Gastbeitrag
Unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse an unerwartbar erfolgreichen Schulen im digitalen Wandel – eine ICILS-Vertiefungsstudie
von
veröffentlicht am 10.10.2023
Lesezeit: 5 Minuten
Wie werden unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Digitalität an organisational resilienten Schulen in Deutschland gestaltet? Dieser Frage geht die vom BMBF geförderte ICILS-Vertiefungsstudie „Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel“ (UneS) nach. Übergeordnetes Ziel des Projekts ist die Untersuchung der Gestaltung und Unterstützung von chancengerechten digitalisierungsbezogenen Bildungsprozessen.
Die Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen unter den Bedingungen der Digitalität wirft unter anderem die Frage auf, wie aktuelle und zukünftige Entwicklungen auf Schul- und Schulsystemebene bildungsgerecht gestaltet und gesteuert werden können. Im Kern geht es damit auch um Bildungsgerechtigkeit der aufwachsenden Generation sowie ihrer Zukunftsperspektiven in einer digital geprägten Welt. Die ICILS-Studien (International Computer and Information Literacy Study) von 2013 (Bos, Eickelmann, Gerick, Goldhammer, Schaumburg, Schwippert, Senkbeil, Schulz-Zander & Wendt 2014) und 2018 (Eickelmann, Bos, Gerick, Goldhammer, Schaumburg, Schwippert, Senkbeil & Vahrenhold 2019) zeigen allerdings, dass Schüler:innen aus sozioökonomisch weniger privilegierten Familien durchschnittlich über deutlich geringere digitale Kompetenzen verfügen als ihre gleichaltrigen Mitschüler:innen (Drossel, Eickelmann & Vennemann 2019; Eickelmann, Gerick & Vennemann 2019) – ähnlich wie dies bereits seit Jahrzehnten für fachspezifische Kompetenzen aufgezeigt wird.
In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten UneS-Projekt („Unerwartbar erfolgreiche Schulen im digitalen Wandel“) werden diejenigen ICILS-Schulen in Deutschland aus dem letzten Erhebungszyklus (ICILS 2018) vertiefend untersucht, denen es trotz herausfordernden Lagen gelungen ist, die digitale Spaltung zu überwinden. Diese Schulen werden als organisational resilient bezeichnet. Die vertiefende Untersuchung dieser besonderen Schulen verfolgt dabei das Ziel, gemeinsame Merkmale zu identifizieren, um die Erkenntnisse auch für andere Schulen nutzbar zu machen. Einen bedeutsamen Untersuchungsgegenstand stellt hier die unterrichtliche Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen unter den Bedingungen der Digitalität dar, da sich dabei zahlreiche Potenziale für den fachlichen und überfachlichen Kompetenzerwerb der Schüler:innen ergeben.
Design der UneS-Studie mit Fokus auf die Auswertung der lernförderlichen Mediennutzung
Um aufzuzeigen, wie unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Digitalität an organisational resilienten Schulen gestaltet werden, wurden 14 leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften der achten Jahrgangsstufe an sieben UneS-Schulen und sieben Gruppeninterviews mit jeweils fünf Schüler:innen der achten Klasse an vier UneS-Schulen in dem Zeitraum September 2021 bis Januar 2022 durchgeführt.
Das Projekt UneS im Überblick:
- Fokus: Das Projekt nimmt organisational resiliente Schulen („unerwartbar erfolgreiche“ Schulen) der Studie ICILS 2018 in den Blick.
- Ziel: Die Studie untersucht Bildungsprozesse in der Digitalität an organisational resilienten Schulen und wie diese arrangiert werden.
- Definition: Schulen wurden mittels der Daten der Studie ICILS 2018 als organisational resilient identifiziert, wenn der mittlere sozioökonomische Status (SES) der Achtklässler:innen unterdurchschnittlich ausfiel und sich die mittleren digitalen Kompetenzen überdurchschnittlich in der repräsentativen Gesamtverteilung für Deutschland einordnen ließen.
- Übergeordnete Fragestellung: Welche Gelingensbedingungen und Faktoren auf der Schul- und Unterrichtsebene leisten einen Beitrag, um digitale Kompetenzen von Schüler:innen in Schulen mit herausfordernder Schüler:innenzusammensetzung zu fördern?
- Förderung und Laufzeit: Das UneS-Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung von Oktober 2020 bis Dezember 2023 gefördert.
Die Interviews wurden unter Rückbezug der Kriterien für guten Unterricht (Klieme 2006; Lachner, Scheiter & Stürmer 2020) analysiert, sodass der Fokus der Auswertung unter Berücksichtigung der Bedingungen der Digitalität auf drei Faktoren gelegt werden konnte: die effiziente Klassenführung, die kognitive Aktivierung und die konstruktive Unterstützung.
- Die effiziente Klassenführung beschreibt eine störungspräventive und strukturierte Führung von Unterricht durch Lehrkräfte.
- Die kognitive Aktivierung wird erreicht, wenn Aufgaben und Methoden hinsichtlich des Verstehens und Transfers gestaltet sowie strukturierte und geeignete Repräsentationen für das Lernen gewählt werden.
- Die konstruktive Unterstützung umfasst ein Klassenklima, das für die Motivation und das Interesse von Schüler:innen förderlich ist.
Erste Ergebnisse der UneS-Studie zur lernförderlichen Mediennutzung
Bei der effizienten Klassenführung zeigen sich bei den organisational resilienten Schulen Aspekte einer individuellen Förderung von Schüler:innen im Umgang mit Heterogenität durch digitale Medien als relevant. In diesem Zusammenhang werden digitale Medien für Aufgaben und Übungen differenziert nach Interessen und Wissensständen genutzt. Die digitale Organisation von Unterricht wird zudem vereinfacht, indem die Unterrichtsplanung, Zusatzmaterialien, die Sicherung und Verteilung von Aufgaben und Terminen digital für alle zugänglich und innerhalb eines Servers genutzt werden. Zudem kann das selbstgesteuerte Lernen gefördert werden, indem durch digitale Medien neue Möglichkeiten hinsichtlich der Lernmethoden, der Inhalte, der Quellen sowie von Zeit und Ort geschaffen werden. Weiterhin achten Lehrkräfte von organisational resilienten Schulen darauf, digitale Medien effizient und lernförderlich einzusetzen und Schüler:innen beim Erlernen der Funktionsweisen und der damit verbundenen Möglichkeiten zu unterstützen. Sie nutzen digitale Medien dabei selbst vielfältig und regen diese Form der Nutzung bei Schüler:innen an.
In Bezug auf die kognitive Aktivierung ließ sich feststellen, dass diese an organisational resilienten Schulen durch den Einsatz diverser Tools und Apps angeregt wird, indem Inhalte anwendungsorientierter oder spielerisch bereitgestellt werden. Der Einsatz von Lernvideos und Software wird unter anderem genutzt, um das Vertiefen von Inhalten beim Lernen im häuslichen Umfeld zu ermöglichen.Die konstruktive Unterstützung an organisational resilienten Schulen zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Lehrkräfte und Schüler:innen sich gegenseitig beim unterrichtlichen Einsatz digitaler Medien helfen, indem eine Kultur des Miteinander-Lernens geschaffen wird. Auch wird eng mit digitalisierungsbeauftragten Personen zusammengearbeitet, wenn Unterstützungsbedarfe vorhanden sind. Zudem werden unterstützende Zusatzangebote für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht an organisational resilienten Schulen etabliert, beispielsweise in Form von außerunterrichtlichen Aktivitäten oder Aufbaukursen.
Ausblick – Die UneS-Studie ermittelt weitere Faktoren
Neben den Ergebnissen zur Analyse der unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Digitalität an organisational resilienten Schulen mit dem Fokus der lernförderlichen Mediennutzung zielt das Projekt darauf ab, weitere Faktoren zu ermitteln, die organisational resiliente Schulen gemeinsam haben, um weitere Anhaltspunkte zur Reduktion von Bildungsungerechtigkeit auszumachen (Drossel, Oldak, Bette, Eickelmann & Schreyer in Vorbereitung). Aktuelle Entwicklungen können auf der Website des UneS-Projekts nachvollzogen werden. Zum Jahresende werden im Sinne eines Transfers auf Grundlage der Erkenntnisse der Studie sowohl Handlungsempfehlungen für chancengerechte, digitalisierungsbezogene Schulentwicklungsprozesse für Einzelschulen als auch für Schulträger auf der Website des Projekts zur Verfügung gestellt. Zudem werden die Ergebnisse des Projekts im Rahmen einer Abschlusstagung am 9. November 2023 (online) vorgestellt und diskutiert.
Literatur
Bos, W., Eickelmann, B., Gerick, J., Goldhammer, F., Schaumburg, H., Schwippert, K., Senkbeil, M., Schulz-Zander, R. & Wendt, H. (Hrsg.) (2014): ICILS 2013 – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann
Eickelmann, B., Bos, W., Gerick, J., Goldhammer, F., Schaumburg, H., Schwippert, K., Senkbeil, M. & Vahrenhold, J. (Hrsg.) (2019): ICILS 2018 #Deutschland – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster: Waxmann
Eickelmann, B, Gerick, J. & Vennemann, M. (2019): Unerwartet erfolgreiche Schulen im digitalen Zeitalter – Eine Analyse von Schulmerkmalen resilienter Schultypen auf Grundlage der IEA-Studie ICILS 2013. In: Journal for Educational Research Online (JERO) 11/1, S. 118-144
Drossel, K., Eickelmann, B. & Vennemann, M. (2019): Digitalisierung und Bildungsgerechtigkeit – die schulische Perspektive. In: Die Deutsche Schule 111/4, S. 391-404
Drossel, K., Oldak, A., Bette, R., Eickelmann, B. & Schreyer, P. (in Vorbereitung): Videoanalysen zu unterrichtlichen Lehr- und Lernprozessen unter den Bedingungen der Digitalität an resilienten Schulen in Deutschland. In: B. Herzig, A. Hiligus, S. Fechner, C. Vogelsang & F. Schwabl (Hrsg.): Digitalisierungsbezogene Lehrer*innenbildung. Münster: Waxmann
Klieme, E. (2006): Empirische Unterrichtsforschung: aktuelle Entwicklungen, theoretische Grundlagen und fachspezifische Befunde. In: Zeitschrift für Pädagogik 52/6, S. 765-775
Lachner, A., Scheiter, K. & Stürmer, K. (2020): Digitalisierung und Lernen mit digitalen Medien als Gegenstand der Lehrerbildung. In: C. Cramer, M. Drahmann, J. König, M. Rothland & S. Blömeke (Hrsg.): Handbuch Lehrerbildung, Bad Heilbrunn/Stuttgart: Klinkhardt/UTB, S. 67-75