Impuls
Learning Analytics im Unterricht: Wo Künstliche Intelligenz bereits eingesetzt wird — und was Deutschland davon lernen kann
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veröffentlicht am 07.10.2021
Lesezeit: 11 Minuten
Schulen in Deutschland wagen sich nur zögerlich an KI-gesteuerte Lernsoftware für die Unterrichtspraxis heran. Dabei zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern, welche Chancen Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) bieten — aber auch, welche ethischen Fragen deren Einsatz stellt.
Eine chinesische Grundschule, ein paar Autostunden von Shanghai entfernt: In einer fünften Klasse tragen alle Schüler:innen kleine Geräte auf dem Kopf, die ihre Gehirnströme messen — über Elektroenzephalographie (EEG). Leuchtet ein integriertes Licht rot, sind sie laut der Technologie tief konzentriert; blau bedeutet, dass sie abgelenkt sind. Blinkt die Lampe weiß, sind sie „offline“. Alle Daten werden in Echtzeit an die Lehrkraft übermittelt und auch die Eltern erhalten Reports über die Konzentrationsleistung ihrer Kinder. Dieser Schulversuch — 2019 im Auftrag der Regierung an einigen Schulen in China durchgeführt — versprach Rückschlüsse auf Aufmerksamkeit, Verständnisprobleme und Konzentrationsstörungen. Die Daten aus dem Experiment flossen in eine von der Regierung geförderten Studie.
Permanent aufgenommen und überwacht werden, ist das die Zukunft des Lernens? Der Schulversuch in China sorgte im In- und Ausland für viel Stirnrunzeln. Doch Tools und Unterrichts-Software, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren, eröffnen noch ganz andere Möglichkeiten, die weitaus weniger kontrovers diskutiert werden. Die Bandbreite an denkbaren und bereits entwickelten Anwendungen ist riesig: Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) können automatisch Lernmuster und Kompetenzprofile des Lernenden erkennen und ihnen auf diese Weise individuelle Hilfestellungen und Lernpfade generieren. Chatbots und digitale Sprachassistenten helfen beim Sprachenlernen — und Learning-Analytics-Tools sammeln kontinuierlich Daten über Lernende, um ihre Lernumgebung zu optimieren. Welche Herausforderungen und Risiken stehen diesen Chancen von KI-Technologien in der Schule gegenüber? Wie können KI-basierte Tools sinnvoll in den Unterricht integriert werden — und wovon sollte man lieber die Finger lassen? Und welchen Weg schlägt Deutschland ein, wenn es um die Erforschung, Erprobung und den Einsatz von derlei Anwendungen geht?
Kein Szenario für die deutsche Bildungskultur
Niels Pinkwart, Wissenschaftlicher Direktor des Educational Technology Labs am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) Berlin, beobachtet radikale Versuche mit Klassenzimmerüberwachung wie in China mit Skepsis. „Kulturell würde ein solches Szenario nicht in unsere Klassenzimmer passen“, sagt der Informatiker. Sensoren zur Emotions-, Konzentrations- und Gesichtserkennung sieht er kritisch, die permanente Überwachung von Schüler:innen sei für Deutschland nicht vorstellbar. „Für den Transfer in die Praxis müssen wir uns immer die Abwägungsfrage stellen: Für welche Einsatzzwecke ist die Realnutzung sinnvoll — und für welche nicht?“ Pinkwart sieht dennoch große Chancen im Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bildungskontext — auch in Deutschland. Er hat die Studie „KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung mitverfasst. Darin diagnostizieren die Studienautoren auch für Deutschland erhebliche Potenziale von KI-gestützten, lernförderlichen Technologien, die auf Machine Learning oder Learning Analytics basieren.
Chancen sehen die Experten dabei auf allen Ebenen der schulischen Praxis: Auf Ebene der Schulorganisation könnten Planung und Evaluation aller schulischen Prozesse optimiert werden. Auf Ebene des Unterrichtsgeschehens seien neue Formen des Tutorings und des Classroom-Managements möglich. Am spannendsten seien aber die Möglichkeiten auf Mikroebene: Individualisierte Lernformen und intelligente Assistenzsysteme könnten den Lernprozess selbst dramatisch verbessern und individualisieren. Von KI-gestützten Tools im Klassenzimmer verspricht sich Pinkwart vor allem eine Hilfestellung im Umgang mit der größer werdenden Heterogenität an Schulen. Die intelligenten Systeme könnten Lehrkräfte entlasten, indem sie ihnen einen Überblick über die unterschiedlichen Lernstände der Klasse liefern und Tests und deren Analyse erleichtern. Im besten Fall habe die einzelne Lehrkraft so mehr Zeit, um sich der persönlichen Betreuung einzelner Schüler:innen zu widmen.
»FÜR DEN TRANSFER IN DIE PRAXIS MÜSSEN WIR UNS IMMER DIE ABWÄGUNGSFRAGE STELLEN: FÜR WELCHE EINSATZZWECKE IST DIE REALNUTZUNG SINNVOLL — UND FÜR WELCHE NICHT?«
Ein Grossteil der Tools kommt aus China und den USA
Im Rahmen einer Marktanalyse recherchierten die Autoren der Studie insgesamt 99 KI-gestützte Anwendungen. „Über die Hälfte der identifizierten Angebote stammt aus den USA und China“, so Mitautor Hendrik Drachsler vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main. Der Blick nach China sei trotz der komplett anderen Bildungskultur lohnenswert: Zum Beispiel demonstriere das extrem erfolgreiche chinesische Bildungs-Startup Squirrel AI, wie Künstliche Intelligenz auf sinnvolle und wissenschaftlich fundierte Weise eingesetzt werden kann. Das Tool, das aktuell vor allem auf dem chinesischen Nachhilfemarkt boomt, kombiniert Learning Analytics mit adaptivem Lernen. Das Entwickler:innenteam zerteilte den Schulstoff gemeinsam mit Pädagog:innen in atomare Lernnuggets, die die Schüler:innen in Lernzentren digital durchnehmen. Die Künstliche Intelligenz kann Verständnislücken diagnostizieren, auf diese Weise können sich Schüler:innen bestmöglich auf die Abschlussprüfungen vorbereiten.
Daneben fänden sich auch in den USA eine Reihe von interessanten Beispielen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich, etwa am Pittsburgh Advanced Cognitive Tutor Center, einem Institut der Carnegie Mellon University, das sich auf die Erforschung und Entwicklung von kognitiven Tutoren spezialisiert hat: „Die Vereinigten Staaten machen vor, wie der Weg von der Grundlagenforschung über die experimentelle Entwicklung bis zur Schule erfolgreich gegangen werden kann“, erklärt Pinkwart. Das amerikanische IT-Unternehmen IBM wiederum entwickelte mit dem Watson Education Classroom eine Cloud-Service-Lösung, die Lehrkräften dabei hilft, adaptiven Unterricht anzubieten, der zu den Stärken und Schwächen der Schüler:innen passt. In der Cloud können Lehrkräfte verschiedene akademische, soziale und verhaltensbezogene Datenquellen zusammenführen, um optimale Unterrichtsentscheidungen zu treffen — und auf passende Lerninhalte wie Tests und Arbeitsblätter zurückgreifen.
In Deutschland stockt der Transfer in die schulische Praxis
Und wie sieht die Lage in Deutschland aus? Hierzulande gibt es zumindest immer mehr Grundlagenforschung, die sich dem Thema Künstliche Intelligenz in der Schulbildung annimmt: Im Rahmen des Projekts „Hypermind“ des DFKI und der Technischen Universität Kaiserslautern wurde ein intelligentes Schulbuch entwickelt, das mittels Eyetracking die Blickbewegungen von Schüler:innen analysieren kann, wodurch Lernschwierigkeiten und individuelle Lernwege aufgezeigt werden sollen. Zögerlicher ist man in Deutschland aber, wenn es um den tatsächlichen Transfer solcher Forschungsprojekte in die schulische Praxis geht. Nur wenige Bundesländer setzen bereits KI-basierte Tools im Regelbetrieb an ihren Schulen ein. So haben Hamburg, Rheinland-Pfalz, Berlin und Niedersachsen Lizenzen für das KI-gesteuerte Mathe-Lernprogramm Bettermarks erworben. Die deutsche Online-Plattform mit Sitz in Berlin verspricht das individualisierte Mathe-Lernen — anhand automatisierter Fehleranalyse und direkten, konstruktiven Hilfestellungen.
Maria Wirzberger, Professorin für Lehren und Lernen mit intelligenten Systemen an der Universität Stuttgart, sieht viel Nachholbedarf an deutschen Schulen, wenn es um die Integration von Künstlicher Intelligenz geht. „Bevor wir ein komplexes KI-System ins Klassenzimmer setzen können, muss erst die Basis-Digitalisierung passiert sein“, sagt Wirzberger. „Doch in vielen Schulen gibt es nicht einmal funktionierendes WLAN.“ Außerdem seien entsprechende pädagogische Konzepte vonnöten, um KI-basierte Tools auch sinnvoll in den Unterricht einzubinden — und Lehrkräfte, die damit umgehen können. Wenn Wirzberger an der Universität Stuttgart angehende Lehrkräfte unterrichtet, widmet sie sich in ihren Lehrveranstaltungen auch dem Thema KI in der Bildung. „Ich bin der Meinung, dass KI-Kompetenz fester Bestandteil der Lehrpläne werden sollte“, meint sie. „Die Lehrkräfte der Zukunft müssen über Chancen und Risiken neuer Technologien Bescheid wissen und sie entsprechend einsetzen können.“
Testlauf mit KI-Tool in drei Bundesländern
Auch das föderale deutsche Bildungssystem mache den flächendeckenden Einsatz von intelligenten Bildungstechnologien hierzulande schwierig. Auf Bundesebene befassten sich die Kultusstaatssekretäre erstmalig im September 2020 mit dem Thema Intelligente Tutorielle Systeme. Die Länder Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt erprobten vor Beginn der Sommerferien 2021 im Auftrag der ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) die Anwendung Rhapsode des dänisch-amerikanischen Unternehmens Area9 Lyceum. Etwa ein Dutzend Schulen waren an dem Testlauf beteiligt. Das Tool, das schon vor über 25 Jahren für die Ausbildung amerikanischer Student:innen entwickelt wurde, begleitet Schüler:innen wie ein digitaler Coach durch den Lernprozess, gibt Input zu den jeweiligen Unterrichtsthemen, stellt Wissens- und Freitextaufgaben und gibt Lernhinweise. Alle 30 Sekunden errechnet es einen individuellen Lernpfad für die einzelnen Schüler:innen — abhängig von ihrer Performance und ihrer Selbsteinschätzung.
Andreas Kambach ist Managing Director für den DACH-Raum von Area9 Lyceum, sein Kollege Christian Hense begleitet den Testlauf von Rhapsode. „Unsere Gründer sind mit der Devise angetreten, dass sie jedem Menschen den Zugang zu Bildung gewähren wollen“, so Kambach. In Dänemark hätte das Tool insbesondere während der Corona-Pandemie gute Dienste geleistet: „Die dänische Regierung hat Kindern an sozialen Brennpunkten während des Homeschoolings Zugang zu Mathematik- und MutterspracheInhalten auf Rhapsode verschafft. Durch unsere Technologie werden jene Schüler:innen abgeholt, die sonst durch das Raster fallen.“ Aber auch beim Test in Deutschland hätte das Tool seine Stärken bewiesen: An einer Förderschule in Sachsen-Anhalt wurde das System in einer Klasse mit zwölf geistig behinderten Schüler:innen erprobt. „Wir konnten zeigen, dass unser System in der Lage ist, alle Schüler:innen trotz unterschiedlicher Voraussetzungen zu beschäftigen. Nirgendwo sonst gibt es eine höhere Heterogenität als an Förderschulen“, erklärt Hense. „Am Ende haben alle das Modul erfolgreich abgeschlossen.“
Herausforderungen beim Transfer: Datenschutz und Algorithmic Bias
Welche Hürden gilt es auf dem Weg bis zur KI-gestützten Schule der Zukunft noch zu nehmen? Eine der wichtigsten Herausforderungen sei der Umgang mit den anfallenden Daten und den damit einhergehenden Datenschutzfragen. Hier sind sich die Forscher:innen einig: In deutschen Schulen würde der Einsatz von KI nur akzeptiert, wenn es verlässliche, sichere und ethisch begründbare Verfahren und Regeln zum Umgang mit den Daten gebe. Maria Wirzberger beschreibt ein potenzielles Horrorszenario vieler Eltern: „Unternehmen und App-Hersteller verkaufen die Daten weiter. Irgendwie könnte dann ein zukünftiger Arbeitgeber Zugriff auf die Schulleistungen bekommen — und so die Karriere des Kindes verbaut werden. Um solche Szenarien zu verhindern, müssen wir uns mit Fragen des Datenschutzes auseinandersetzen und sehr klar festlegen, wer auf die Daten Zugriff hat und was damit passiert.“ Anfallende Datenschutzfragen müsse man schon bei der Entwicklung der Anwendungen bedenken — nur so könne man Eltern die Ängste nehmen.
Niels Pinkwart empfiehlt die Einrichtung sogenannter Data Lakes: Mithilfe solch anonymisierter und pseudonymisierter Datensammlungen könne die Künstliche Intelligenz trainiert werden, anstatt sie mit persönlichen Daten zu füttern. Für den Transfer in die schulische Praxis wünscht sich Hendrik Drachsler eine Art Verhaltenskodex — nach dem Vorbild der Universität Frankfurt am Main, wo Drachsler einen ähnlichen Kodex über den verantwortungsvollen Umgang mit Studierendendaten bereits mitentwickelt hat. Eng in Zusammenhang mit der Frage des Datenschutzes steht auch die Gefahr eines sogenannten Algorithmic Bias. „Datengetriebene KI-Verfahren tragen stets das Risiko in sich, Minderheiten zu benachteiligen“, erklärt Drachsler, etwa wenn Daten nur an wohlhabenden Privatschulen erhoben werden oder Lernende mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen nicht ausreichend in den Datensätzen repräsentiert werden. Diese „Outlier“ könnten dann nicht oder nur unzureichend von den adaptiven oder assistiven Funktionen profitieren. „Bei der Entwicklung solcher Tools muss man in jedem Fall darauf achten, eine möglichst große Breite in den Trainingsdaten abzudecken“, macht Pinkwart deutlich. Daneben sei es wichtig, Lehrkräfte und Schulleitungen für die Gefahren des Algorithmic Bias und ähnliche Risiken zu sensibilisieren.
»Nur wenn es belastbare empirische Studien über ein besseres Lernen mit KI gibt, dürfen entsprechende Tools auch in der Schule eingesetzt werden.«
Deutsche Zögerlichkeit ist nicht nur nachteilig
Ist Deutschland als Land der Bedenkenträger:innen nun der Gefahr ausgesetzt, in Sachen Bildung und Künstliche Intelligenz international abgehängt zu werden? Drachsler sieht die deutsche Zögerlichkeit beim Einsatz von KI-Technologien nicht nur als Nachteil. „Nur wenn es belastbare empirische Studien über ein besseres Lernen mit KI gibt, dürfen entsprechende Tools auch in der Schule eingesetzt werden“, sagt er. „Vieles, womit in China schon experimentiert wird, ist abschreckend. Ich bin froh über die deutsche Zurückhaltung.“ Für die Zukunft empfehlen Drachsler und Pinkwart den Entscheidungsträger:innen in Deutschland, nicht nur stärker in Forschung und Entwicklung zu investieren, sondern vor allen Dingen die Erprobung dieser Technologien im Schulalltag systematisch zu evaluieren — etwa durch die Einrichtung von „KI-Innovationsschulen“.
Wie könnte die KI-gestützte Schule der Zukunft dann aussehen? „Auch in Zukunft wird Schule nicht darin bestehen, dass Kinder die ganze Zeit vor einer KI-gestützten Lernsoftware sitzen“, so Pinkwart. „Stattdessen werden wir vor allem hybride Co-Teaching-Szenarien sehen.“ Klassischer Unterricht könnte sich dann mit digitalen Selbstlernphasen abwechseln. Auch für Maria Wirzberger steht fest: „Das optimale Klassenzimmer kann nur aus einer Symbiose von Künstlicher und menschlicher Intelligenz entstehen.“ Denn allen intelligenten Maschinen fehle eine ganz wichtige Eigenschaft: die menschliche Intuition.