Interview
Birgit Eickelmann: „Schulen können Benachteiligungen aufheben – durch Perspektivübernahme“
von
mit Kerstin Drossel und Birgit Eickelmann
veröffentlicht am 11.12.2023
Lesezeit: 7 Minuten
Schüler:innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien verfügen über geringere digitale Kompetenzen als Gleichaltrige – das belegen Studien immer wieder. Manche Schulen bilden aber eine Ausnahme: Die Bildungsforscherinnen Birgit Eickelmann und Kerstin Drossel von der Universität Paderborn erklären im Interview, was „unerwartbar erfolgreiche Schulen“ auszeichnet.
Es zieht sich ein Digital Divide durch Deutschland: Während Kinder aus privilegierten Elternhäusern im Schnitt über gute digitale Kompetenzen verfügen, sieht es bei Gleichaltrigen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien schlechter aus. Es gibt aber auch Schulen in herausfordernder Lage, die bei Vergleichsstudien wider Erwarten überdurchschnittlich gut abschneiden – und Kinder aus benachteiligten Elternhäusern, die überdurchschnittlich gute digitale Kompetenzen erzielen.
Was ist das Erfolgsgeheimnis dieser „unerwartbar erfolgreichen Schulen“? Das ist die Ausgangsfrage des Forschungsprojekts „Unerwartbar erfolgreiche Studien im digitalen Wandel – eine qualitative Vertiefungsstudie zu ICILS 2018“ (UneS), das von einem Team von Bildungsforscher:innen der Universität Paderborn durchgeführt wurde. Im Interview geben die Projektleiterinnen Birgit Eickelmann und Kerstin Drossel Auskunft, welche Faktoren ausschlaggebend sind, wenn es um die Vermittlung von digitalen Kompetenzen an Schulen in herausfordernder Lage geht.
Zur Person
Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Schulentwicklung und der Transformation von Schulen und Schulsystemen im 21. Jahrhundert. Seit mehr als 20 Jahren erforscht sie mit einer international und europäisch vergleichenden Perspektive die Entwicklung von Schule und Unterricht unter den Bedingungen gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse. Für Deutschland leitet sie unter anderem die IEA-Studien ICILS 2013, 2018 und 2023.
Zur Person
Kerstin Drossel ist Akademische Oberrätin an der Universität Paderborn am Lehrstuhl Schulpädagogik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Bildungsforschung, der Lehrkräfteprofessionalisierung sowie der Schul- und Unterrichtsentwicklung im Zeitalter der digitalen Transformation. Sie leitet unter anderem die IEA-Studie ICILS 2023 für Nordrhein-Westfalen.
Die international vergleichende Schulleistungsuntersuchung ICILS 2018 hat gezeigt, dass Schüler:innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien über deutlich geringere digitale Kompetenzen verfügen als der Durchschnitt der Schüler:innenschaft. Was ist Ihre Erklärung für diesen Digital Divide?
Birgit Eickelmann: Tatsächlich verfügen Schüler:innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien im Mittel über deutlich geringere computer- und informationsbezogene Kompetenzen als gleichaltrige Mitschüler:innen. Studien zu anderen Kompetenzen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Benachteiligungen haben verschiedene Gründe: Das fängt bei einem eingeschränkten Zugang zu digitalen Endgeräten an und hört nicht bei der fehlenden Unterstützung für das schulische Lernen auf.
Anhand der Daten konnten siebzehn Prozent der teilnehmenden Schulen in Deutschland als organisational resilient identifiziert werden. In Ihrer Studie bezeichnen Sie diese Schulen als „unerwartbar erfolgreiche Schulen“. Was konkret ist darunter zu verstehen?
Kerstin Drossel: In der UneS-Studie – kurz für „Unerwartbar erfolgreiche Schulen“ – schauen wir uns jene Schulen genauer an, die einerseits über eine besonders herausfordernde und sozioökonomisch benachteiligte Schüler:innenschaft verfügen, deren Schüler:innen bei der ICILS-Untersuchung aber gleichzeitig im Mittel überdurchschnittlich hohe digitale Kompetenzen erreichen. Man könnte zunächst annehmen, dass es solche Schulen gar nicht geben kann. Es gibt sie aber!
Sie wollten herausfinden, was diese resilienten Schulen auszeichnet. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Birgit Eickelmann: Uns ist schnell klargeworden, dass wir mit unserem Fragebogen und Testdaten zwar einen ersten Eindruck von diesen Schulen erhalten. Um wirklich zu verstehen, wie diese Schulen und die Menschen dort arbeiten, mussten wir die Schulen aber besuchen, insbesondere den Unterricht. Viele Schulen waren zunächst überrascht, als wir ihnen bescheinigten, dass sie so außergewöhnlich gute Arbeit in diesem Bereich leisten. Aber die meisten Schulen, die wir anhand der Daten aus der ICILS-Studie identifiziert und kontaktiert haben, haben dann – trotz der damals anhaltenden Pandemiesituation – gerne zugesagt.
Kerstin Drossel: In der Vertiefung haben wir drei Wege eingeschlagen: Erstens Unterrichtsbeobachtungen mit Unterrichtsvideos, zweitens Interviews mit Lehrkräften, Schulleitungen und Schüler:innen und drittens die Sichtung schulischer Dokumente. Schnell haben wir zurückgespiegelt bekommen, dass die jeweiligen Schulträger ebenfalls eine zentrale Rolle spielen, wenn es um den unerwarteten Erfolg geht. Auch die haben wir dann in unser Forschungsprogramm aufgenommen.
Welche Faktoren spielen nun eine Rolle, wenn es um die Vermittlung von digitalen Kompetenzen an Schulen mit herausfordernder Schüler:innenschaft geht?
Kerstin Drossel: Schon anhand der Fragebogendaten aus ICILS konnten wir feststellen, dass die Haltung der Lehrkräfte eine wichtige Rolle spielt, wenn es um die Vermittlung digitaler Kompetenzen geht. Durch den Kontakt mit den Schulen und in den vertiefenden Untersuchungen ist aber deutlich geworden, dass alle fünf Bereiche digitalisierungsbezogener Schulentwicklung relevant sind. So konnten wir etwa auf Ebene der Unterrichtsentwicklung herausarbeiten, wie zentral die Förderung der methodisch-didaktischen Kompetenzen der Lehrkräfte im Hinblick auf einen chancengerechten Einsatz digitaler Medien ist. Um chancengerechte Lehr- und Lernprozesse zu gestalten, müssen sich Lehrkräfte aber auch an den individuellen Lernbedürfnissen der Schüler:innen orientieren. Nicht zuletzt spielt der wertschätzende Einbezug der bereits vorhandenen digitalen Kompetenzen aller Schüler:innen eine besondere Rolle.
»Das ist vielleicht ein Hinweis, den wir auch für andere Kompetenzbereiche nach der Vorstellung der neuen PISA-Ergebnisse reflektieren sollten. All das erfordert neben viel Engagement eine Perspektivübernahme: das Denken und Agieren aus Sicht der Lernenden.«
In den Unterrichtsbeobachtungen und Interviews haben Sie die drei Kriterien guten Unterrichts besonders in den Blick genommen: effiziente Klassenführung, kognitive Aktivierung und ein förderliches Lernklima. Wie setzen resiliente Schulen diese Unterrichtskriterien mit Blick auf die Vermittlung digitaler Kompetenzen um?
Kerstin Drossel: Im Hinblick auf die effiziente Klassenführung zeigt sich, dass Lehrkräfte digitale Medien auf eine effektive und förderliche Weise einsetzen. Sie unterstützen die Schüler:innen nicht nur beim Erlernen der Funktionsweisen digitaler Medien, sondern auch bei der Entfaltung der vielfältigen Möglichkeiten. Lehrkräfte selbst nutzen digitale Medien in unterschiedlichen Facetten und ermutigen zu einer vielseitigen Anwendung. In Bezug auf die kognitive Aktivierung ist ersichtlich, dass Lehrkräfte verschiedene Tools und Apps nutzen, um Schüler:innen auf anwendungsorientierte und spielerische Weise zu aktivieren und chancengerecht in den Lernprozess einzubeziehen.
Und wie wird ein förderliches Lernklima an den resilienten Schulen umgesetzt?
Kerstin Drossel: Organisational resiliente Schulen schaffen eine Kultur des Miteinander-Lernens zwischen Lehrkräften und Schüler:innen. Das belegen auch unsere Unterrichtsvideos. Zusätzlich werden zahlreiche unterstützende Zusatzangebote in Form von außerunterrichtlichen Aktivitäten oder Aufbaukursen bereitgestellt, um die Kompetenzen aller Schüler:innen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status zu fördern.
Ziel Ihres Forschungsprojekts war es, Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung der Schulen in Deutschland abzuleiten. Welche konkreten Empfehlungen können Sie auf Basis Ihrer Ergebnisse aussprechen?
Birgit Eickelmann: Wir haben viele spannende Einzelergebnisse erzielt, zwei Ergebnisse möchte ich aber besonders hervorheben: Erstens können Schulen tatsächlich die Benachteiligungen ihrer Schüler:innen im Bereich der digitalen Kompetenzen und des Lernens mit digitalen Technologien auflösen. Das ist vielleicht ein Hinweis, den wir auch für andere Kompetenzbereiche nach der Vorstellung der neuen PISA-Ergebnisse reflektieren sollten. All das erfordert neben viel Engagement eine Perspektivübernahme: das Denken und Agieren aus Sicht der Lernenden. Zweitens sind Technik und Konzepte zwar wichtig, aber nicht allein entscheidend – am Ende hängt es von den Menschen in den Schulen ab, ob die Schule einen Beitrag zur Überwindung von Chancenungleichheit und Digital Divide leisten kann. Wir haben viele engagierte Lehrer:innen und Schulleitungen kennengelernt, die Dinge auf den Weg bringen – und Schulträger, die ihre Mitverantwortung für die Gestaltung von chancengerechten Bildungsprozessen wahrnehmen.
Was passiert mit den Ergebnissen der UneS-Studien?
Kerstin Drossel: Auf der Grundlage der Ergebnisse haben wir zwei Handreichungen – eine für Schulen und eine für Schulträger – entwickelt. Außerdem warten wir gespannt auf die Ergebnisse von ICILS 2023, die im Herbst 2024 kommen werden. Seit der letzten Studie ist viel passiert, auch in Deutschland haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Die Frage wird sein: Gelingt es uns nun besser, digitale Bildungsgerechtigkeit herzustellen? Und wenn nicht: Gelingt es zumindest einigen Schulen „unerwartbar erfolgreich“ zu sein? Und wie genau gehen diese Schulen unter den neuen Bedingungen vor, welche Unterstützung brauchen sie? Nur wenn wir diese Fragen beantworten, können wir in Sachen digitaler Bildungsgerechtigkeit vorankommen.