Impuls
Partizipation von Schüler:innen: Wie digitale Tools Teilhabe stärken
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veröffentlicht am 26.05.2021
Lesezeit: 11 Minuten
An Schulen in ganz Deutschland treiben Schüler:innen Veränderungsprozesse voran. Digitale Tools helfen ihnen dabei, Ideen zur Schulentwicklung zu formulieren und von den anderen Stakeholdern gehört zu werden. Wir stellen vier partizipative Projekte vor, bei denen die digitale Teilhabe besonders gut gelingt.
Geht es um Schulentwicklung und andere Veränderungsprozesse im Kontext Schule, müssen alle Betroffenen miteinbezogen werden, nicht nur die Bildungsverwaltung oder die Schulleitung. Schüler:innen können als wichtiger Stakeholder besonders wertvolle Expertise einbringen, schließlich sind sie von den Ergebnissen der Schulentwicklung direkt betroffen. Unter welchen Bedingungen also können sie in partizipativen Prozessen beteiligt werden? Und wie können digitale Tools Interaktion und Teilhabe unterstützen? Wir haben einige Best-Practice-Beispiele in Deutschland besucht, die zeigen, wie man das Thema Partizipation von Schüler:innen angehen kann.
»Wir haben uns verstärkt gefragt: Wie können wir die Schüler:innen in Schulentwicklungsprozesse einbinden? Und wie können wir ihre Schule auch wirklich zu ihrer Schule machen?«
1. Station: Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule, Karlsruhe
In Karlsruhe haben sich Schulleiter Micha Pallesche und sein Team schon vor sechs Jahren auf den Weg gemacht, Schüler:innen vermehrt an Fragen der Schulentwicklung zu beteiligen. Damals wurde die Ernst-Reuter-Schule in eine Gemeinschaftsschule umgewandelt – und mit der Transformation tauchten viele neue Fragen auf. „Wir haben uns verstärkt gefragt: Wie können wir die Schüler:innen in Schulentwicklungsprozesse einbinden? Und wie können wir ihre Schule auch wirklich zu ihrer Schule machen?“, erinnert sich Micha Pallesche. Die Schule experimentierte mit verschiedenen Formaten. So wurde etwa der „Rote Salon“ eingeführt, ein offener Ort, an dem sich Schüler:innen, Lehrkräfte, Eltern und andere schulnahe Personen regelmäßig zusammensetzen und überlegen, wie sie die Schule positiv gestalten und weiterentwickeln können. Ob das Essen in der Kantine, Fragen der digitalen Infrastruktur an der Schule oder Projektideen der Schüler:innen, um den Unterricht zu verbessern: Jedes Thema findet Platz im „Roten Salon“. Etwa 50 Personen kommen zu den regelmäßigen Treffen, die während Corona digital stattfinden. Der Austausch zwischen Kindern und Erwachsenen passiert auf Augenhöhe: Jede Idee zählt, jede Meinung wird gehört. Dabei gibt es nur eine Prämisse: „Nach jeder Sitzung muss zumindest eine Idee umgesetzt werden“, erklärt Lehrerin Silvia Koch. Nur so sei die langfristige Motivation der Anwesenden gesichert.
„Bei unserem letzten Treffen haben wir über eine Plattform diskutiert, auf der wir uns in Zukunft virtuell treffen und vernetzen können“, erinnert sich die 15-jährige Schülerin Viola. Sie gehört zu den Schüler:innen, die den Partizipationsgedanken ganz besonders intensiv leben. So engagiert sie sich nicht nur im Roten Salon und der Schüler:innenzeitung, sondern auch im sogenannten Ideenbüro, einem Raum außerhalb der Schule, in dem Schüler:innen kreative Lösungen für den Unterricht und Ideen für das Quartier rund um die Schule entwickeln. Das Ideenbüro ist ein gutes Beispiel, wie eine Schule sich in einer zunehmend digitalisierten Welt ins Quartier öffnen kann und Impulsgeber für die Gemeinschaft wird.
Auch das „Wunderland“ ist durch Teilhabe der Schüler:innen entstanden: In dem ehemaligen Schüler:innenhort gibt es neben einem Ruheraum und einer Filiale des Ideenbüros auch einen Maker Space, in dem Schüler:innen und Lehrkräfte mit digitaler Technik kreativ werden können. Sie können Erklärfilme drehen oder mit Kamera-Drohnen Luftaufnahmen produzieren. Die Gestaltung des Wunderlands lag dabei zu großen Teilen in den Händen der Schüler:innen – und so ist es bis heute. Bleibt die Frage: Was können andere Schulen von den Erfahrungen der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule lernen? „Auf die Haltung kommt es an“, fasst Silvia Koch zusammen. „Wir können zu den Schüler:innen nicht sagen: Im Wunderland könnt ihr machen, was ihr wollt, anderswo habt ihr aber null Mitspracherecht.“ Das sieht auch Viola so: „Alle Schüler:innen wollen Teil dieser Haltung sein. Sogar während der Corona-Krise lebt der Geist des Wunderlands virtuell weiter.“
»Manche Lehrkräfte können die Sicht von uns Lernenden einfach nicht so gut einschätzen.«
2. Station: Leo-Statz-Berufskolleg, Düsseldorf
Vor über einem Jahr schloss sich das Leo-Statz-Berufskolleg einem Projekt der Pacemaker Initiative an: Im Rahmen des Pilotprojekts begleitete die Bildungsinitiative insgesamt 15 weiterführende Schulen in Düsseldorf, um die digitale Transformation nachhaltig in deren Schulentwicklungsprozess zu verankern. Dabei verfolgt die Pacemaker Initiative an den teilnehmenden Schulen einen systemischen Ansatz, bei dem alle Stakeholder eine Stimme bekommen.
Sabrina Isic von der Pacemaker Initiative ist auch für die Schüler:innen-Workshops verantwortlich. Während eines Workshops erarbeitet sie gemeinsam mit den Schüler:innen ihre Vision für die Schule und die Antworten auf folgende Fragen: Was gefällt und was stört uns an unserer Schule? Welche Ideen für Veränderungen haben wir? Und welche Maßnahmen können wir mit Rückendeckung der Lehrkräfte und der Eltern auch wirklich umsetzen? „Wir empowern die Schüler:innen, damit sie am Ende sagen: ,Yo, das ziehen wir durch!‘“ Tom Klöppner, 20 Jahre, beteiligte sich am Projekt der Pacemaker Initiative. „Mir ist es wichtig, unsere Perspektive zu vertreten und so für mehr Verständnis zu sorgen“, sagt Tom, der auch stellvertretender Schulsprecher des Leo-Statz-Berufskollegs ist. Insbesondere in Sachen digitaler Technik gingen die Erfahrungswelten zwischen Lehrkräften und Schüler:innen weit auseinander. „Manche Lehrkräfte können die Sicht von uns Lernenden einfach nicht so gut einschätzen.“
Im Rahmen des Projekts kamen Lehrkräfte und Schüler:innen auf verschiedenen Ebenen miteinander ins Gespräch. Das Berufskolleg startete etwa die Initiative „Schüler:innen als Expert:innen“. Dabei können Lehrkräfte bei Technik- oder SoftwareFragen die Unterstützung von Schüler:innen anfordern. Die Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden wird dabei umgekehrt, Schüler:innen teilen ihre Expertise als Digital Natives mit den Erwachsenen. Außerdem führte das Berufskolleg mithilfe der Pacemaker Initiative ein Barcamp durch: Bei dieser „Un-Konferenz“ erarbeiteten Schüler:innen gemeinsam mit Lehrkräften Wege, wie man Apps und Software noch besser im Unterricht einsetzen könnte – ganz ohne festgelegte Tagesordnung.
Worauf achtet die Pacemaker Initiative, um möglichst verschiedene Perspektiven der Schüler:innen aufzunehmen? „Wir empfehlen, mit einer heterogenen Gruppe zu arbeiten“, sagt Sabrina Isić. „Nicht nur mit Überflieger:innen oder rein mit Jungs, sondern auch mal mit Ruhigen oder vermeintlich Schwierigen.“
3. Station: Kinderrechte-Schulen in Nordrhein-Westfalen
Partizipation von Schüler:innen beginnt nicht erst an den weiterführenden Schulen. Das beweist das Landesprogramm Kinderrechte in Nordrhein-Westfalen, das sich in der Vergangenheit in erster Linie an Grundschulen richtete. Zusammen mit UNICEF Deutschland und Education Y unterstützt das Land Nordrhein-Westfalen Grundschulen darin, ihr Handeln an der UN-Kinderrechtskonvention auszurichten. Von der so entstehenden inklusiven und respektvollen Schulkultur profitieren alle – sowohl die Erwachsenen als Pflichtenträger:innen als auch die Schüler:innen als Rechteinhaber:innen.
„Schulen entwickeln sich zu transformativen Bildungsinstitutionen, wenn Lehrkräfte und Pädagog:innen das Recht auf Beteiligung und Anhörung von Kindern umsetzen und als normativen Bezugspunkt pädagogischen Handelns anerkennen“, sagt Elisabeth Stroetmann, Landeskoordinatorin des Programms. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen führt sie an den Schulen Pädagogische Tage zur UN-Kinderrechtskonvention im Rahmen der Menschenrechtsbildung durch: „Dabei geht es nicht ausschließlich um die Weitergabe von akademischem Wissen, sondern auch um die Frage, wie die Umsetzung von Kinderrechten ganz konkret an der Schule aussehen kann“, erklärt Stroetmann.
120 Grundschulen nahmen bislang am Programm teil. Aus einer Vielzahl methodisch-didaktischer Formate, die jeweils ein Kinderrecht fokussieren, wählen die beteiligten Schulen in enger Absprache mit den Schüler:innen Formate aus, die sie in ihren Schulalltag implementieren. Viele Grundschulen würden einen Klassenrat einführen, ein basisdemokratisches Element, damit die Kinder regelmäßig miteinander über ihre Bedürfnisse und Rechte ins Gespräch kommen. Anderswo hat sich ein geordnetes Unterrichts-Feedback bewährt: Nach jeder Stunde bewerten Schüler:innen den Unterricht, etwa in Form von Punkten, die sie beim Verlassen des Klassenzimmers auf eine Zielscheibe kleben. „An einer Schule wurden sogar Zeugnisse für Lehrkräfte eingeführt“, erzählt Stroetmann.
Im Zuge der Corona-Pandemie verlagerte das Landesprogramm Kinderrechte einen Teil seiner Inhalte in den digitalen Raum. Ein digitales Selbstlernmodul schult pädagogische Fachkräfte auf interaktive Weise in Sachen Kinderrechte. Ein Online-Rechte-Check informiert Kinder und Jugendliche mithilfe von kurzen Filmen und kindgerechten Texten über ihre Rechte. Was sind die Stufen der Partizipation? Und wie genau klappt die Umsetzung in der Schule? Ein Online-Quiz hilft den Schüler:innen dabei, ihr Wissen gleich anzuwenden und zu überprüfen.
Aus Umfragen weiß Education Y über die Wirkung des Programms Bescheid: Das Schulklima an den beteiligten Schulen hat sich verbessert, die Schüler:innen wurden selbstbewusster und kennen ihre Rechte. Außerdem können sie zwischen Bedürfnissen und Rechten unterscheiden. An weiterführenden Schulen gelten die Abgänger:innen der Kinderrechte-Schulen mittlerweile als „anspruchsvoll und selbstbewusst“, erzählt Elisabeth Stroetmann, weil sie Rechte reklamieren und sich bei Ungerechtigkeiten zu Wort melden. Stroetmann freut das: „Für mich ist das der beste Erfolgsindikator.“
4. Station: SV-Bildungswerk, Berlin
Das Bildungswerk für Schülervertretung und Schülerbeteiligung (SV-Bildungswerk) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Berlin, der 2005 gegründet wurde. Das vorrangige Ziel: die Erfahrungen von aktiven Schüler:innen zu sammeln und an kommende Generationen weiterzugeben. Dies soll garantieren, dass das wertvolle Wissen der SV-Aktiven nicht verschwindet, sobald sie die Schullaufbahn beendet haben.
Heute bildet das SV-Bildungswerk vor allem junge Multiplikator:innen aus – mit den Schwerpunkten demokratische Schulentwicklung, Nachhaltigkeit, digitale Bildung und Inklusion. Mithilfe von digitalen und analogen Workshops und Veranstaltungen werden Schüler:innen in ganz Deutschland darin gestärkt, ihre Belange, Ideen und Sichtweisen aktiv in Schule und Gesellschaft einzubringen. Dabei steht immer der Peer-Learning-Ansatz im Vordergrund: Die Workshop-Teilnehmer:innen sollen ihr Wissen nicht nur persönlich nutzen, sondern später an andere Kinder und Jugendliche weitergeben.
Die 16-jährige Samira Ghandour besucht die Hagenbeck-Schule in Berlin-Pankow. An ihrer Schule ist sie stellvertretende Schüler:innensprecherin und zusätzlich seit Juni 2020 im Vorstand des SV-Bildungswerks aktiv. „Früher war das Thema Engagement und Beteiligung ganz weit weg für mich“, erzählt sie. Bei einer Fridays-for-FutureDemonstration kam sie zum ersten Mal mit Partizipation und Jugendbeteiligung in Berührung, später lernte sie bei der Klimazukunftskonferenz das SV Bildungswerk kennen. „Ich war sofort Feuer und Flamme“, erzählt sie, „zum ersten Mal habe ich erlebt, dass wir Jugendlichen gefragt werden, wie wir eine Konferenz gestalten wollen. Aus der Schule kannte ich das bislang nicht.“
Mittlerweile setzt sich Samira Ghandour an ihrer Schule und auch außerhalb sehr aktiv für Themen ein, die ihr wichtig sind: Feminismus, Gleichberechtigung und Klimaschutz. Im Rahmen ihres Engagements als Klimabotschafterin hielt sie im letzten Jahr für Studierende in Wien einen digitalen Workshop ab: „Dass ich trotz des Altersunterschieds ernst genommen wurde, fand ich sehr schön.“ Aufgrund der Corona-Pandemie findet der größte Teil von Samiras Engagement derzeit online statt, in Form von Videokonferenzen und digitalen Seminaren. Auch wenn sich Samira schon wieder auf persönliche Begegnungen freut, sieht sie auch Vorteile im digitalen Engagement, insbesondere für schüchterne Schüler:innen: „Ich glaube, dass introvertierten Menschen das Engagement im digitalen Raum leichter fällt. Hier werden ihnen neue Türen geöffnet, um sich zu beteiligen und ihre Ziele zu erreichen.“
Um Partizipation als nachhaltigen Wert in der Schulkultur zu verankern, müssen Lehrkräfte und Schüler:innen zuallererst Instrumente der Teilhabe kennenlernen, die sie dazu befähigen, miteinander auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.
Fazit: Gelingensbedingungen für Teilhabe
Wann also ist Partizipation und Teilhabe von Schüler:innen von Erfolg gekrönt? Mit Blick auf die verschiedenen Initiativen in ganz Deutschland wird klar, dass erfolgreiche Partizipationsprojekte einiges gemein haben.
Um Partizipation als nachhaltigen Wert in der Schulkultur zu verankern, müssen Lehrkräfte und Schüler:innen zuallererst Instrumente der Teilhabe kennenlernen, die sie dazu befähigen, miteinander auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Dies kann durch Initiativen wie das Landesprogramm Kinderrechte oder die Pacemaker Initiative angestoßen werden, aber auch durch die Auseinandersetzung mit politischen Bewegungen oder gesellschaftlichen Initiativen, die außerhalb des Schulkontextes im privaten Umfeld stattfinden. Digitale Tools können Prozesse der Partizipation erleichtern oder beschleunigen, insbesondere für schüchterne Schüler:innen, die im direkten Austausch zurückhaltend sind.
Wenn Partizipation aber auch nachhaltig gelebt werden soll, müssen sich die Haltung und das Mindset aller Beteiligten verändern. Lehrkräfte und Eltern müssen den Schüler:innen Vertrauen schenken und ihre Meinungen ernst nehmen – und das nicht bloß im Rahmen eines abgesteckten Projekts, sondern im gesamten Schulalltag. Lehrkräfte müssen darüber hinaus einen Perspektivwechsel zulassen und akzeptieren, dass Schüler:innen auf manchen Gebieten Wissens- und Erfahrungsvorsprünge vorweisen können. Schüler:innen wiederum müssen eine aktive Haltung des Gestaltens und Kreativwerdens einnehmen, statt sich passiv „beschulen“ zu lassen. Im besten Fall springt dann der „Funke der Partizipation“ auf eine möglichst breite und heterogene Schüler:innengruppe über – und ergreift so nicht nur einzelne, besonders aktive Schüler:innen und Lehrkräfte, sondern verändert die ganze Schulkultur.