Interview
Christine Streichert-Clivot: „Um herauszufinden, was jungen Menschen guttut, sollten wir direkt mit ihnen sprechen”
von
mit Christine Streichert-Clivot und Fabian Schön
veröffentlicht am 23.09.2024
Lesezeit: 10 Minuten
Die Ministerin für Bildung und Kultur des Saarlandes Christine Streichert-Clivot hat die Partizipation von Kindern und Jugendlichen an schulischen Transformationsprozessen zu einem Kernanliegen der KMK-Präsidentschaft 2024 gemacht. Anlässlich der Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schüler:innen in der Transformation stärken“ spricht sie mit dem neuen Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz Fabian Schön darüber, wie das gelingen und wie die Politik dabei unterstützen kann.
Am 16. und 17. September 2024 veranstaltete das Forum Bildung Digitalisierung in Kooperation mit dem Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes und dem Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK) die Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schüler:innen in der Transformation stärken“. Die Veranstaltung fördert den länderübergreifenden fachlichen Austausch zu Erfahrungen, Konzepten und Strategien rund um die Gestaltung von Bildung im Kontext der Kultur der Digitalität. Unter dem diesjährigen Schwerpunkt richtet das Programm der Fachtagung den Fokus auf gelingendes Lernen in der digitalen Transformation – ausgehend von der Perspektive der Schüler:innen. Im gemeinsamen Interview diskutieren Christine Streichert-Clivot, Ministerin für Bildung und Kultur des Saarlandes und KMK-Präsidentin, und der neue Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz Fabian Schön, wie Schüler:innen im Schulalltag und im politischen Geschehen aktiv an Transformationsprozessen mitwirken können.
Zur Person
Christine Streichert-Clivot ist 44 Jahre alt und SPD-Politikerin. Sie studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Universität Trier. Seit 2019 ist sie Ministerin für Bildung und Kultur des Saarlandes. Im Jahr 2024 hat sie turnusmäßig die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz übernommen.
Zur Person
Fabian Schön, 17 Jahre alt, besucht die elfte Klasse eines Gymnasiums. Als stellvertretender Landessschülersprecher Brandenburgs konnte er sich mit der dortigen Bildungspolitik vertraut machen. Seit Anfang September 2024 ist er Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz.
Frau Streichert-Clivot, Herr Schön, was verstehen Sie unter dem Begriff „Transformation“ im Bildungssystem?
Christine Streichert-Clivot: Transformation bedeutet für mich in allererster Linie Veränderung. Die Gesellschaft merkt, dass man in dem gewohnten Trott nicht weitermachen kann und stellt neue Anforderungen an sich selbst. Das kann ökologische, gesellschaftspolitische und ökonomische Gründe haben. Und das schlägt natürlich auch auf die Schulen durch. Viele empfinden Schule aktuell so, dass sie teilweise noch in den Zwängen des 19. Jahrhunderts feststeckt. Wir müssen jungen Menschen aber Kompetenzen und Fähigkeiten mitgeben, mit denen sie sich in einer veränderten Welt zurechtfinden können. Deswegen müssen wir auch Schule anders gestalten, als wir das über lange Zeit kannten.
Fabian Schön: Transformation ist die absolut notwendige Veränderung, in der wir gerade stecken. Gleichzeitig verbinde ich Transformation auch mit etwas, das sehr, sehr lange dauert. Ich war letzte Woche bei einer Veranstaltung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, bei der Wissenschaftler:innen Empfehlungen zu Selbstregulationskompetenzen vorgestellt haben. Sie sagten: Wenn es richtig gut läuft, dann kommen diese Empfehlungen in zehn bis zwölf Jahren in der Schule an. An dieser Trägheit muss sich dringend etwas ändern.
Wieso ist es wichtig, die Perspektive der Schüler:innen in diese Transformationsprozesse einzubeziehen?
Fabian Schön: Mir ist erst einmal wichtig zu betonen, dass Schüler:innen keine fertigen Lösungen für die aktuellen bildungspolitischen Probleme liefern sollen. Das ist Aufgabe von Politik und Wissenschaft. Gleichzeitig sind wir diejenigen, die mit diesen Lösungen jeden Tag in der Schule umgehen müssen. Deswegen sehe ich es als unsere Aufgabe, die Lösungen aktiv an unsere Bedürfnisse anzupassen, damit wir uns gut damit identifizieren können.
Christine Streichert-Clivot: Junge Menschen verbringen heutzutage einen großen Teil des Tages in der Schule. Und damit sind sie natürlich, wie Herr Schön es treffend beschrieben hat, von allen Entscheidungen immer ganz unmittelbar betroffen. Sie erleben aber auch gesellschaftliche Veränderungen, einfach weil sie Teil dieser Gesellschaft sind. Und um herauszufinden, was jungen Menschen guttut, ist es am einfachsten, direkt mit ihnen zu sprechen. Das fängt im Mikrokosmos des Unterrichts an, ganz konkret zwischen unterrichtenden Lehrkräften und Schüler:innen. Aber natürlich sind auch auf den Ebenen der Kommune und der Bundesländer bis hin zur KMK wichtige Weichenstellungen zu treffen. Meine Erfahrung ist, dass junge Menschen sehr wohl in der Lage sind, ihre Vorstellungen zu artikulieren.
Die Bundesschülerkonferenz schreibt in ihrem Grundsatzprogramm: „Demokratie kann nur erlernt werden, indem sie auch gelebt wird“. Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund die Mitbestimmungsmöglichkeiten für Schüler:innen im Schulalltag?
Fabian Schön: Die Strukturen sind oftmals geschaffen, das Problem liegt eher in der Umsetzung. Es wird an jeder Schule eine Schüler:innenvertretung gewählt. Diese werden aber in die wichtigen Prozesse häufig zu wenig eingebunden. Und auch die Unterstützung durch die Schulleitungen ist sehr unterschiedlich. Ich weiß von vielen Schulen aus meinem Umkreis, dass da Schüler:innenvertreter:innen gewählt werden, auf dem Sommerfest einmal eine Rede halten und dann ist die Amtszeit vorbei. Momentan ist es reine Glückssache, wie sich Schüler:innen vor Ort beteiligen können. Das lässt sich aber genauso auf die Kreis- und Landesebene ausweiten. Auch mit den Schulträgern und den Bildungsministerien ist der Austausch oft leider noch schwierig.
»In vielen Schulen werden Schüler:innenvertreter:innen gewählt, dürfen auf dem Sommerfest einmal eine Rede halten und dann ist die Amtszeit vorbei. Momentan ist es reine Glückssache, wie sich Schüler:innen vor Ort beteiligen können.«
Wie können Beteiligungsprozesse im Schulalltag konkret aussehen?
Christine Streichert-Clivot: Im Saarland haben wir vor einiger Zeit dafür gesorgt, dass Mitbestimmungsformate schon in der Grundschule verpflichtend sind. Und zwar nicht nur in der Wahl von Schülervertretungen, sondern auch in Diskursräumen wie dem Klassenrat. In diesen Schulen gibt es eine fest verankerte Zeit im Stundenplan, in der Schüler:innen ihre Probleme selbst in die Hand nehmen und gemeinsame Regeln aushandeln können. Die Kinder übernehmen so Verantwortung für sich selbst und die Klassen- oder Schulgemeinschaft. Moderiert wird das von einer Lehrkraft. Wir brauchen echte Mitbestimmung. Denn darum geht es: Schüler:innen an einschlägigen und richtungsweisenden Entscheidungen zu beteiligen.
Fabian Schön: Zum Beispiel hat meine Schule im letzten Schuljahr den Essensanbieter gewechselt. Wir als Schüler:innenvertretung wurden direkt einbezogen, haben aus dem Kreis der Schüler:innen eine Essenskommission gebildet und die Bewerbungen gesichtet. Schlussendlich konnten wir am Probeessen mit den verschiedenen Anbietern teilnehmen und so unsere Schulumgebung aktiv mitgestalten.
Wenn wir speziell den Fokus auf die digitale Transformation richten: Wie können bzw. sollten Schüler:innen sie als Expert:innen mitgestalten?
Christine Streichert-Clivot: Der erste Schritt ist aus meiner Sicht, sie wirklich auch als Expert:innen anzuerkennen. Wir diskutieren die Nutzung des digitalen Raums häufig mit einer sehr negativen Brille. Junge Menschen können aber auch Türöffner sein, weil sie in die digitalen Räume schlicht hineingeboren wurden. Das bedeutet natürlich, dass Lehrkräfte die Gestaltungsmacht in ihrem Unterricht ein Stück weit an die Schüler:innen abgeben müssen. Aber so kann man dann gemeinsam besprechen, wie die digitale Welt funktioniert, was man dort macht und welche Vor- und Nachteile das bietet.
Fabian Schön: Ich glaube, es fängt damit an, dass Schulen Entscheidungen stärker vor Ort treffen können – also dort, wo sich noch relativ viele Schüler:innen beteiligen. Speziell für die digitale Transformation sollte die Schulkonferenz deutlich mehr Entscheidungsfreiheit haben. Und da ist dann auch immer ein festgelegter Anteil von Schüler:innen vertreten. Die genaue Zahl hängt vom Bundesland ab. Wenn Entscheidungen oberhalb der Schule zu treffen sind, sollten Schüler:innen in Gremien als Expert:innen hinzugezogen werden. So können politische Entscheidungen an die Lebensrealität der Schüler:innen in der Schule angepasst werden.
Christine Streichert-Clivot: Wir kriegen von der Bundesschülerkonferenz immer wieder gespiegelt, dass die Themen in der Schule stärker am Alltag der jungen Menschen andocken müssen. Die Digitalisierung ist ein solches Thema, das dazu führen kann, dass Schüler:innen Schule als lebensnahen Ort empfinden. Und da versuchen wir natürlich auch mit der KMK Schritt zu halten.
Was können politische Entscheidungsträger:innen konkret tun, um die Partizipation von Schüler:innen auf solide Strukturen zu stellen und den Stimmen der Schüler:innen einen Platz im politischen Geschehen zu verschaffen?
Christine Streichert-Clivot: Zunächst muss es selbstverständlich sein, dass ein Mitbestimmungsrecht für Schüler:innen in den Schulmitbestimmungsgesetzen verankert ist. Das muss sofort ansetzen, wenn junge Menschen in die Schule kommen. Und wir können auch Jugendbeteiligungsgesetze dort mitgestalten, wo das als Bildungsressort möglich ist. Dafür sollten wir uns neben der Landesschüler:innenvertretung auch mit Gruppen wie dem Jugendring austauschen, die die Jugend als solche repräsentieren. Denn wir adressieren ja im Endeffekt dieselbe Gruppe.
Fabian Schön: Die Politik hat an vielen Stellen schon einen ganz guten Job gemacht. In allen Bundesländern ist gesetzlich geregelt, dass es Organe der Schüler:innenvertretung gibt. Es scheitert deutlich öfter an der Umsetzung. Da sind die Schüler:innen noch zu häufig auf sich allein gestellt.
»Wir kriegen von der Bundesschülerkonferenz immer wieder gespiegelt, dass die Themen in der Schule stärker am Alltag der jungen Menschen andocken müssen. Die Digitalisierung ist ein Thema, das dazu führen kann, dass Schüler:innen Schule als lebensnahen Ort empfinden.«
Welche Probleme gibt es konkret auf welchen Ebenen?
Fabian Schön: Vor allem auf den niedrigeren Ebenen müssen sich die Schüler:innen neben ihrem Schulalltag selbst darum kümmern, dass die Sitzungen stattfinden und wie sie organisiert werden. Würde man die Strukturen durch Beratungslehrkräfte oder zuständige Stellen in Ministerien und Schulämtern stärken, könnten sich Schüler:innen viel mehr auf den inhaltlichen Diskurs miteinander konzentrieren und gebündelt ihre Vorstellungen in die Politik tragen.
Christine Streichert-Clivot: Wir können sicher auch noch besser darin werden, Gesetze in einer verständlichen Sprache zu formulieren. Die Politik setzt häufig voraus, dass jeder diese Texte versteht und nachvollziehen kann, was das in der Praxis bedeutet. Oft geht es aber um Maßnahmen, die man gut erklären muss.
»Würde man die Strukturen durch Beratungslehrkräfte oder zuständige Stellen in Ministerien und Schulämtern stärken, könnten sich Schüler:innen viel mehr auf den inhaltlichen Diskurs miteinander konzentrieren und gebündelt ihre Vorstellungen in die Politik tragen.«
Bei ihrer Jubiläumsfeier wurde ein festes Austauschformat der Bundesschülerkonferenz mit der KMK angekündigt. Wie ist der aktuelle Stand Ihrer Zusammenarbeit?
Christine Streichert-Clivot: Dazu werden wir uns zeitnah mit dem neuen Vorstand austauschen. Aktuell haben wir zwei Möglichkeiten: Die KMK kann Gäste zu ihren Sitzungen hinzuziehen. Die finden aber nur viermal im Jahr statt. Andersherum kann mich die Bundesschülerkonferenz zu ihren Treffen einladen. In der Vergangenheit haben wir es aus meiner Sicht geschafft, im ständigen Gespräch zu bleiben. Wir möchten bei der Einbindung der Schüler:innen mit gutem Beispiel vorangehen.
Fabian Schön: Leider wechseln sowohl unser Vorstand als auch die KMK-Präsidentschaft ziemlich häufig. Das macht eine verlässliche Kommunikation nicht immer einfach. Ich bin aber für die Zukunft schon zu einigen KMK-Veranstaltungen eingeladen. Da war bei meinen Vorgängern längst nicht immer der Fall. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.
Frau Streichert-Clivot, wie oft sprechen Sie selbst eigentlich mit Schüler:innen?
Christine Streichert-Clivot: Tatsächlich sehr regelmäßig. Der Landesschüler:innensprecher und ich haben unsere Handynummern ausgetauscht und stehen in Kontakt, wenn etwas Gravierendes passiert. Ich bin aber auch regelmäßig in der Landesschüler:innenvertretung zu Gast. Wir haben aus der Tradition heraus eine gute Gesprächsgrundlage.