große Herausforderung für unser Gesundheitssystem sein würde, sondern Maßnahmen nach sich zog, die wir uns bislang nicht vorzustellen vermochten. Die Schulen im gesamten Bundesgebiet wurden geschlossen. Altbewährter Unterricht vor Ort im Klassen- und Gruppenverband war plötzlich von heute auf morgen nicht mehr möglich. Alle Schulen wurden von einem Tag auf den anderen mit Formen des digitalen Fernunterrichts konfrontiert, die bis dato kaum erprobt waren und zu denen sämtliche Erfahrungswerte fehlten. 

Eineinhalb Jahre später stellen wir jedoch fest, dass die Pandemie nicht nur einen erheblichen Schub für Digitalisierungsprozesse in der Schulentwicklung ausgelöst hat sondern auch Prozesse des Umdenkens hinsichtlich tradierter pädagogischer Strukturen und Abläufe in Gang gesetzt hat, da Defizite des deutschen Bildungssystem mehr denn je an die Oberfläche getreten waren.  

Die Frage, wie sich Schule und Unterricht konkret verändern sollte und und wie Schüler: innen zukünftig auch jenseits des Schulgebäudes an veränderten Lehr- und Lernprozessen teilhaben können, ist bislang allerdings nur zum Teil beantwortet. Mit Sicherheit gilt es die Rahmenbedingungen von Kindern in Bezug auf Infrastruktur und Ausstattung des Arbeitsplatzes in der häuslichen Umgebung zu verbessern. Darüber hinaus bedarf es jedoch eines neuen Verständnisses von Schule und Lernen. Die Bildungseinrichtung Schule sollte auch weiterhin der Ausgangspunkt von Lernprozessen sein. Dazu gehört neben einer verlässlichen Anbindung ans Netz und einer intelligenten WLAN-Lösung für das gesamte Schulgelände vor allem die Öffnung analoger und digitaler Unterrichtsräume für partizipative, co-kreative und agile Lernprozesse.

Angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Bildungswesen erscheint es zukünftig unverantwortlich, das Lernen nur auf den Ort Schule zu begrenzen und  außerschulisches Lernen lediglich in Form von Ausflügen, Tagesfahrten oder Exkursionen zu verstehen. Die Erfahrungen aus der Pandemie haben uns in den letzten 18 Monaten deutlich vor Augen geführt, dass Schule sich viel stärker nach außen öffnen muss.

Learnings aus der Pandemie: Warum wir Schule öffnen müssen

Wir leben in einer vernetzten Gesellschaft, die im Zuge der Digitalisierung immer komplexer wird. Eine veränderte kulturelle Rahmung wirkt sich auch auf den Bildungsbereich aus. Gemeinschaftlichkeit, Kommunikation, Partizipation und co-kreative Aushandlungsprozesse werden zu zentralen Elementen des Lernens. Der Lernort Schule ist jedoch häufig noch immer ein Ort mit veralteter Raumstruktur und tradierten Abläufen. Den Herausforderungen der digitalen Transformation können diese Orte nicht mehr länger gerecht werden.

Nicht zuletzt diese Erkenntnis führte für mich dazu, den Herausforderungen der Schließung der Schule nicht mit starren Lehr- und Lernprozessen an festen Orten zu begegnen, sondern als agilen Prozess zu verstehen, der auch außerhalb von Schule stattfinden kann.

Geht nicht, gibts nicht! Die Entstehung der ersten Lerninsel in Karlsruhe

In vielen Elternhäusern ist es während der Schulschließungen sehr gut gelungen, das Fehlen des Lernorts Schule für den Unterricht auszugleichen und Homeoffice und Fernunterricht unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig gab es aber auch viele Kinder, die benannten Hürden wie das Fehlen eines Arbeitsplatzes oder einer verlässlichen Netzanbindung nicht allein überwinden konnten. 

Mit dem klaren Bekenntnis, gerade in dieser nie dagewesenen Krise den benachteiligten Schüler:innen zu helfen, wurde in der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein Cyberforum e.V. das Konzept „Lerninseln“ entwickelt.

Unser Ziel ist es, außerschulische Lernorte zu erschließen, in einer interaktiven Karte der Stadt Karlsruhe zu verorten, zu visualisieren und via App buchbar zu machen. Dabei sollen schulische sowie außerschulische sogenannte „Lerninseln“ sichtbar gemacht werden, um mit ihren vielfältigen Angeboten das Lernen in der realen Welt zu ermöglichen. Die interaktive Karte erleichtert den Schüler:innen, die zahlreichen Initiativen und Lernorte in Karlsruhe zu finden und aufzusuchen. Zudem ist vorstellbar, dass die Lerninseln auch von allen Bürger:innen und Lernenden im Umkreis genutzt werden können. Im Konzept unterscheiden wir fünf verschiedene Lerninsel-Typen:

  • Lerninsel – Typ 1: Orte der digitalen Teilhabe
  • Lerninsel – Typ 2: MINT-Spaces
  • Lerninsel – Typ 3: Digitale Dritte Orte 
  • Lerninsel – Typ 4: Beteiligungsorte + MINT-Ausstellungsräume 
  • Lerninsel – Typ 5: Digitale Wissensräume

Alle Lerninsel-Typen sollen die Teilhabe von Schüler:innen in der Kultur der Digitalität unterstützen, ihnen eine gute infrastrukturelle Ausstattung bieten und das gemeinschaftliche, partizipative und co-kreative Arbeiten und den Austausch fördern. Sowohl leerstehende Cafés, Büro- und Gewerberäume, Räume in Jugendhäusern oder Sportvereinen aber auch Virtual Spaces können zu Lerninseln werden.

Auch mit Blick auf Bildung für nachhaltige Entwicklung bietet das Lerninselkonzept viele Ansätze. Betrachtet man die 2015 mit der Agenda 2030 von der Weltgemeinschaft verabschiedeten 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), lässt sich sehr schnell erkennen, dass auch die Lernsinsel-Typen sich diesen Zielen verschreiben. Alle Lerninseln basieren etwa auf dem vierten Ziel der „Hochwertigen Bildung“.

Die Lerninsel im Torbogensaal im Schloss Kalrsruhe

Die erste Lerninsel im Schloss Karlsruhe

Gerade in der akuten Phase der Schulschließungen war es dringend notwendig, Kindern und Jugendlichen, die keine Möglichkeiten des stabilen Fernunterrichts hatten, durch die Einrichtung der ersten Lerninsel im Torbogensaal des Schloss Karlsruhe einen Lernort zu schaffen, an dem sie ruhig und mit bester Infrastruktur lernen, arbeiten und somit teilhaben können. Student:innen der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe stehen den Kindern als unterstützende Betreuung vor Ort zur Verfügung.

Weitere Informationen zu den Lerninseln finden Sie unter: www.lerninseln.com.

Von der Vision zur Wirklichkeit

Das Konzept der Lerninseln trifft seit seiner Geburtsstunde auf große Begeisterung und weckt auch außerhalb der Stadt Karlsruhe und des Landes Baden-Württemberg großes Interesse. In Niedersachsen arbeitet beispielsweise das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitales derzeit an der Entwicklung sogenannter Bildungshubs, für die das Konzept der Lerninseln als Vorbild dient.

Mit der Unterstützung der verschiedenen Fachbereiche der Stadt Karlsruhe und dem großen Engagement zahlreicher Akteur:innen der unterschiedlichen, gesellschaftlichen Bereiche wird es bereits in Kürze zu der Eröffnung vieler weiterer Lerninseln kommen, die das Prinzip des „Lebenslangen Lernens“ in Gemeinschaft Wirklichkeit werden lassen. Allen Lernenden wird so Teilhabe und vor allem ein Lernen in Gemeinschaft mit Freude und Unterstützung ermöglicht. Die Lerninseln gestalten sich also nicht nur als rettendes Land in der Not, sondern stehen für ein „blühendes Land im Aufbruch“ und mit innovativen Ideen in einer neuen Zeit des Lernens in der Kultur der Digitalität.

Micha Pallesche

Micha Pallesche ist Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, einer Schule mit mehrfach ausgezeichnetem medienbildnerischem Profil und erste Smart School in Baden-Württemberg. Die Schule hat 2017 zudem an der Werkstatt schulentwicklung.digital des Forum Bildung Digitalisierung teilgenommen. Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, an der er u. a. Medienpädagogik als Zusatzstudium absolvierte, war er lange Jahre neben seinem Lehrerberuf an das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg abgeordnet.

http://www.ers-karlsruhe.de/