Gastbeitrag
Wie KI-Tools den Geschichtsunterricht verändern – eine subjektive Bestandsaufnahme
von
veröffentlicht am 14.12.2023
Lesezeit: 7 Minuten
Historiker:innen neigen dazu, die Bedeutung von Jubiläen zu betonen. Am 30. November 2023 war so ein Tag: Genau ein Jahr zuvor war das KI-Tool ChatGPT vorgestellt worden. Mit diesem Tool liegt eine Technologie vor, die das Potenzial hat, auch den Geschichtsunterricht zu transformieren. Wie dies konkret aussehen könnte, zeigt ein Erfahrungsbericht aus der Praxis.
Ich unterrichte an einer bayerischen Schule, der Realschule am Europakanal in Erlangen, die komplett auf Tabletklassen setzt. Zudem bilde ich als Seminarrektor Studienreferendar:innen im Fach Geschichte aus. Bereits Mitte Dezember 2022 war das Thema ChatGPT schon in aller Munde und natürlich setzten die Schüler:innen den KI-Bot im Unterricht und zu Hause an passenden Stellen ein. Sehr schnell schien klar: Ein Verbot der Technologie kann keine Lösung sein. Somit testete ich in dieser ersten Phase zunächst, inwieweit mich die KI bei der Unterrichtsvorbereitung unterstützen könnte. Über die Formulierung von Eingabeaufforderungen, sogenannte Prompts, ließ ich das KI-Tool Texte zu bestimmten Formaten generieren. Diese „schnellen Ideen“ reichten von fiktiven Dialogen fürs szenische Lesen im Unterricht über einen Fragengenerator für Youtube-Clips bis hin zum Stichwortgeber für das gute alte Tafelbild einer Unterrichtsstunde. Eine Transformation des Lehrens bedeutete dies natürlich noch nicht, auch steckte kein besonderer didaktischer Plan dahinter.
Ein Blick in den bayerischen LehrplanPLUS (März – Juni 2023)
Das sogenannte Kompetenzstrukturmodell ist die Basis des Geschichtsunterrichts an der bayerischen Realschule. In diesem werden diejenigen Kompetenzen beschrieben, die in den einzelnen Schulstunden vermittelt werden sollen. Es war nun unser Anspruch im Studienseminar – explizit sei hier die stets konstruktive Mitarbeit meiner Studienreferendar:innen erwähnt – Anknüpfungspunkte zu finden, wie man KI kompetenzorientiert einsetzen kann. Dabei stellte sich heraus, dass die Nutzung von ChatGPT eine Möglichkeit offeriert, zeitökonomisch Differenzierungsmaterialien zu erstellen.
»Es war unser Anspruch im Studienseminar […] Anknüpfungspunkte zu finden, wie man KI kompetenzorientiert einsetzen kann.«
Konkret ließen wir von der KI die 95 Thesen Luthers in einfacherer Sprache umschreiben und boten diese Version neben dem Originaltext im Unterricht zur Lektüre an. Es wurde deutlich, dass sich die Schüler:innen ohne Probleme über die Inhalte austauschen konnten, egal welche der beiden Versionen sie gelesen hatten. In einer Prüfungslehrprobe einer Studienreferendarin kam diese Einsatzmöglichkeit von KI dann auch gewinnbringend zum Einsatz. Damit konnte sichergestellt werden, dass alle Schüler:innen in ihrem Tempo die nötige Sach- und Methodenkompetenz erwerben konnten, um anschließend zu einem fundierten Werturteil zu kommen.
Eher zufällig entdeckte ich, dass ChatGPT bei entsprechenden Prompts auch mit Emojis antworten kann. Es ist also möglich, sich von der KI eine Biografie schreiben zu lassen, die aus der beliebten Bildersprache besteht. Dies setzten wir dann im Unterricht dergestalt um, dass wir ein Setting entwickelten, um die narrative Kompetenz der Schüler:innen zu fördern. Als konkrete Aufgaben sollten „Emojigrafien“ bekannter Reformator:innen entstehen, die dann jeweils in einem mündlichen Vortrag entschlüsselt wurden. Diese Beispiele zeigen auf, dass gerade die anspruchsvollen kompetenzorientierten Lehrpläne – ohne dafür ausgelegt zu sein – es gut ermöglichen, KI-gestützte Settings im Geschichtsunterricht einzusetzen.
Von Fake News und Scheinereignissen
(März 2023 – heute)
Bisher habe ich in meiner Retrospektive das Problem der Sachrichtigkeit von KI-Tools bewusst ignoriert. ChatGPT und Co. sind keine Recherchemaschinen, da sie auf „Wahrscheinlichkeiten“ beruhen und gerade in den Basisversionen immer noch inhaltlich beschränkt sind. Zudem liefern die Anwendungen oft das, was man hören möchte. Probieren Sie es doch selbst einmal aus, indem Sie ChatGPT eine Biografie eines nicht existenten Kaisers aus dem Mittelalter schreiben lassen. Sie werden erstaunt sein, wie ihr „Herrscher“ das Potenzial hat, die Geschichte neu zu schreiben!
Dass die „Fake-Gefahr“ gerade bei Bildgeneratoren sehr hoch ist, sahen wir im Frühjahr 2023 mit den KI-generierten Bildern von angeblichen Trump-Verhaftungen und Papst-Daunenmänteln und aktuell im Krieg zwischen der Hamas und Israel. Daher ist es aus meiner Sicht notwendig, dass der quellenkritische Umgang mit den KI-Outputs bzw. eine Art automatischer Gegencheck in den nächsten Monaten im Fokus der Geschichtsdidaktik stehen sollte. Dies nützt dem oftmals als „Lernfach“ angesehenen Fach, indem unterstrichen wird, dass gerade der Geschichtsunterricht durch seinen Fokus auf die Methodenkompetenz eine sehr wichtige Funktion im Rahmen der Medienerziehung übernehmen kann.
»Daher ist es aus meiner Sicht notwendig, dass der quellenkritische Umgang mit den KI-Outputs bzw. eine Art automatischer Gegencheck in den nächsten Monaten im Fokus der Geschichtsdidaktik stehen sollte.«
Von Aufgaben- und Prüfungskultur (Dezember 2022 – heute)
Standardisierte Tests, Referate, Präsentationen – alles mittlerweile mit KI machbar und das trotz oben genannter inhaltlicher Einschränkungen. Die reine „Produktbewertung“ hat als Schüler:innenleistung mittelfristig ausgedient. Es wird unabdingbar sein, dass Arbeitsprozesse, das Einarbeiten von Feedback-Phasen und die mündliche Darstellung der Ergebnisse Bestandteile jeglicher alternativer Prüfungsformate werden. Dabei plädiere ich durchaus für die Nutzung von KI-Tools zur Unterstützung, zum Beispiel auf Basis der „Rules for Tools“ von Prof. Dr. Christian Spannagel – allerdings bei kompletter Nutzungsoffenlegung und richtiger Zitierweise. Philippe Wampfler bietet hierfür mit dem „Merkblatt für Facharbeiten zum Umgang mit KI-/LLM-Tools“ eine gute Handlungsempfehlung an.
Im Übrigen sind KI-Tools in jedem Fall auch eine Hilfe bei der Planung von derartigen Unterrichtsvorhaben. Im Rahmen des „Alternativen Leistungsnachweises“, den alle Studienreferendar:innen im zweiten Ausbildungsabschnitt in ihren Klassen durchführen, haben wir uns bei der Planung auch von der KI unterstützen lassen. Als Ergebnis entstanden sehr ansprechende Unterrichtsideen, die von der Erstellung eines Comics anhand von Quellenmaterial bis zur Konzeption von fiktiven Instagram-Posts, welche die Auswirkungen der NS-Zeit auf die Zivilbevölkerung thematisierten, reichten.
Wie kommt die KI zu den Schüler:innen? (Juli 2023, vermutlich gelöst)
Alle hier dargestellten Aspekte haben noch nicht thematisiert, dass die Schüler:innen KI-Tools im Prinzip bisher nur eingeschränkt oder über Lehrer:innengeräte nutzen konnten. Einen flächendeckenden Einsatz von ChatGPT sehe ich vor allem aus Datenschutzgründen derzeit nicht. Eine mögliche Lösung könnten aber Anwendungen wie SchulKI darstellen, die es ermöglichen, die Chatbot-Technologie datenschutzkonform zu nutzen.
Im Rahmen eines Pilotprojekts der Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) konnten wir seit Juli 2023 noch einige weiterführende Unterrichtsvorhaben im Geschichtsunterricht realisieren. So lassen sich zum Beispiel speziell entwickelte historische Persönlichkeiten und fiktive Personas – etwa ein Händler auf einem Mittelaltermarkt – interviewen. Dabei ergaben sich zwei erstaunliche Ergebnisse. Zunächst einmal lässt sich mit diesen KI-Interviews die Fragekompetenz anhand eines motivierenden Settings schulen. Wer mehr über das Thema oder die Person weiß, bekommt auch detaillierte Antworten. Zweitens entdecken Schüler:innen außerdem recht schnell, dass die KI-Texte in jedem Fall ein gewisses Maß an Lesekompetenz erfordern, um überhaupt „etwas damit anfangen“ zu können. Diese Beobachtungen scheinen mir auch für Kritiker:innen des KI-Einsatzes spannend zu sein. Chatbots liefern anscheinend einen zeitgemäßen Ansatz, um die Basiskompetenzen „Lesen“ und „Ausformulieren/Schreiben/Fragen“ zu fördern. Bei einem nachfolgenden Quellencheck lassen sich dann die Antworten der KI überprüfen und im Prinzip historisches Arbeiten simulieren.
»Chatbots liefern anscheinend einen zeitgemäßen Ansatz, um die Basiskompetenzen „Lesen“ und „Ausformulieren/Schreiben/Fragen“ zu fördern.«
Ein anderes KI-Tool, das sich im Unterricht legal nutzen lässt, ist Fiete.Ai. Dabei handelt es sich um ein Feedback-Tool, das Rückmeldung zu Texten anhand von selbst konzipierten Bewertungskriterien gibt. Zudem lässt sich „Material“ einfügen, sodass eine Quellenanalyse jetzt auch KI-gestützt ablaufen könnte. Die KI bezieht sich dann zum Beispiel auf die angegebene Quelle. Erste Versuche im Unterricht mit der Rede Wilhelms II. zu Beginn des Ersten Weltkriegs („Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“ ) zeigen auf, dass Schüler:innen nun selbsttätiger werden und durch die wertschätzende Rückmeldung auch motivierter sind, um ihre Lösungsvorschläge zu überarbeiten.
Wie geht es weiter? (November 2023 bis …)
Mein Beitrag fußt größtenteils auf subjektiven Erfahrungen, was einer wissenschaftlichen Bewertung vielleicht standhält, vielleicht auch nicht. Erfahrungsgemäß tut sich gerade die Geschichtsdidaktik aber recht schwer mit Neuerungen und dem Ernstnehmen von neuen gesellschaftlichen Trends. Ein Beleg dafür lässt sich im 2022 von Mayer, Pandel, Schneider und Schönemann herausgegebenen „Wörterbuch Geschichtsdidaktik“ finden. Hier heißt es im Vorwort:
„Diese Auflage enthält 177 Einträge. (…) Der aktuelle Medienjargon der digitalen Welt wie „Augmented Reality“, „Animation“ oder „Immersion“ ist bewusst nicht aufgenommen worden.“
Insofern bin ich skeptisch, ob die Geschichtsdidaktik in der nächsten Zeit wirklich belastbare Erkenntnisse liefern wird, die über meinen praxisorientierten Ansatz hinausgehen. Nicht zuletzt für die Lehrkräfteausbildung würde ich mir aber wünschen, dass wir schnell erhebliche Schritte weiterkommen, um mit dem Tempo der KI-Transformation im Klassenzimmer mithalten zu können. Der nächste KI-Entwicklungsschritt wurde im Oktober 2023 ja bereits vollzogen. ChatGPT ist jetzt in der Pro-Version multimodal und kann Bilder analysieren oder sogar mit Dall-E 3 Karikaturen erstellen, die sich als Unterrichtsmaterial nutzen lassen.