Interview

Micha Pallesche: „In Singapur werden digitale Medien beim Lernen organisch genutzt”

von Anja Reiter
mit Micha Pallesche
veröffentlicht am 15.07.2024
Lesezeit: 7 Minuten

Im April ging es für Schulleiter Michael Pallesche aus Karlsruhe zum International Summit on the Teaching Profession (ISTP) 2024 nach Singapur. Wie sieht die Schulpraxis in dem kleinen Stadtstaat aus – und was kann Deutschland in Sachen digitaler Transformation von dem PISA-Spitzenreiter lernen?

Beim International Summit on the Teaching Profession (ISTP) versammeln sich jedes Jahr Fachleute aus verschiedenen Ländern, darunter Teilnehmende aus der Bildungspraxis, der Politik und von Lehrkräfteverbänden, um die aktuellen Herausforderungen im Lehrberuf, aber auch auf der gesamten Schulsystemebene zu diskutieren. Was ist zu tun, um weltweit den Lehrkräftemangel zu bekämpfen? Wie lassen sich digitale Medien sinnvoll in die Lehrkräftefortbildung integrieren? Daneben erhalten die Delegationsmitglieder aus den einzelnen Ländern aber auch Einblicke in die Schulen des Gastgeberlandes.

„Bildung neu denken, Potenziale ausschöpfen“, lautete das Motto des diesjährigen Gipfels, der vom 22. bis 24. April 2024 in Singapur stattfand. Die deutsche Delegation wurde von Christine Streichert-Clivot, Ministerin für Bildung und Kultur des Saarlandes und amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), angeführt. Neben Bildungsminister:innen und Verbandsfunktionär:innen war auch ein Schulleiter aus Deutschland dabei: Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe.

Foto: Micha Pallesche

Zur Person

Micha Pallesche ist Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, einer Schule mit mehrfach ausgezeichnetem medienbildnerischem Profil und erste Smart School in Baden-Württemberg. Die Schule hat 2017 zudem an der Werkstatt schulentwicklung.digital des Forum Bildung Digitalisierung teilgenommen. Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, an der er unter anderem Medienpädagogik als Zusatzstudium absolvierte, war er lange Jahre neben seinem Lehrberuf an das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg abgeordnet.

Sie haben vor Kurzem Singapur im Rahmen des ISTP 2024 besucht – als Teil der deutschen Delegation. Wie kamen Sie zu der Ehre?

Der Summit sieht vor, dass neben Teilnehmenden aus der Politik und den Verbänden auch ein „Teaching Professional“ mitreist. In den letzten Jahren wurde immer ein:e Preisträger:in des Deutschen Lehrkräftepreis ausgewählt. Weil ich 2021 in der Kategorie „Vorbildliche Schulleitung“ gewonnen habe, durfte ich diese Rolle übernehmen. Das hat mich wahnsinnig gefreut!

Sie haben insgesamt drei Schulen in Singapur besucht. Welche Unterschiede zu Deutschland sind Ihnen am meisten ins Auge gestochen?

Ich habe drei öffentliche Schulen besucht, außerdem die private Deutsche Schule. Nicht alle öffentlichen Schulen haben wahnsinnig tolle Räumlichkeiten, dafür eine sehr gute digitale Ausstattung. Jede:r Schüler:in hatte Zugriff auf digitale Endgeräte, die Lehrkräfte waren digital fit. Auch die Schulen in den nicht so guten Lagen verfügen über tolle, grüne Schulhöfe. Man merkt einfach, dass Singapur sehr viel Geld für Bildung ausgibt. Was mir außerdem aufgefallen ist: Singapur legt großen Wert auf Output-Orientierung. Was ist der Effekt der Bemühungen und Investitionen?

Eine solche Output-Orientierung kann auch Druck erzeugen. Wie viel Leistungsdruck unter den Schüler:innen haben Sie wahrgenommen?

Natürlich erzeugt diese Output-Orientierung einen gewissen Druck. Der Druck entsteht aber nicht durch die Gefahr der frühen Selektion wie in Deutschland, wo man schnell abgeschult wird, wenn man nicht den Leistungsansprüchen genügt. Der Druck kommt eher aus der Gemeinschaft selbst, weil einfach viele Kinder und Jugendliche gut sein wollen. Die besten – und auch im späteren Leben erfolgreichsten – Schüler:innen hängen in den Eingangshallen der Schulen, um deren Erfolg zu illustrieren. Ein weiteres Beispiel: Bei der Wahl zur Schüler:innensprecher:in haben die Kandidat:innen aufwändige Plakate designt – und klare Schritte definiert, wie sie ihre Ziele umsetzen wollen. 

Gibt es in Singapur eine klare Vision von Bildung – und was zeichnet diese aus?

Bildung hat einen riesengroßen Stellenwert in Singapur – auch weil das Land keine Rohstoffe besitzt. Diese Vision ist überall zu spüren, ob im Kultusministerium oder an den einzelnen Schulen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Basiskompetenzen: Lesen, Schreiben, Rechnen. Schon in den Kindergärten wird viel Geld in frühkindliche Bildung investiert, um der Heterogenität der Kinder bereits von Anfang an zu begegnen. Außerdem ist die Sinnfrage allgegenwärtig. Warum tun wir das, was wir tun? In einer der Schulen, die ich besucht habe, wurde in jeder einzelnen Stunde nach der Einführung des Themas gefragt: Welchen Wert hat das Thema für mich persönlich, für uns als Gesellschaft? Selbst im Sportunterricht, beim schnöden Staffellauf, spielt der „Purpose“ eine Rolle.

»In Singapur werden neue Themen wie Künstliche Intelligenz schnell und unkompliziert in den Unterrichtsalltag implementiert.«

Micha Pallesche

Wie wird mit den Möglichkeiten der Digitalisierung umgegangen – und inwiefern gibt es auch kritische Diskussionen über deren Nutzung im Unterricht?

Neue Themen wie Künstliche Intelligenz (KI) werden schnell und unkompliziert in den Unterrichtsalltag implementiert. Kritische Reflexion über die Möglichkeiten und Nebenwirkungen von Digitalisierung findet trotzdem statt. Nicht in allen Unterrichtseinheiten wird zwangsläufig mit digitalen Geräten gearbeitet. Digitale Medien werden beim Lernen selbstverständlich und organisch genutzt: In einer Musikstunde haben manche Schüler:innen mit Instrumenten musiziert, andere haben auf Tablets komponiert. An einer Berufsschule, die ich besucht habe, werden die Themen Robotics, IT, KI und Bildung für nachhaltige Entwicklung zusammen gedacht. Die Schule hat ein eigenes Robotic Labor, das komplett einem Raumschiff von Star Wars nachempfunden ist. Ziel ist es, die Schüler:innen durch anregende Lernumgebungen für das Lernen zu motivieren.

Wie ist die Lehrkräftefortbildung in Singapur organisiert?

Das Entscheidende ist: Lehrkräftefortbildungen sind in Singapur verbindlich. Sobald ein neues Thema wie KI auftaucht, werden verpflichtende Fortbildungen angeboten. Zugleich gibt es eine Rechtssicherheit: Lehrkräfte können sich auf die Legislative verlassen, wenn sie Apps und Lerntools einsetzen. 

Wie viel Zeit bleibt Lehrkräften für Weiterbildung und Schulentwicklungsprozesse?

In Singapur unterrichten Lehrkräfte nur zwischen 15 und 20 Stunden. In der restlichen Zeit können sie sich fortbilden, kooperativ Lernsequenzen planen oder Schulentwicklung vorantreiben. Ich bin realistisch genug, um zu sagen: In Zeiten des Lehrkräftemangels ist das in Deutschland nicht möglich. Woran wir aber arbeiten können: Lehrkräfte haben ein unglaublich hohes Ansehen in Singapur. Es ist ein Beruf, den viele gerne machen wollen. In Singapur heißt es: Damit Lehrkräften das Ansehen im Laufe ihres Berufslebens erhalten bleibt, müssen wir sie fortbilden – weil sie nur so immer am Puls der Zeit bleiben.

Deutschland ist ein Flächenland, Singapur ein Stadtstaat. Inwiefern kann sich ein Land wie Deutschland etwas von Singapur abschauen?

In Singapur leben gut fünf Millionen Menschen auf einer Fläche, die doppelt so groß wie Bremen ist. Nicht alles ist also so einfach übertragbar. Trotzdem können gerade einzelne Schulen viel von Singapur lernen. Direkt nach meiner Singapur-Reise hatten wir eine Gesamt-Lehrer:innen-Konferenz. Dort habe ich meine Singapur-Eindrücke geteilt und benannt, was wir an unserer Schule stärker in den Blick nehmen müssen, etwa die starke Fokussierung auf die Basiskompetenzen. Als Schule haben wir abgeleitet: Auch wir wollen wissen, wo unsere Schüler:innen stehen und was sie brauchen. Wir arbeiten nun an einem sauberen Diagnose- und Förderkonzept, zunächst für Mathematik und Deutsch. Auch die verbindlichen Lehrkräftefortbildungen würde ich mir für Deutschland wünschen.

Welche Dinge funktionieren aus Ihrer Sicht auch in Singapur nicht optimal?

Meine eigene Schule legt viel Wert auf projektbasiertes Arbeiten und alternative Leistungsmessung. Für meinen Geschmack habe ich davon noch zu wenig in Singapur gesehen. Das Lernen und Lehren funktioniert doch noch sehr klassisch. Hier könnte es aus meiner Sicht eine bessere Balance geben. Irritierend für mich war auch, dass die meisten Lehrkräfte Kopfhörer mit Mikrofonen trugen und die Kinder über Lautsprecher zuhörten. In einigen Schulen gab es auch Kameras im Klassenzimmer.

Nicht zuletzt spielt lebenslanges Lernen eine große Rolle in Singapur. Wie wird es umgesetzt?

Elternarbeit ist ein wesentlicher Faktor bei der Umsetzung von lebenslangem Lernen. In Singapur gibt es zum Beispiel „Parent Volunteers”, die Schulen regelmäßig und bei unterschiedlichen Anlässen unterstützen. In sogenannten Elternakademien erhalten Eltern außerdem selbst kostenlose Fort- und Weiterbildungen zu unterschiedlichen Themen. Das ist insbesondere für bildungsferne Eltern ein sinnvolles und niederschwelliges Angebot. Die Idee: Wenn Eltern erkennen, dass sich Lernen und Weiterbildung lohnt, wird ihnen auch der Wert des Lernens für ihre Kinder bewusst und sie unterstützen sie besser dabei. Aber auch bei den Schüler:innen selbst wird schon früh ein Verständnis für die Bedeutung von Bildung gesät. Ein Satz des Kultusministers ist bei mir besonders hängengeblieben: „We want for our students that not the school is their world, but the world is their school.“ Schule zu öffnen, sich mit dem Umfeld zu vernetzen und reale Fragestellungen in den Unterricht einzubeziehen – das würde ich mir auch für Deutschland mehr wünschen.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in München, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Sie schreibt nicht nur, sondern moderiert auch Podiumsdiskussionen, gibt Workshops für den journalistischen Nachwuchs und hilft bei der Konzeption von Magazinen. Außerdem ist sie Mit-Autorin der „Freienbibel 2“, dem Praxishandbuch für freie Journalist:innen.

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