Interview

Anne Sliwka & Britta Klopsch: „Alle im System müssen sich als Lernende begreifen”

von Anja Reiter
mit Prof. Dr. Britta Klopsch und Prof. Dr. Anne Sliwka
veröffentlicht am 08.04.2025
Lesezeit: 7 Minuten

Wie groß ist das Transferpotenzial des Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) für die Wissenschaft? Die Bildungsforscherinnen Anne Sliwka und Britta Klopsch erklären im Interview, wo aus ihrer Sicht die Stärken der Publikation liegen – und welche Potenziale der Navigator BD für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis hat.

Wie kann sich ein Schulsystem kontinuierlich weiterentwickeln? Während der Navigator BD erstmals einen Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich wirft, widmen sich einzelne Forscher:innen immer wieder verwandten Forschungsfragen. Die Bildungsforscherinnen Anne Sliwka und Britta Klopsch haben in ihrem neuen Buch die Vision eines „lernenden Schulsystems” herausgearbeitet. Im Interview reflektieren sie, wo noch blinde Flecken in der Forschung liegen und wie sie als Wissenschaftlerinnen das Transferpotenzial des Navigator BD nutzen können.

Foto: Universität Heidelberg

Zur Person

Prof. Dr. Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Sie ist unter anderem Projektleiterin im Teilprojekt Verzahnung und Transfer des BMBF-Projekts „Schule macht stark“. Zudem leitet sie das Projekt „Nationale Bildungsplattform NeLe – Campus Neue Lernkultur“ und ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und in der Jury des Deutschen Schulpreises.

Zur Person

Prof. Dr. Britta Klopsch ist Professorin für Schulpädagogik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie ist unter anderem Leiterin des Projekts „Nationale Bildungsplattform NeLe – Campus Neue Lernkultur“, war Referentin für Lehrkräftefortbildung im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und Projektleiterin des von der VolkswagenStiftung geförderten Projektes „Hybride Lernumgebungen – Transformation der Grammatik der Schule“.

Ihr gemeinsames Buch trägt den Titel „Das lernende Schulsystem”. Ein lernendes Schulsystem – was kann man sich darunter vorstellen?

Anne Sliwka: Ein lernendes Schulsystem ist ein System, das sich kontinuierlich und systematisch weiterentwickelt – und zwar unter Nutzung von strategischen Zielen und Daten. Unsere Hauptaussage: Das lernende Schulsystem gelingt nur dann, wenn sich alle Akteur:innen im System als Lernende begreifen. Niemand darf behaupten, er wisse schon, wie es geht – von der Lehrkraft im Klassenzimmer über die Schulleitung bis zum Ministerium.

Britta Klopsch: Transformation kann nicht von „oben nach unten“ gelingen, aber auch nicht von „unten nach oben“. Stattdessen müssen sich die einzelnen Akteur:innen verschränken: Einerseits durch horizontale Verzahnung, aber auch durch vertikale Vernetzung in Form von Schulfamilien, die voneinander lernen, moderiert und geführt von der Schulaufsicht. In Kanada und Singapur funktioniert diese Form von „connected autonomy“ schon wunderbar.

Wie steht es in Deutschland aus Ihrer Sicht um ein gemeinsames Verständnis von Transformation, insbesondere von digitaler Transformation?

Britta Klopsch: Hier stehen wir noch sehr am Anfang! Dabei ist ein klar definiertes gemeinsames Ziel so wichtig, damit alle gemeinsam loslaufen können, um die Transformation voranzutreiben. Das gemeinsame Beschreiben der Ziele ist aber schwierig, weil die einzelnen Schulen sehr unterschiedliche Startbedingungen haben.

Anne Sliwka: Ziele dürfen aber nicht beliebig sein, schließlich geht es um das Wohl unserer Kinder! Bestimmte Kompetenzstandards müssen verbindlich erreicht und Qualitätskriterien sicher gewährleistet werden. Kinder müssen am Ende des Tages lesen, schreiben und rechnen können, sie sollen sich aber auch wohlfühlen in ihrer Schule. Hier geht es um Begriffe wie „Wohlbefinden“, „Persönlichkeitsentwicklung“ und „Chancengerechtigkeit“. Immer noch ist in Deutschland der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Familie und dem Schulerfolg der Kinder signifikant höher als in anderen Systemen.

»Das lernende Schulsystem gelingt nur dann, wenn sich alle Akteur:innen im System als Lernende begreifen. Niemand darf behaupten, er wisse schon, wie es geht – von der Lehrkraft im Klassenzimmer über die Schulleitung bis zum Ministerium.«

Anne Sliwka

Der Navigator BD hat es sich zum Ziel gemacht, erstmals einen thematisch systematisierten Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland zu werfen. Können Sie diesen Meta-Blick für Ihre Forschungsarbeit nutzen?

Britta Klopsch: Als Wissenschaftler:innen hilft es uns immer weiter, wenn wir Meta-Blicke erhalten, um unsere eigenen Projekte einzuordnen und zu sehen, wo wir anknöpfen können. Mithilfe des Navigator BD können wir verschiedene Puzzlestücke zusammenfügen. In der Frage des „lernenden Schulsystems“ wurde uns deutlich, dass wir die Digitalisierung nicht ausblenden dürfen, sondern dadurch entstehende Möglichkeiten sehen müssen.

Anne Sliwka: Das lernende Schulsystem hat sehr viele Anknüpfungspunkte an das Thema Digitalisierung. Angefangen mit der Schüler-ID bis hin zu Lernverlaufsdiagnostiken oder Datenaufbereitung. Wie können Daten attraktiv aufbereitet werden, um intuitiv und ohne große Data-Literacy-Vorbildung mit ihnen arbeiten zu können? Meine Erfahrung ist: Sind Dashboards gut gemacht, macht es Riesenspaß, mit ihnen zu arbeiten – auch ohne tiefgreifende Fortbildungen in Datenkompetenz. Wir haben keinen Mangel an Daten, sondern an der unschönen Aufbereitung.

Der Navigator BD richtet sich an alle, die sich für die Weiterentwicklung von schulischer Bildung in Deutschland interessieren – von der schulischen Praxis über die Schulaufsicht bishin zu Stiftungen und Wissenschaft. Erleichtert ein Werk wie der Navigator BD aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen diesen Gruppen?

Anne Sliwka: Unbedingt! Auch wir argumentieren in unserem Buch, wie wichtig es ist, eine gemeinsame Sprache für alle beteiligten Akteur:innen zu finden. Nur wenn wir alle von dem gleichen Konstrukt hinter einem Begriff ausgehen, können wir unser Schulsystem gemeinsam weiterentwickeln.

Britta Klopsch: Diese gemeinsame Sprache muss von den einzelnen Gruppen aber gelernt und geübt werden. Wir sprechen hier von „kooperativer Professionalität“. Nur so können Daten gemeinsam interpretiert und zusammen Maßnahmen abgeleitet werden. Dieses ko-konstruktive Handeln ist ein ganz wichtiger Bestandteil lernender Schulsysteme.

»Mithilfe des Navigator BD können wir verschiedene Puzzlestücke zusammenfügen. In der Frage des „lernenden Schulsystems“ wurde uns deutlich, dass wir die Digitalisierung nicht ausblenden dürfen, sondern dadurch entstehende Möglichkeiten sehen müssen.«

Britta Klopsch

Anfang des Jahres haben die Bildungsministerinnen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein einen Vorschlag unterbreitet, wie die Bildung in Deutschland bis 2035 verbessert werden kann. Was hat Sie an diesem politischen Schulterschluss besonders gefreut?

Britta Klopsch: Bildung wurde erstmals öffentlich nicht mehr aus der Brille unterschiedlicher politischer Parteien betrachtet und diskutiert, sondern als gemeinschaftliche Aufgabe aller angesehen. Wenn wir es schaffen, diese Perspektive beizubehalten, lässt sich Bildung nachhaltig verbessern, weil sich überparteilich auf die Sache an sich konzentriert werden kann.

Anne Sliwka: Ja, ich fand es sensationell, dass drei Ministerinnen aus drei Parteien in der Mitte der Gesellschaft so professionell agieren und sich offenbar auch so gut verstehen, dass es möglich war, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen. Natürlich ist genau das eine überzeugende Strategie zur langfristigen Sicherung der Demokratie.

In der begleitenden Publikation der Wübben Stiftung Bildung haben auch Sie beide einen Beitrag verfasst. Darin nennen Sie sieben Stellschrauben, die dazu beitragen sollen, langfristigen, kontinuierlichen und nachhaltigen Wandel zu erzeugen. Welche Stellschraube wird aus Ihrer Sicht am meisten unterschätzt?

Britta Klopsch: Ich glaube, dass sehr lange unterschätzt wurde, wie wichtig es ist, dass die unterschiedlichen Ebenen in engem Schulterschluss ausgerichtet auf ein gemeinsames Ziel zusammenarbeiten. Alle Personen im System müssen sich als Teil dessen begreifen, um gemeinsam nachhaltig Einfluss auf das Lernen aller Schüler:innen in ganz Deutschland nehmen zu können. 

Anne Sliwka: Kohärenz in die Bildungssteuerung zu bringen und dabei bestimmte Ziele gleichzeitig konsequent zu verfolgen – das ist wirklich neu für Deutschland. Ich bin sehr hoffnungsvoll, dass wir alle gemeinsam diesen Weg in den nächsten Jahren beschreiten und Bildung für Kinder und Jugendliche dadurch nachhaltig verbessern.

Das wissenschaftliche Team des Navigator BD hat beim Zusammentragen der Studienlage festgestellt, dass es in vielen relevanten Bereichen nicht nur ein Handlungsdefizit, sondern auch ein echtes Erkenntnisdefizit gibt. Wo sind aus Ihrer Sicht noch blinde Flecke in der Forschung?

Anne Sliwka: Wir müssen genauer durchdringen, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, die verschiedenen Ebenen besser miteinander zu verschränken. Hier gibt es aus meiner Sicht noch zu wenige wissenschaftliche Befunde.

Britta Klopsch: Bisher haben wir uns in der Wissenschaft stark mit Schulforschung und Schulentwicklungsforschung beschäftigt. In Zukunft müssen wir den Fokus stärker auf Schulsystemforschung und Schulsystementwicklungsforschung legen. Was das angeht, liegen wir noch weit zurück.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in München, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Sie schreibt nicht nur, sondern moderiert auch Podiumsdiskussionen, gibt Workshops für den journalistischen Nachwuchs und hilft bei der Konzeption von Magazinen. Außerdem ist sie Mit-Autorin der „Freienbibel 2“, dem Praxishandbuch für freie Journalist:innen.

https://anjareiter.com/