Interview

Marina Weisband: „Als gute:r Demokrat:in muss ich Handeln lernen“

von Barbara Höfler
mit Marina Weisband
veröffentlicht am 06.05.2021
Lesezeit: 9 Minuten

Demokratiebildung spielt in der Digitalisierung bisher eine unterschätzte Rolle, sagt die Grünen-Politikerin Marina Weisband im Interview. Besonders von den Schulen als Ort der Demokratiebildung hängt für sie ab, ob wir als Zivilgesellschaft die Chancen der Digitalisierung nutzen und ihren Risiken konstruktiv begegnen können.

Wi schaut Politik auf Demokratiebildung in der Schule? Welchen Einfluss hat demokratisches Denken auf die Nutzung digitaler Medien und Strategien im Unterricht? Barbara Höfler mit Marina Weisband im Interview.

Foto: Lars Borges

Zur Person

Marina Weisband wuchs als Kind jüdischer Eltern in der Ukraine auf. 1994 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Deutschland, wo sie Psychologie studierte. Bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Heute engagiert sie sich bei Bündnis 90/Die Grünen. Als Beteiligungspsychologin entwickelte sie das Schul-Mitbestimmungsprojekt aula.

Frau Weisband, als Sie vor zehn Jahren für die Piratenpartei antraten, waren die Hoffnungen groß, die Digitalisierung würde die Gesellschaft demokratischer machen. Haben sich diese Hoffnungen erfüllt?

Sie waren auf jeden Fall naiv. Ich habe gedacht, das Internet macht uns automatisch demokratischer, offener, besser. Dann die Enttäuschung, dass einige wenige Konzerne den Markt sehr schnell erobert haben. Der Austausch findet heutzutage hauptsächlich auf Werbeplattformen statt, mit allen Nachteilen wie der Radikalisierung von Sprache und Nachrichten. Es vernetzen sich nicht nur demokratisch gesinnte Menschen, sondern auch Rechtsradikale. Wir haben es mit einer ganzen Stange von Problemen zu tun, die die Demokratie heute zusätzlich bedrohen statt zu stärken.

Sie sagen, je mehr Digitalisierung desto mehr Demokratiebildung brauchen wir.

Ja, weil das Internet selbst kein Demokratieverstärker ist, auch kein Antidemokratieverstärker. Es verstärkt einfach alles, was wir hineingeben, weil es uns so gut vernetzt und unsere Stimmen multipliziert. Wir brauchen Demokratiebildung auch nicht nur zur Vermeidung von Rechtsextremismus oder Antisemitismus, sondern für die Zukunft der Demokratie selbst. Ohne handlungsfähige Bürger:innen funktioniert sie nicht. Demokratie muss man ja nicht nur wollen, man muss sie auch können.

Demokratiebildung ist eine der zentralen Aufgaben der Schule. Wie steht es denn um die Schulen als Ort der Demokratisierung?

Es gibt Modellschulen, die sehr viel Wert darauf legen. Aber der Normalfall an den Regelschulen ist, dass sich die demokratische Beteiligung maximal in Form der Schüler:innenvertretung auswirkt. Demokratiebildung ist ein Add-on: Wenn alles andere läuft, können wir uns darum kümmern – als Luxus, aber nie als eigentliches Ziel von Schule.

Was haben Sie selbst in Ihrer Schullaufbahn über demokratische Prozesse gelernt?

Ich war an einem Sportgymnasium in Wuppertal und habe ein Organigramm gelernt. Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, wer ernennt wen, wer beschließt was. Als Immigrantin war Demokratie für mich eine höchst theoretische Angelegenheit, die mich gar nicht betraf. Etwas, das die Deutschen unter sich ausmachen. Ich habe allerdings viel Schule geschwänzt, mich zu Hause bei Wikipedia durchgeklickt und da sehr viel gelernt.

Sie haben Demokratie auf Wikipedia gelernt?

Ja, ich habe Schule geschwänzt, um etwas zu lernen. Und hätte ich nicht so gute Noten gehabt, hätten meine vielen Fehlzeiten meine Versetzung gefährdet. Demokratie habe ich aber bei der Piratenpartei gelernt. So, wie man Demokratie nur lernen kann: durch Machen. Das brauchen wir auch an Schule.

»Als gute:r Demokrat:in muss ich hingegen Handeln lernen. Handeln bedeutet, mich zu reflektieren, zu fragen, wer bin ich, was ist meine Rolle in der Welt, was kann ich bewirken.«

Marina Weisband

Was läuft Ihrer Erfahrung nach hier schief? Was müssen Schulen wie Ihre anders machen?

Schule lehrt uns hauptsächlich, Handlungsprozesse zu lernen und zu reproduzieren. Dabei können Maschinen das viel besser. Als gute:r Demokrat:in muss ich hingegen handeln lernen. Handeln bedeutet, mich zu reflektieren, zu fragen, wer bin ich, was ist meine Rolle in der Welt, was kann ich bewirken. Ich muss lernen, mir eigene Ziele zu setzen, sie zu verfolgen und Kompromisse einzugehen. Das ist Persönlichkeitsentwicklung. Die Schule behauptet zwar, dass sie das fördert. Die vier Ks werden überall ganz groß geschrieben.

Die „vier Kompetenzen für das 21. Jahrhundert“: Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken.

Richtig, aber passiert diese Förderung wirklich? Ob Schüler:innen gut gelernt haben, prüfen wir ja in Prüfungen. Wenn ich aber zwei der vier Ks dabei anwende, also kommuniziere und kollaboriere, ist das ein Betrugsversuch. Ich bekomme eine Sechs. Das offenbart uns, dass Schule eigentlich nicht wirklich das Ziel verfolgen kann, das sie angibt.

Kann Schule überhaupt der Ort sein, an dem ich Demokratie so richtig lernen und praktizieren kann? Hierarchien machen ja durchaus Sinn an einer solchen Institution.

Sie muss. Schule ist für die allermeisten Jugendlichen der zentrale Lebensort. Sie verbringen mehr als die Hälfte ihres Lebens dort und zwar alle, unabhängig vom soziokulturellen oder Migrationshintergrund. Im Moment behandeln wir die Schule aber wie eine Blase. Kinder kommen dort aus der echten Welt hinein, kriegen gesagt, das und das müsst ihr lernen, am Nachmittag kommen sie zurück in die Welt und es gibt keinerlei Verbindung zwischen beiden. Wo soll ich da Demokratie lernen? Und wie, wenn mir dauernd gesagt wird, wann ich wo zu sein und was zu lernen habe? Das Gehirn lernt nur Dinge, die es immer wieder braucht. In der Schule lerne ich zu gehorchen, weil es das ist, was ich immer wieder machen muss.

Was können und sollten Schüler:innen an Schulen demokratisch mitentscheiden dürfen?

Die Frage ist, was sollten Sie nicht mitentscheiden? Es ist doch ihre Veranstaltung, ihr Lebensort und ihnen kommt es zugute. Sie sollen im Leben die Rolle der Gestalter:innen einnehmen, nicht die der Konsument:innen, der Opfer. Die Frage sollte immer sein: Wenn ich hier eine Freiheit einräume, passiert dann irgendetwas, das irgendjemandes Leben schadet? Es wäre vielleicht keine gute Idee, Schüler:innen zu erlauben, die Personalentscheidungen der Schule mitzubestimmen, denn dann würden wahrscheinlich schlimme Dinge passieren (lacht). Aber wenn sie beschließen, im Deutschunterricht nicht „Andorra“ von Max Frisch zu lesen, passiert überhaupt nichts Schlimmes, denn es ist für sie nicht notwendig.

Die Pandemie hat vieles schwerer gemacht. Kann demokratische Persönlichkeitsentwicklung noch stattfinden, wenn ich monatelang im Distanzunterricht allein am Rechner sitze?

Das wäre ja gerade die Chance, zeitgemäße Bildung auch für später zu etablieren. Es gibt Konzepte. Dezentraler Unterricht in jetzt ohnehin leerstehenden Gemeindesälen oder Cafés, begleitet von Lehramtsstudent:innen im Praxisjahr. Warum nicht? Neue hybride Unterrichtskonzepte könnten ausprobiert werden, bei denen Schüler:innen wirklich kollaborativ zusammenarbeiten und selbst mitbestimmen können, was sie lernen. Sie wären besser aufgehoben und kämen psychisch gesund aus der Zeit. Es ist die größte Verfehlung, dass wir das nicht machen. Allein aus so einer sturen Präsenzunterrichtsbezogenheit.

»Echte Digitalisierung würde bedeuten, dass die Schüler:innen die Arbeitsblätter nicht nur bekommen, sondern selber welche erstellen, die aktiv auf das reagieren, was sie tun. «

Marina Weisband

Zumindest geklappt hat an den meisten Schulen aber ja schon einmal die gewaltige Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht. Der Digitalisierungsschub war ja enorm.

Was an vielen Schulen stattfindet, ist aber keine Digitalisierung. Wenn ich Arbeitsblätter als PDFs auf Tablets aufrufe, ist das Buchdruckkultur in Reinform, bloß jetzt elektrisch. Digitalisierung ist Viele-zu-vielen-Kommunikation, kulturell ein Riesenschritt von der Einer-zu-vielen-Kommunikation des Buchdrucks. Was die Schule macht, ist aber einfach weiterhin Einer-zu-vielen-Kommunikation. Das ist nicht Digitalisierung, sondern nur die „Elektrifizierung“ des Bestehenden.

Wie würde Unterricht aussehen, der dem Kulturwandel der Digitalität wirklich Rechnung trägt?

Echte Digitalisierung würde bedeuten, dass die Schüler:innen die Arbeitsblätter nicht nur bekommen, sondern selber welche erstellen, die aktiv auf das reagieren, was sie tun. Das wären dann keine Arbeitsblätter mehr. Sie würden ein Video drehen, eine interaktive Website bauen, eine Präsentation gestalten. Daraus würden Lehrmaterialien für andere Schüler:innen entstehen. Offen, gestaltbar, interaktiv.

Sie selbst haben mit „aula“ ein digitales Tool entwickelt, mit dem Schüler:innen demokratisch ihren Schulalltag mitbestimmen können. Sie bringen eigene Ideen ein und können sie auf einer OnlinePlattform diskutieren und zur Abstimmung bringen. Haben Sie ein Beispiel?

Das besondere an aula ist, dass alle Schüler:innen einer Schule beteiligt sind, nicht nur die drei Prozent in der Schüler:innenvertretung. In Freiburg hatten sie Ideen zu einem Tag, an dem alle Lehrkräfte Unterricht mit dem Smartphone machen. Das war an einer sogenannten Brennpunktschule, an der Deutsch für viele Fremdsprache ist. Normalerweise hätte die Idee jemand gehabt, aber nie geäußert, weil die Hürde zu sprechen zu hoch ist. Mit aula geht das schriftlich, mithilfe eines Übersetzers. Das Tool ist also sehr inklusiv.

Ging der Vorschlag bei der Schulverwaltung durch?

Ja. Die Schüler:innen haben Plakate als Werbung geklebt, diskutiert, wie das aussehen könnte, Lehrkräfte bequatscht. Am Ende filmten sie in Sport ihre Sprünge, um die Körperhaltung zu kontrollieren. In Musik haben sie gemeinsam Musik gemacht, in Chemie digitale Tools für Experimente benutzt. Der Tag war so ein Erfolg, dass sie danach in aula den Antrag eingebracht haben, das monatlich zu machen. So war es bis Corona auch.

Aula setzt aber voraus, dass alle ein Smartphone haben. Ist bei der Hardware-Ausstattung die Grenze der digitalen Beteiligung erreicht?

Das Endgeräteproblem wird maßlos überschätzt. Ein ganz triviales Problem, das politisch sehr leicht zu lösen wäre. Das Problem der Ungleichheit ist ein anderes: dass die Kinder bisher sehr allein gelassen werden mit Erfahrungen im digitalen Bereich. Natürlich trennen sich da diejenigen, die ein Elternhaus haben, das sie unterstützen kann, von denjenigen, die das nicht haben. Genauso würde aber Bruchrechnen die Gesellschaft spalten, wenn das Erlernen nur vom Elternhaus abhinge und wir keine Lehrkräfte hätten, die es ihnen erklären.

»Die Kultur der Digitalität einzuführen, ist in erster Linie eine Investition in Personalausgaben.«

Marina Weisband

Digitalisierung ist Beziehungsarbeit, sagen Sie. Was meint das genau?

Wenn ich eine Schule digitalisiere, führe ich nicht einfach eine Software ein. Ich muss Kulturfragen stellen, die Rolle der Schüler:innen und der Lehrkräfte neu reflektieren. Denn im Gegensatz zum Erklären von Bruchrechnen ist das Konzept von agilem, interaktivem, digitalem Unterricht für Lehrkräfte neu und ungewohnt. Wenn sie das jetzt umsetzen sollen, fürchten viele den Verlust ihrer Autorität und von Kontrolle. Mit ihnen muss man in Beziehung treten, sie ermutigen. Das braucht Zeit und Personenstunden. Die Kultur der Digitalität einzuführen, ist in erster Linie eine Investition in Personalausgaben.

Wie aufgeschlossen für solche Prozesse sind denn die Lehrkräfte als Beziehungspersonen?

Viele machen sich extrem auf den Weg. Und manche blockieren, was ich verstehen kann. Einerseits wegen dieses Missverständnisses, Autorität bedeute, keine Fehler zu machen und alles zu wissen. Das ist Buchdruckkultur. Autorität in der Kultur der Digitalität speist sich daraus, dass ich offen identifizieren kann, was ich nicht weiß, neugierig bin, es lerne und meinen Lernprozess mit anderen teile. Aber die Lehrkräfte stehen auch so unter Druck und Stress. Wenn der Berufsalltag nur darin besteht, das übervolle Curriculum durchzubringen, ist der Kopf gar nicht frei für Begeisterung und alles das.

Barbara Höfler

Barbara Höfler ist freie Redakteurin und lebt in Starnberg in Oberbayern. Nach Stationen als Redakteurin u. a. beim Magazin der Frankfurter Rundschau und bei Bayern 2 Radio schreibt sie heute vor allem für das Magazin der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag im Ressort Gesellschaft.