Gastbeitrag
UnLearn School – Die fünf Dimensionen des Lernkulturwandels
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veröffentlicht am 15.08.2024
Lesezeit: 8 Minuten
Wir erleben momentan eine Zeit vieler Transformationsprozesse. Gesellschaft verändert sich. Lernen verändert sich. Und auch Schule steht vor der Aufgabe, sich zu verändern, Entwicklungen aufzugreifen und junge Menschen zu befähigen, in dieser transformativen Zeit Verantwortung für sich selbst, für andere und die Welt zu übernehmen. Das im Rahmen von „UnLearn School“ entworfene Entwicklungsmodell für den Lernkulturwandel zeigt fünf zentrale Dimensionen und Entwicklungsgrade auf diesem Weg zum Lernen der Zukunft auf.
Viele Schulen machen sich auf den Weg zum Lernen der Zukunft. Sie hinterfragen alte Gewohnheiten und Normalitäten. Sie integrieren neue Strukturen und Lernformen, die wirkungsvolles und am Individuum ausgerichtetes Lernen ermöglichen. Sie verabschieden sich von Strukturen, mit denen viele Menschen aufgewachsen sind, die jahrzehntelang für selbstverständlich gehalten wurden – und gehen damit in einen bewussten „Verlernprozess“. Auf diese Weise schaffen sie Raum für neue Wege bei der Gestaltung von Schule und Lernen, sodass den Bedarfen der Schüler:innen und der Gesellschaft im 21. Jahrhundert Rechnung getragen wird.
Doch wie genau sieht diese Veränderung aus? Was haben diese Schulen gemeinsam, die sich auf dem Weg befinden? Worauf kommt es an, um einen solchen Lernkulturwandel zu gestalten?
Fünf Dimensionen des Lernkulturwandels
Um Antworten darauf zu finden, hat die gemeinnützige Organisation beWirken im Rahmen der Mission „UnLearn School – Auf dem Weg zum Lernen der Zukunft“ ein Entwicklungsmodell entworfen, das fünf zentrale Dimensionen skizziert und jeweils drei wichtige Entwicklungsgrade für einen Lernkulturwandel sowie die Transformation von Schule aufführt. Das Modell hilft zu verstehen, welche Bilder und Muster in einzelnen Schulen vorherrschen und wo mögliche nächste Entwicklungsschritte liegen können. Es ist keine Anleitung zur Transformation, sondern vielmehr ein Unterstützungsinstrument zur Reflexion, zur Definition des Status quo oder auch für die Zieldefinition. Manche Übergänge sind fließend und in einigen Fällen können Entwicklungsschritte sogar übersprungen werden. Alle Phasen im Modell kennzeichnen aber grundsätzliche Veränderungen in den Erwartungen, Rollen oder auch Haltungen rund um das Lernen und die Organisation von Schule.
Dimension 1: Eigenständiges Handeln der Lernenden
Die erste Dimension beschreibt die Veränderung der Rolle der Lernenden und formuliert gleichzeitig das Ziel des Lernprozesses. Dieses liegt zum einen in der Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln im Lernen, also der selbstbestimmten Gestaltung des eigenen (lebenslangen) Lernprozesses. Zum anderen geht es aber auch um die Fähigkeit, jenseits des Lernens für sich selbst (ich und mein Leben) und für andere (ich im sozialen Kontext) in die Verantwortung zu gehen und Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Der von der OECD (2019) hierfür geprägte Begriff der Student Agency beschreibt diese Kompetenz und Haltung.
Entwicklungsgrade
- Kaum Übernahme von Verantwortung: Lernende gestalten die Form und den Inhalt des Lernprozesses kaum oder gar nicht mit und sind nur in den gesetzlich vorgegebenen Formen an Entscheidungen in Schule beteiligt.
- Mitverantwortung für Lernprozess und Schule: Lernende tragen eine deutliche Mitverantwortung für die Gestaltung des Lernprozesses, beispielsweise in offenen Lernformen. Sie erhalten Möglichkeiten und Unterstützung, aktiv und selbstbestimmt den Schulalltag mitzugestalten, und sind an vielen Entscheidungsprozessen beteiligt.
- Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft: Lernende übernehmen Verantwortung in einem Maße, das deutlich über den eigenen Lernprozess und die Schule hinausgeht. Verantwortungsübernahme und Selbstwirksamkeitserfahrungen wirken auch über den Kontext von Schule hinaus und gehen zunehmend auf Eigeninitiative der Lernenden zurück.
Dimension 2: Lernbegleitung und offene Lernformen
Diese Dimension stellt die Ausgestaltung des Lernprozesses und die Rollen im Lernen dar. Die verschiedenen Entwicklungsgrade beschreiben die Art des Lernens, unabhängig von spezifischen Lern- oder Schulformen. Somit kann anhand des Entwicklungsgrads auch analysiert und diskutiert werden, welche Lernformen und Methoden oder welche neuen Rollen helfen, in eine veränderte Haltung gegenüber Lernenden zu kommen und zu prüfen, welche Rahmenbedingungen nötig sind, um den nächsten Entwicklungsgrad zu erreichen.
Entwicklungsgrade
- Fremdgesteuertes Lernen: In Form des klassischen Unterrichts werden überwiegend klar vorgegebene Inhalte und Übungen in vorgegebenen Unterrichtszeiten oder Zeitabschnitten mit klarem Lernziel abgehandelt und abgeprüft.
- Selbstgesteuertes Lernen: In differenzierten Unterrichtskonzepten oder bereits offenen Lernformen werden Entscheidungen und selbstständige Steuerung ermöglicht. Bestimmte Aspekte wie Geschwindigkeit, Inhalte oder Lernzeiten können von Lernenden mitgestaltet werden.
- Selbstorganisiertes Lernen: Die offenen Lernformen überlassen einen hohen Grad an Steuerung und Organisation den Lernenden selbst. Durch unterstützende Rollen, wie eine Lernbegleitung, werden mit methodischen und inhaltlichen Angeboten sowie alternativen Prüfungsformen lediglich Rahmenbedingungen für Lernende geschaffen.
Dimension 3: Gestaltung von Lernorten
In dieser Dimension wird dem Lernort als ein wichtiges gestaltendes und den Lernprozess beeinflussendes Element Rechnung getragen. Das Spektrum der Entwicklung erstreckt sich dabei von den historisch gewachsenen Formen von Schule mit funktional gestalteten Räumen über die Entwicklungsmöglichkeiten von Schule hin zu einem offenen Lernort in regionalen Ökosystemen der Bildung bis hin zur Schule als abstrakte Form der verschiedenen Lernorte und Raumkonzepte.
Entwicklungsgrade
- Räume für eine Lernform geeignet: Die Räume bestehen vorrangig aus klassischen Klassenzimmern, die in der Regel eine entsprechende Möblierung für einen auf die Lehrkraft ausgerichteten Unterricht besitzen. Die Schulen sind meist als Flurschulen geplant und gebaut, mit wenig dynamisch nutzbaren Flächen außerhalb der Klassenzimmer.
- Lernorte für multiple Arten des Lernens: Räume und andere Lernorte sind überwiegend so ausgestattet und gegebenenfalls gebaut oder umgebaut, dass sie diverse Formen von Lernkonzepten ermöglichen und einladen, neue Lernformen auszuprobieren. Es sind häufig Lernorte, die selbstgesteuertes Lernen und den Austausch mit anderen Lernenden ermöglichen oder sogar befördern.
- Dynamische Lernorte und Öffnung nach außen: Hier vollzieht sich ein umfassender Perspektivwechsel auf Schule als Lernort. Raumkonzepte und Lernorte entwickeln sich dynamisch durch ihre Nutzung und befinden sich auch außerhalb des klassischen Schulgebäudes. Sie lassen sich außerdem mit einer hybriden Raumnutzung vereinbaren, die nicht ausschließlich schulischen Zwecken dient.
Dimension 4: Lernen in der Digitalität
Ein wichtiger Aspekt der Veränderung von Lernen ist die Digitalisierung von Informationen und ganzen Teilen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die sich daraus entwickelnde Kultur der Digitalität wird in dieser Dimension thematisiert. In vielen Bereichen des Lebens hat Digitalität verändert, wie soziales Zusammenleben und Kommunikation ablaufen, wie Entscheidungen getroffen werden, wie gearbeitet, produziert oder konsumiert wird. Informelle und digitale Möglichkeiten des Wissenserwerbs haben sich enorm erweitert und prägen unsere Lernprozesse, auch im außerschulischen Bereich.
Entwicklungsgrade
- Digitalität als Werkzeug: Digitalität wird im Unterricht oder im Lernprozess als reines Werkzeug genutzt. Häufig ersetzen digitale Medien oder Endgeräte hierbei lediglich analoge Medien, beispielsweise durch die Nutzung digitaler Schulbücher.
- Digitalität als Methode: Digitalität wird zu einer Ermöglicherin neuer Lernformen und Methoden, die erst durch digitale Werkzeuge und Kontexte umgesetzt werden können oder eine neue Qualität bekommen.
- Lernen in der Kultur der Digitalität: Digitale Formen der Schulorganisation, der Zusammenarbeit und des Lernens ermöglichen selbstorganisiertes und räumlich flexibles oder sogar hybrides Lernen. Die Nutzung digitaler Ressourcen ist ein selbstverständlicher Teil des Lernens und der Zusammenarbeit, so wie dies im Alltag der meisten Menschen bereits der Fall ist.
Dimension 5: Zusammenarbeit in der Schulgemeinschaft
Die Heterogenität von Lernenden und die zukünftige Veränderungsfähigkeit, um neue technische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in Schule abzubilden, braucht gut funktionierende Zusammenarbeit und Strukturen. Diese Dimension beschreibt die Veränderung und den Lernprozess der Schule als Organisation. Sie markiert dabei wichtige Wendepunkte und Unterschiede in den Rollen und Prozessen der Schulorganisation hin zu einer resilienten, veränderungsfähigen Organisation.
Entwicklungsgrade
- Einzelverantwortung der Akteure: Klassische Formen der Unterrichtsentwicklung und -versorgung sind vorherrschend, in denen hauptsächlich die einzelne Lehrkraft für ihren Fachunterricht verantwortlich ist. Kooperation im Kollegium und der Schulgemeinschaft ist hauptsächlich auf organisatorische Aspekte beschränkt.
- Teamarbeit und Kooperation: Gemeinsame Vorbereitung von Lernprozessen, gemeinschaftliches Wissensmanagement oder andere Formen der strategischen und organisatorischen Zusammenarbeit sind stark ausgeprägt und strukturell verankert. Es gibt gute Koordinations- und Führungsrollen und eine gute Feedbackkultur in der Schulgemeinschaft und im Kollegium.
- Schule als lernende Organisation: Neben guten Formen der Zusammenarbeit und arbeitsteiliger Organisation sind auch multiprofessionelle Teams, feste Prozesse für Zusammenarbeit, Evaluierungen und Personalentwicklung etabliert, die auch Akteure aus dem Umfeld der Schule einbeziehen. Die Schule und die handelnden Personen haben Kompetenzen, feste Strukturen und Prozesse sowie freie Ressourcen für Projektarbeit, Schulentwicklung und Lernexperimente.
Den Lernkulturwandel erleben und gestalten
Die fünf Dimensionen laden dazu ein, in die Reflexion und den Austausch über die eigene Schule und die Zukunft von Schule im Allgemeinen zu gehen. Dabei unterstützen auch die Materialien der Mission „UnLearn School – Auf dem Weg um Lernen der Zukunft“ von beWirken, die mit fünf Filmepisoden sowie einem Buch diese Dimensionen mit Good-Practice-Beispielen von Schulen praxisnah aufbereitet. Zusammen mit dem Entwicklungsmodell für den Lernkulturwandel ermöglichen sie Inspiration und das Lernen von anderen Schulen. Damit können sie hilfreicher Start- oder Motivationsimpuls sein für den individuellen und kollektiven (Ver-)Lernprozess für das Lernen der Zukunft und für die Veränderung von Schule.
Literatur
OECD (2019): OECD Lernkompass 2030. OECD-Projekt Future of Education and Skills 2030 – Rahmenkonzept des Lernens. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/oecd-lernkompass-2030-all
Zierer, T., Holle, J. & Adam, B. (2023): UnLearn School – Auf dem Weg zum Lernen der Zukunft. Lüneburg: beWirken