Gastbeitrag
Schule für morgen – besser vom Kind aus gedacht?
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veröffentlicht am 07.11.2022
Lesezeit: 7 Minuten
Hören wir Kinder und Jugendlichen bei der Gestaltung von Schule überhaupt ausreichend zu? Wie ist dann der Blick auf die 21st Century Skills oder die Frage der Digitalität? Wir wollen gemeinsam überlegen, welchen Herausforderungen sich Schulen dabei aktuell stellen müssen.
Wenn Sie diesen Text lesen, sind Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Lehrer:in so wie wir oder zumindest an schulischer Bildung besonders interessiert. Und sie werden ganz ähnliche Erfahrungen machen wie wir beide:
Ruth Stocker, Lehrerin an der Willi-Burth-Schule in Bad Saulgau (Baden-Württemberg)
»AUCH ICH STELLE DIE FRAGE NACH DER SINNHAFTIGKEIT DESSEN, WAS ICH UNTERRICHTE, NICHT«
Ich bin Mutter von drei Kindern. Das älteste Kind ist 15, das jüngste 9. Alle drei besuchen die Schule. Ich war auch mal Schülerin. Nicht immer gut, aber immer gern. Jetzt bin ich Lehrerin. Ich stehe auf der anderen Seite des Lehrerpults. Ich unterrichte Kinder, die meistens zuhören, manchmal mitarbeiten und dann ihr Abitur machen werden, in welchem sie ganz viel von dem wiedergeben, was sie bei und von mir gelernt haben. Die Frage, ob das, was sie im Abitur abrufen können, noch zeitgemäß ist, stellen sie in der Oberstufe kaum noch, denn schlussendlich wird ja auf das Abi hingearbeitet. Auch ich stelle die Frage nach der Sinnhaftigkeit dessen, was ich unterrichte, nicht. Meine Schüler:innen wollen ihr Abitur so gut wie möglich machen, um später studieren zu können. Und so pauken wir gemeinsam STOFF.
Ruth Stocker ist Lehrerin an der Willi-Burth-Schule in Bad Saulgau (Baden-Württemberg).
Matthias Förtsch, Schulleiter des Gymnasiums am Bischof-Sproll-Bildungszentrum in Biberach an der Riß
»JETZT, ALS SCHULLEITER, BIN ICH EIN GESTALTENDER TEIL DES SYSTEMS«
Ich bin Vater von zwei Kindern, das jüngere erlebt gerade den Übergang vom spielerischen Lernen in Freizeit und Kindergarten hin zur Schulpflicht. Schule war für mich selbst Leiden am fehlenden Miteinander in meiner Klasse, aber auch Erfolgserleben und Aufbau von Selbstbewusstsein, vor allem in der Oberstufe. Jetzt, als Schulleiter, bin ich ein gestaltender Teil des Systems. Ich bekomme Ressourcen zur Verteilung an das Personal zugewiesen. Diese Stunden sind leider zu fast 100 Prozent fachgebunden, nur wenige Stunden werden der Begleitung von Kindern und Jugendlichen direkt zugeschrieben.
Matthias Förtsch ist Schulleiter des Gymnasiums am Bischof-Sproll-Bildungszentrum in Biberach an der Riß.
Manches, was wir als Lehrkräfte in unseren Aufgaben tun, fühlt sich unwirklich, nicht mehr authentisch an. Wir halten uns an Bildungspläne, Notenskalen, Vorschriften zur Erhebung von Leistungen, Schuljahresabläufe und -pläne. In der großen Mehrheit liegt uns aber das Kindeswohl und die Orientierung an den Schüler:innen am Herzen – das ist immer noch einer der wesentlichen Gründe dafür, warum Menschen den Beruf der Lehrkraft ergreifen. Wir spüren also eine Dissonanz, die wir allein nicht aufzulösen in der Lage sind. Woran liegt das?
Drei Herausforderungen von Schule
- Die Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen hat sich vom schulischen Arbeiten weit entfernt: Die Schule nach dem Unterricht verlassen heißt für viele Schüler:innen immer noch: das Handy einschalten, soziale Beziehungen im Netz weiterpflegen, spielen, recherchieren, sich vernetzen. Sie sehen, wie ihre Eltern arbeiten, Reisen buchen, Nachrichten lesen und hören und vieles mehr. Und am nächsten Tag blenden die Kinder und Jugendlichen all dies mit Betreten des Schulgebäudes wieder aus?!
- Viele Kinder und Jugendliche verlieren im Laufe ihrer Bildungskarriere zunehmend das Interesse an und die Lust auf schulisches Lernen: Die kindliche Neugier, die das Lernen von Beginn des Lebens an begleitet, trägt oft noch über größere Zeiträume der Grundschulzeit, sie wird aber etwa mit dem Eintritt in die Pubertät deutlich weniger. Schule dient dann oft nur der Abgrenzung – Selbstwirksamkeitserfahrungen werden eher selten gemacht, und wenn dann z. B. über die Schüler:innenvertretung.
- Der schulische Lernerfolg hängt in Deutschland in hohem Maße an den Eltern: Das (auch kulturelle) Kapital der Eltern bestimmt weiter, wie erfolgreich die Kinder die Anforderungen des Bildungssystems bewältigen und welche Chancen sie für das spätere Leben mitnehmen.
Wankt das Schulsystem?
Wir alle erinnern uns noch an die Schülerin Naina, die 2015 mit ihrem Tweet die Bildungsdebatte kurz in Gang brachte. Sie schrieb, sie habe mit ihren fast 18 Jahren „keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber [sie könne] ’ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen“. Viele Schüler:innen in Deutschland und Österreich gaben ihr Recht, selbst die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka äußerte sich zu diesem Tweet. Doch nicht alle Reaktionen fielen positiv aus, so manch einer meinte, dass auch dem Elternhaus ein gewisses Maß an Verantwortung zu übertragen sei. Sieben Jahre später stellt sich die Frage noch immer: Hören wir den Kindern und Jugendlichen überhaupt ausreichend zu?
Hören wir den Kindern und Jugendlichen überhaupt ausreichend zu?
Es gab eine Zeit, da wurde Schule nämlich nicht infrage gestellt. Die Bänke standen so, wie es sich vermeintlich gehörte, die fast ausschließlich männlichen Lehrer dozierten, die Schüler:innen notierten und schrieben mit. Dann kam das Buch und mit ihm die Angst, dass sich Lehrkräfte erübrigen würden. Wo kommen wir denn hin, wenn sich plötzlich jeder und jede Wissen aus Büchern aneignen kann? Doch die Bänke blieben in Reih und Glied, das Pult weiterhin vorne, Lehrkräfte weiterhin Wissensvermittler:innen, die Abschlusszertifikate wie das Abitur weithin anerkannt. Und dann? Wurde unsere Welt ein bisschen schneller und ein bisschen offener und ein bisschen weitsichtiger. Und ein bisschen mehr … ja was eigentlich?
Die Entwicklung in der Gesellschaft, die Öffnung der Welt, im Sinne einer sich stetig erweiternden Flut an Informationen und allgemein zugänglichem Wissen brachte und bringt ein System wie das Bildungssystem ins Wanken. Und noch während diese Worte niedergeschrieben sind, wird klar: Das stimmt so nicht. Das Bildungssystem wankt nicht. Dazu ist es zu schwerfällig. Und „schwerfällig“ ist in diesem Zusammenhang wohl auch zu negativ konnotiert.
Schule ist zurecht auch bewahrend
Denn Schule soll verlässlich bleiben. In einer sich immer gleich schnell drehenden Welt stellt unser Bildungswesen ein System dar, das nicht durch Veränderung glänzt, sondern durch Beständigkeit und Zuverlässigkeit. Nicht jede Entwicklung wird per Definitionem erst einmal mitgemacht, und manchmal hat man das Gefühl, man lebe wie im Märchen, oder besser gesagt wie in Grimms „Dornröschen“: im 100-jährigen Tiefschlaf. Diese Konstanz, diese Verlässlichkeit hat auch etwas Beruhigendes.
Doch ist es das, was wir für die Bewältigung der neuen Herausforderungen brauchen? Wir befinden uns in einer Zeit größter Unsicherheit: Krisen, Kriege und Klimawandel beschäftigen nicht nur Erwachsene, diese Unsicherheit spüren wir auch in den Schulen. Kinder und Jugendliche sind einer Informationsflut ausgesetzt, mit der man nur umgehen kann, wenn man gezielt filtert und dabei immer auch weiß, dass nicht alles, was im Netz steht, wirklich wahr sein muss. Fake News und Verschwörungstheorien gehören genauso zu unserem Alltag wie Tiktok, Twitter und Twitch und fordern unsere Demokratie heraus. Und so muss die Schule von heute den Herausforderungen von morgen zumindest genügen, besser noch, sie sollte sich diesen stellen und Kinder und Jugendliche darauf vorbereiten. Das wird sie aus sich heraus nicht schaffen.
Und so muss die Schule von heute den Herausforderungen von morgen zumindest genügen, besser noch, sie sollte sich diesen stellen und Kinder und Jugendliche darauf vorbereiten.
Schule: Vom Kind aus denken?
Wir sind der Ansicht, dass sie für gelungene Antworten auf diese Herausforderungen konsequent vom Kind aus gedacht und vom Kind ausgedacht werden sollte und muss. Denn eine Schule, die Kinder und Jugendliche wirklich und authentisch ernst nimmt, tut bereits viele der Dinge, die in Bildungsdebatten immer wieder als Anforderungen an Schule herangetragen werden. In einer solchen Schule wird z. B. nicht über Digitalisierung diskutiert. Schule wird im Sinne von und gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen fortwährend gestaltet, die Einbeziehung der digitalen Lebenswelt ist eine Selbstverständlichkeit. Neue Formen der Beteiligung werden dabei ausprobiert und Ergebnisse sind immer vorläufig.
Herausforderungen wie Digitalisierung und Corona-Lockdown haben reformpädagogisch orientierte Schulen nach Meinung vieler Expert:innen vermeintlich leichter, vielleicht natürlicher bewältigt. Was könnte diese Schulen dazu befähigt haben? Dies wollen wir, kombiniert mit der Vorstellung einer Konzeption am Beispiel der Medienpädagogik gerne bei der kommenden Konferenz Bildung Digitalisierung 2022 mit Ihnen diskutieren.