Impuls
Medien- und Nachrichtenkompetenz als Schlüssel gegen Desinformation
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veröffentlicht am 17.05.2022
Lesezeit: 8 Minuten
Um Informationen im Netz bewerten zu können, ist digitale Medienkompetenz notwendig. Denn Fake News stellen sich oft erst bei genauerer Betrachtung als falsch heraus. Wie können Kinder und Jugendliche lernen, seriöse Nachrichten von Desinformation zu unterscheiden?
Regelmäßig erhält Björn Frommann, Lehrer für Ethik und Geschichte an der Hector-Peterson-Schule in Berlin, Messenger-Nachrichten von seinen Schüler:innen: Stimmt die Info aus diesem Video, dass FFP2-Masken Würmer und Parasiten enthalten? Hat der Influencer Recht, wenn er behauptet, dass man kommendes Wochenende für wenige Euro mit der Bahn durch ganz Deutschland reisen darf? Und bricht wirklich bald der Dritte Weltkrieg aus?
Um ihre Medienkompetenz zu schulen und sie vor Fake News zu schützen, bietet Frommann seinen Schüler:innen an, ihm Links, Videos und Bilder zu schicken – immer dann, wenn sie Zweifel hegen, ob die Informationen stimmen. Gemeinsam mit den Schüler:innen analysiert er die manipulierten Fotos, nimmt Videos und Texte auseinander. „Das Gefährliche an Desinformation ist, dass immer etwas Wahres dabei ist, aber vieles einfach falsch ist“, sagt Frommann. „Das müssen Kinder und Jugendliche unterscheiden lernen.“
Begriffsklärung
Medienkompetenz: Der Begriff Medienkompetenz besteht bereits seit den 1970er Jahren und wurde von Dieter Baacke, Medienpädagoge und Erziehungswissenschaftler, geprägt. Baacke stellte den Menschen in den Vordergrund: Ihn interessierte primär, was die Menschen mit den Medien machen – und nicht umgekehrt. Er gliederte den Begriff in vier Dimensionen: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Einen ausführlichen Artikel zum Begriff der Medienkompetenz und weiteren Begrifflichkeiten finden Sie hier.
(Digitale) Nachrichten- und Informationskompetenz: (Digitale) Nachrichten- und Informationskompetenz ist ein Teilbereich der Medienkompetenz. Dahinter verbirgt sich die Fähigkeit, Nachrichtenmedien, Informationen im Netz und in den sozialen Medien und andere (journalistische) Informationsangebote zu verstehen, kritisch zu beurteilen, effektiv zu nutzen, souverän weiterzugeben – und mitunter auch selbst Nachrichten zu formulieren.
Austausch über tagesaktuelle Themen im Morgenkreis
Die Hector-Peterson-Schule in Berlin ist eine Sekundarschule mit einem großen Anteil an Schüler:innen mit nicht-deutscher Herkunftssprache, viele von ihnen sind lernmittelbefreit. Zu Frommanns pädagogischen Grundverständnis gehört es, sich mit seinen Schüler:innen über tagesaktuelle Themen auszutauschen und sich mit dem verstärkten Aufkommen von Desinformation zu beschäftigen. Im täglichen Morgenkreis haben seine Schüler:innen die Möglichkeit, gemeinsam die Tagesschau in 100 Sekunden anzuschauen. Im Ethik- und Politikunterricht stehen bei Frommann Einheiten zu den Themen Wahrheit, Lüge und Bildmanipulation auf der Tagesordnung.
In seinem Unterricht setzt Frommann auch auf Spiele wie „Bad News“ oder „Fake It To Make It“, bei denen die Jugendlichen selbst reißerische und falsche Nachrichten produzieren können, um die Mechanismen von Desinformation besser zu verstehen. Während des aktuellen Ukraine-Kriegs machte Frommann seine Schüler:innen darauf aufmerksam die Autoplay-Funktion ihrer Geräte zu deaktivieren – um sie vor sensiblen, gewalttätigen Videos zu schützen. „Auch das gehört zu Medienkompetenz dazu.“
Studie: Jugendlichen fehlt bei journalistischen Angeboten Alltagsbezug
Das Medienkonsumverhalten der Kinder und Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten drastisch verändert. Laut der Studie #UseTheNews des Leibniz-Instituts für Medienforschung, entsteht in der Generation der Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren eine Informationskluft. Zwar interessierten sich viele Jugendliche nach wie vor für Nachrichten, gleichzeitig hält es die Hälfte der jungen Erwachsenen nicht für wichtig, sich über Neuigkeiten und aktuelle Ereignisse zu informieren. Der Grund: Bei journalistischen Nachrichten fehle ihnen der Bezug zum eigenen Alltag. Die Studie, bei der 1.500 Personen befragt wurden, kommt zu dem Schluss, dass journalistische Nachrichten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Relevanz verloren haben – sie sind nur noch eine von vielen Informationsquellen. Für ihre Meinungsbildung sind vor allem Familie, Freunde und Influencer:innen wichtig.
Jugendliche erhalten Infos über Snapchat, Instagram und Tiktok
Auch Frommanns Schüler:innen informieren sich vor allem über Snapchat, Instagram und Tiktok über das Weltgeschehen. Manche konsumieren zusätzlich mit ihren Eltern zuhause klassisches Fernsehen, auf Deutsch oder in ihrer Muttersprache. Mit klassischen journalistischen Informationsangeboten kommen sie ansonsten nur selten in Berührung. „Hin und wieder werden ihnen beim Einloggen in den E-Mail-Account oder beim Googeln Nachrichten in den Browser eingespielt“, so Frommann. „Ob sie draufklicken, ist eine andere Frage.“
Frommann ist es wichtig, sich auf Augenhöhe mit dem Medienkonsum seiner Schüler:innen zu beschäftigen und offen für ihre Lebenswelt und ihre Erfahrungen zu sein. In der technischen Bedienkompetenz seien sie den Lehrkräften voraus. Und auch viele der Kanäle, denen Schüler:innen folgen, hätten durchaus Mehrwert – zu Themen wie Feminismus, Gender oder Finanzen. Themen also, die sehr an der Lebensrealität der Jugendlichen, ihren Sorgen und Zukunftswünschen sind.
Schwerpunkte in der Aus-und Fortbildung von Lehrkräften und mehr Sensibilisierung
Katharina Swinka, Generalsekretärin der Bundesschülerschülerkonferenz und Abiturientin in Potsdam, nimmt bei vielen Lehrkräften eine große Entfernung zur Lebenswirklichkeit und zum Medienkonsumverhalten ihrer Schüler:innen wahr. Gerade viele ältere Lehrkräfte seien überfordert mit sozialen Medien, Apps und digitalen Gadgets. In Zeiten von Polarisierung, Informationskriegen und Desinformation sei es aber unglaublich wichtig, in der Schule schon früh mit dem Zwei-Quellen-Prinzip und Recherchetechniken in Berührung zu kommen.
„Schon Kleinstkinder bekommen heute Tablets, Smartphones und Computer, mit denen sie ins Internet gehen können. Sie müssen wissen, ob das, was sie auf Tiktok, Instagram oder anderswo sehen, Wahrheit oder Lüge ist.“ Swinka fordert deshalb, dass Medienkompetenz in die Rahmenlehrpläne aller Bundesländer einkehren soll – als eigenes Schulfach oder als fest verankerter Unterrichtsstoff in Deutsch, in den Naturwissenschaften oder in Englisch. Damit Schule Orientierung bieten kann, sei aber eine bessere Ausbildung, Fortbildung und Sensibilisierung der Lehrkräfte notwendig.
Damit Schule Orientierung bieten kann, ist eine bessere Ausbildung, Fortbildung und Sensibilisierung der Lehrkräfte notwendig.
Außerschulische Bildungsangebote zur Vermittlung von Medienkompetenz
Um die Leerstellen an den Schulen zu füllen, sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von außerschulischen Bildungsangeboten zur Vermittlung von Medien- und Nachrichtenkompetenz entstanden. Der Verein Journalismus macht Schule, ein Zusammenschluss von Medienschaffenden und Expert:innen, vermittelt Schulbesuche und bietet erprobtes Unterrichtsmaterial für Lehrkräfte an. Beim SWR Fake Finder werden die Newsfeeds von Sozialen Medien spielerisch unter die Lupe genommen. Das Planspiel Fake Hunter wurde für öffentliche Bibliotheken in Schleswig-Holstein entwickelt und kann mittlerweile im gesamten deutschsprachigen Raum gespielt werden. Die Deutsche Telekom Stiftung stärkt mit dem Projekt Qapito! – Quellen kritisch beurteilen die Quellenbewertungskompetenz von 10- bis 17-Jährigen. Im Rahmen des Projekts ist etwa das digitale Lernspiel Facts & Fakes 2 für Smartphones entstanden.
Auch der Berliner Thinktank futur eins setzt sich für mehr Resilienz gegen Desinformation und Hate Speech ein – und für mehr digitale Nachrichtenkompetenz in unserer Gesellschaft. Auf Anfrage bietet der Thinktank Workshops an Schulen an: Beim sogenannten News-Tests können Schüler:innen mit Hilfe einer spielerischen App die eigene Medienkompetenz testen. Im Rahmen von Simulationsworkshops lernen Schüler:innen und auch Lehrkräfte, wie unterschiedliche digitale Kanäle funktionieren – und was der klassische Journalismus anderen Informationsangeboten voraus hat.
»Ob russische Desinformation, Fake News von Trump oder Corona-Verschwörungstheorien: Medienkompetenzvermittlung muss institutionalisiert werden, um unsere Demokratie zu stärken.«
Alex Sängerlaub: „Demokratierelevante Seite von Medienkompetenz ist verbesserungswürdig“
Der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Alex Sängerlaub ist Direktor des gemeinnützigen Thinktanks futur eins. Er hat einen guten Überblick über den Stand der Medien- und Nachrichtenkompetenz von Schüler:innen: „Junge Leute sind super-gut darin, mit ihren Smartphones umzugehen, Apps runterzuladen oder einen Youtube-Kanal zu eröffnen“, so Sängerlaub. „Die technische Seite der Medienkompetenz ist sehr hoch, die demokratierelevante Seite hingegen verbesserungswürdig.“ Welche Kompetenzen benötigen Kinder, Jugendliche und Erwachsene, um erfolgreich mit der neuen Medienwelt umzugehen? In der Studie „Quelle: Internet?“ hat Alex Sängerlaub mit den Soziologinnen Anna-Katharina Meßmer und Leonie Schulz fünf relevante Skill-Sets und ein Mindset zur digitalen Nachrichten- und Informationskompetenz definiert:
- Die digitale Navigatorin kann in unübersichtlichen Informationsumgebungen schnell navigieren.
- Die Journalistin kann die Güte von Nachrichten beurteilen.
- Der Fact-Checker kann Informationen überprüfen und verifizieren.
- Der Debatteur kann sich reflektiert in den politischen Diskurs einbringen.
- Die Kommunikationswissenschaftlerin weiß, welche Mechanismen hinter digitalen Öffentlichkeiten stehen.
- Und der Citoyen weiß über die Bedeutung von Meinungsfreiheit, freien Medien und Journalismus in der Demokratie Bescheid.
Nur wer in allen Bereichen fit sei, verfüge über ausreichend Medien- und Informationskompetenz, um durch die digitale Medienwelt zu navigieren und mündige, informierte Entscheidungen zu treffen, so Sängerlaub. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen gebe es aber bei allen Skill-Sets noch gehörig Nachholbedarf.
„Ob russische Desinformation, Fake News von Trump oder Corona-Verschwörungstheorien: Medienkompetenzvermittlung muss institutionalisiert werden, um unsere Demokratie zu stärken“, fordert Sängerlaub. Futur eins setzt sich daher stark dafür ein, auf die neue Medienwirklichkeit eine strukturelle und nachhaltige Antwort zu finden.
Fazit: Kontinuierliche Sensibilisierung für Schüler:innen, mehr Fortbildung für Lehrkräfte
Wie aber kann Medienkompetenz nachhaltig in die Bildungslaufbahn junger Menschen integriert werden? Björn Frommann setzt einerseits darauf, Medienkompetenz im Unterricht zu vermitteln, etwa im Fach Ethik, wenn es um die Frage der Wahrheit gehe. Zusätzlich spricht Frommann sich aber für eine kontinuierliche Sensibilisierung für das Thema Medienkompetenz aus. Schließlich würden im Alltag von Kindern und Jugendlichen Fake News immer wieder eine Rolle spielen – Schule müsste hier beständig Orientierung bieten. Einmal in vier Jahren Medienkompetenz zu trainieren, sei zu wenig. Bei Lehrkräften sei Selbstinitiative gefragt, um die diversen Fortbildungsangebote in Anspruch zu nehmen.
Alex Sängerlaub kann sich gut vorstellen, neben der Klassensprecher:in eine Mediensprecher:in in allen Schulen einzusetzen – als Sprachrohr für Schüler:innen und als Hilfe für Lehrkräfte, um sich in der neuen Medienwelt qualifizierter zu bewegen. Denn am Ende sind sich alle Beteiligten einig: In der digitalen Medienwirklichkeit gibt es so vieles, was Schüler:innen und Lehrkräfte voneinander lernen können.