Interview

Birgit Eickelmann: „Wir liefern einen systematisierten Gesamtblick zum Stand der digitalen Transformation“

von Anja Reiter
mit Prof. Dr. Birgit Eickelmann
veröffentlicht am 28.08.2024
Lesezeit: 6 Minuten

Vielfach wird eine tiefgreifende digitale Transformation des schulischen Bildungssystems gefordert, doch was ist darunter zu verstehen und wo steht diese aktuell? Der Navigator BD liefert eine datenbasierte und systematische Standortbestimmung. Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn, hat das Projekt wissenschaftlich geleitet und spricht im Interview über dessen Entstehungsgeschichte.

Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) wirft erstmals einen thematisch systematisierten Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland. Er identifiziert ausgehend von drei strategischen Handlungsfeldern – Haltung zur Kultur der Digitalität, Digital-förderliche Rahmenbedingungen und Digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung – 21 relevante Themenfelder, die als übergreifende Indikatoren dienen können, um den Stand der digitalen Transformation systemisch zu erfassen. Mit seinen konzeptionellen Ausarbeitungen und der Zusammenführung vorliegender Studienergebnisse entwirft der Navigator BD ein umfassendes Verständnis digitaler Transformation und skizziert entlang dieser Struktur aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungslücken. Daraus ergeben sich Orientierungsimpulse für zukünftige Entwicklungen und für ein systematisches Bildungsmonitoring der digitalen Transformation.

Der Navigator BD wurde auf Initiative des Forum Bildung Digitalisierung im Zeitraum Juni 2023 bis März 2024 von einem Wissenschaftler:innen-Team unter der Leitung von Prof. Dr. Birgit Eickelmann (Universität Paderborn) und der Ko-Leitung von Prof. Dr. Julia Gerick (Technische Universität Braunschweig) gemeinsam mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) erarbeitet.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Prof. Dr. Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Schulentwicklung und der Transformation von Schulen und Schulsystemen im 21. Jahrhundert. Seit fast 20 Jahren erforscht sie mit einer international und europäisch vergleichenden Perspektive die Entwicklung von Schule und Unterricht unter den Bedingungen gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse. Für Deutschland leitet sie unter anderem die IEA-Studien ICILS 2013, 2018 und 2023.

Wissenschaftliche Publikationen über Bildung in der Kultur der Digitalität gibt es viele. Was ist das Besondere am Navigator BD?

Es ist sehr erfreulich, dass wir auch in Deutschland immer mehr Publikationen und studienbasierte Veröffentlichungen zum Thema Bildung in der Kultur der Digitalität vorweisen können. Das Thema hat zum Glück sehr viel Rückenwind bekommen. Wenn man genau hinschaut, sieht man allerdings, dass sich – durchaus sehr nachvollziehbar – die verschiedenen Publikationen mit Einzelthemen befassen. Was jedoch fehlte, war ein aktueller und thematisch systematisierter Gesamtblick zum Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland. Den liefert der Navigator BD.

Wer war an der Erarbeitung des Navigator BD beteiligt – und wie sind Sie bei der Erstellung konkret vorgegangen?

Einen Gesamtblick mit Hinweisen und Orientierung für zukünftige Entwicklungen zu geben, war ein durchaus mutiges und anspruchsvolles Unterfangen. Dazu reicht die Expertise von Einzelpersonen nicht aus. Daher haben Julia Gerick, Uta Hauck-Thum, Kai Maaz und ich uns zusammengetan, mit unseren durchaus unterschiedlichen Sichtweisen auf die Entwicklung schulischer Bildung und die Erfassung von qualitätsrelevanten Themenfeldern. Wir haben im Erstellungsprozess viel voneinander gelernt – etwa, dass es für einen systematischen Gesamtblick zunächst einmal wichtig ist, die aktuell und auch zukünftig relevanten Themenfelder zu identifizieren. Also Themenfelder, die auch übergreifende Indikatoren sein können und einer Bewertung zugänglich sind. Dabei ging es nicht nur um eine thematische Aufteilung, sondern vor allem um die Frage, in welchen Bereichen sich der Stand der digitalen Transformation messen lassen können muss.

Was war die größte Herausforderung bei der Umsetzung des Projekts?

Die vielleicht größte Herausforderung war es, in Sachen digitaler Transformation einen Denkschritt weiterzugehen und Orientierungswissen bereitzustellen. Wenn wir auf digitale Transformation schauen, dann sind wir bisher immer schnell bei Ausstattung und Support gewesen, zuletzt auch verstärkt bei Lehrkräfte- und Schulleitungsqualifizierung. Aber wie kann es gelingen, einen Plan zu entwickeln, eine Landkarte für transformative und erfolgreiche Prozesse aufzuspannen? Und noch bedeutsamer: In welchem Gesamtkontext fallen diese und andere Themen? Was sind die übergreifenden Leitlinien und Mechanismen, wenn wir schulische Bildung in Deutschland tatsächlich zukunftsorientiert und mit Qualität transformieren wollen? An dieser Formulierung wird auch eine andere Herausforderung klar: Es geht um mehr als „nur“ eine digitale Transformation. Es geht um die Transformation von Bildung, die sich nicht allein an Einzelthemen festmachen lässt und alle Akteur:innen im Blick hat.

»Eines der Hauptergebnisse des Navigator BD ist, dass eine erfolgreiche digitale Transformation ohne eine gemeinsame, auch kontinuierlich nachzuverhandelnde Vision von Bildung und ohne eine Vernetzung aller Akteur:innen im System nicht gelingen wird.«

Birgit Eickelmann

Welche Zielgruppen adressiert der Navigator BD – und inwiefern profitieren diese von der Publikation? Wie können die unterschiedlichen Akteur:innen mithilfe des Navigator BD weiterarbeiten?

Man kann es ganz pathetisch formulieren: Der Navigator BD richtet sich an alle, die sich für die Weiterentwicklung von schulischer Bildung in Deutschland interessieren. Eigentlich kann sich jede:r aus dem Navigator BD etwas herausgreifen. Die Wissenschaft kann sehen, welche Studien wir schon haben, welche Forschung wir noch brauchen und welche es zukünftig zu fördern gilt. Für Stiftungen als zivilgesellschaftliche Akteur:innen kann der Navigator BD dazu dienen, die eigenen Strategien und Programme zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Landesinstitute könnten schauen, in welchen Bereichen es Bedarf an Kooperation, Vernetzung und Qualifizierung gibt. Schulaufsichten können ihr Verständnis von digitaler Transformation mit unserem Vorschlag abgleichen und erweitern. Für die schulische Praxis kann der Navigator BD – so wurde es auch bei der Vorstellung im Rahmen der Konferenz Bildung Digitalisierung 2024 aufgezeigt – eine Orientierung für Schulentwicklungsprozesse sein. Und vieles mehr. Aber: Eines der Hauptergebnisse des Navigator BD ist, dass eine erfolgreiche digitale Transformation ohne eine gemeinsame, auch kontinuierlich nachzuverhandelnde Vision von Bildung und ohne eine Vernetzung aller Akteur:innen im System nicht gelingen wird. Daher sind die Einzelperspektiven wichtig. Die Transformation ist aber systemisch anzugehen und muss die Perspektiven zusammenbringen.

Welche zentrale Erkenntnis aus dem Navigator BD hat Sie besonders überrascht?

In den letzten Jahren waren wir von dem Eindruck geprägt, wir hätten kein Wissensdefizit, sondern „nur“ ein Handlungsdefizit. Wir haben jedoch in den vertieften Analysen sowie beim Zusammentragen der Studienlage festgestellt, dass wir in vielen relevanten Bereichen auch echte Erkenntnisdefizite haben. Ein einfaches Beispiel: Wir haben einerseits zahlreiche Einzelstudien zur IT-Infrastruktur in Schulen, etwa zu der Frage, wie Lehrkräfte diese einschätzen. Aber was wissen wir tatsächlich? Uns fehlt letztlich eine echte Bestandsaufnahme für Deutschland. Noch komplizierter wird es bei den anderen Themenfeldern. Wo stehen wir im Bereich Partizipation und Teilhabe als Teil einer Haltung zur Kultur der Digitalität? Welches Verständnis haben wir von Lernräumen und -orten als digital-förderliche Rahmenbedingungen? Wie agil sind unsere digital-didaktischen Konzepte und Qualifizierungsansätze und erfüllen diese die Anforderungen an zukunftsgerichtete Bildungsprozesse? Sobald wir dieses Ergebnis verdaut haben, können wir uns überlegen, wie wir zukünftig kluge, transformationsorientierte Studien anlegen – und tatsächlich relevantes Steuerungswissen bereitstellen, das Bildung in Deutschland auf ein zukunftsfestes Level bringt.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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