Gastbeitrag

Digitale Transformation aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen in Europa gestalten – das Horizon-Projekt DigiGen

von Birgit Eickelmann, Kerstin Drossel, Gianna Casamassima, Amelie Labusch
veröffentlicht am 07.10.2021
Lesezeit: 9 Minuten

Wie kann es gelingen, dass alle Kinder und Jugendlichen an den digitalen Transformationsprozessen teilhaben, und diese – und damit ihre eigene Zukunft – aktiv mitgestalten? Dieser Frage geht das DigiGen-Forschungsprojekt nach, das im Rahmen des Horizon-Programms von der Europäischen Kommission gefördert wird.

Mit dem europäischen Forschungsprojekt „The Impact of Technological Transformations on the Digital Generation“, kurz DigiGen, werden wichtige Erkenntnisse darüber generiert, wie Kinder und Jugendliche die technologischen Entwicklungen in ihrem Alltag nutzen und davon beeinflusst werden. Forschungsgruppen aus den acht europäischen Ländern Deutschland, Estland, Griechenland, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Rumänien und Spanien sind daran beteiligt. Unterstützt durch das zivilgesellschaftliche Netzwerk COFACE Families Europe untersuchen sie mit DigiGen die nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftlich hoch relevante Fragestellung, wie und warum ein Teil der Kinder und Jugendlichen von den Digitalisierungsprozessen profitiert, während ein anderer Teil nicht an diesen Entwicklungen teilhat und in bestimmten Bereichen sogar negativ davon beeinflusst zu sein scheint.

Im Kern geht es damit um Bildungs- und Lebenschancen der aufwachsenden Generation sowie ihre Zukunftsperspektiven in der digitalen Welt in Europa. Die Wichtigkeit dieser Fragestellung und damit die Relevanz des Vorhabens mit einer Laufzeit von Dezember 2019 bis November 2022, das im Rahmen der hoch kompetitiven Horizon-2020-Förderlinie (Grant 870548) der Europäischen Kommission als eines von vier Projekten zur digitalen Transformation gefördert wird, scheint durch die Pandemie-Situation nicht nur in den beteiligten Ländern, sondern in ganz Europa und vermutlich sogar weltweit noch weiter gestiegen zu sein. Das Projekt wird von Halla Holmarsdottir von der norwegischen Universität OsloMet geleitet. Den Teilbereich „ICT in Education“ (Informationsund Kommunikationstechnologie in der Bildung) verantwortet Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn.

Kernbereiche und übergreifende Fragestellung von DigiGen

Im Kern des Forschungsprojekts stehen die Kinder und Jugendlichen selbst, die durch vielfältige Ansätze als Ko-Konstrukteur:innen in das Forschungsvorhaben eingebunden sind und dieses in relevanten Teilen mitentwickeln. Dazu ist das Projekt in vier große (Lebens-)Bereiche untergliedert, die als einzelne Ökosysteme verstanden werden und in ihren Wechselwirkungen und ihrem Zusammenwirken die digitale Generation prägen und beeinflussen:

Übergreifend steht zu jedem Einzelbereich jeweils eine zentrale Frage als Ausgangspunkt der gemeinsamen Europäischen Forschung im Vordergrund:

  1. Familie: Wie prägen digitale Medien und neue Technologien den Alltag von Familien in Europa und das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in einer von Digitalisierung geprägten Welt?
  2. Freizeit: Wie verändert sich das alltägliche Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen durch die Nutzung von digitalen Medien und neuen Technologien und wie verändern sich u. a. soziale Interaktionen?
  3. Bildung: Wie schätzen Kinder und Jugendliche ihre (schulische) Bildung als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben im digitalen Zeitalter ein?
  4. Gesellschaftliche Teilhabe: Welche sozioökonomischen, geschlechtsspezifischen und politisch-kulturellen Faktoren beeinflussen das digitale (politische) Engagement junger Menschen?

Für alle Einzelbereiche werden schrittweise schon in der Projektlaufzeit die Ergebnisse auf der Projektwebsite zur Verfügung gestellt und darüber hinaus in Open-Access-Formaten publiziert.

Kinder und Jugendliche als Mitforschende und Ko-Konstrukteur:innen der digitalen Transformation

Mit einem multiperspektivischen und interdisziplinären Forschungsansatz ist es Ziel des DigiGen-Projekts, ein neues Verständnis darüber zu entwickeln, welchen Chancen, aber auch welchen Hindernissen Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Lebenssituationen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation der Gesellschaft begegnen. Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen werden in der Zusammenarbeit mit sogenannten Nationalen Stakeholder:innen Handlungsempfehlungen, im Sinne von Policy Recommandations, für den gesamten Sozial- und Bildungsbereich unter Berücksichtigung von Aspekten wie Gesundheit, Wohlbefinden und Online-Sicherheit entwickelt. 

DigiGen kombiniert zur Beantwortung der Forschungsfragen in einem Mixed-Method-Design unterschiedliche Forschungsmethoden, die im Sinne des Projektziels so weiterentwickelt werden, dass Kinder und Jugendliche als Mitforschende und Mitgestaltende substanziell einbezogen werden. Für den Bereich „ICT in Education“ heißt dies beispielsweise konkret, dass u. a. im Rahmen eines VideoWorkshops Kinder und Jugendliche gemeinsam mit Lehramtsstudierenden Fragen zur Bildung der Zukunft in der digitalen Welt entwickeln und sich gegenseitig interviewen. Damit soll der blinde Fleck in der Forschung überwunden werden, dass die in Forschungsprojekten gestellten Fragen oft nur aus der Erwachsenenperspektive entwickelt und gestellt werden und vielfach immer gleiche Ergebnisse bringen, während die wirklich relevanten Fragen aus der Perspektive der heranwachsenden Generation möglicherweise gar nicht gestellt werden. 

Für Deutschland setzt sich zudem zur Erweiterung der Perspektiven und zur Unterstützung des Vorhabens ein nationales Stakeholder:innen-Team, das die Arbeitsgruppe an der Universität Paderborn kontinuierlich berät, zusammen. Es besteht aus Jacob Chammon (Forum Bildung Digitalisierung), Stefan Drewes (Medienberatung NRW), Desirée Grothues (Bundesministerium für Bildung und Forschung), Dorothee Meister (Universität Paderborn und Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e. V.) und Ekkehard Winter (Deutsche Telekom Stiftung).

Erste Ergebnisse aus DigiGen zu „ICT in Education“

Ein erster Teil des Vorhabens unter dem Titel „Mapping digital transformations across Europe“ unter Ko-Leitung von Kerstin Drossel von der Universität Paderborn konnte bereits im Jahr 2021 abgeschlossen werden und bildet zunächst durch die Zurverfügungstellung von umfangreichen (Sekundär-)Analysen und daraus neuentwickelten interaktiven Karten für Europa einen Ist-Stand ab (Ayllón et al. 2020).

Zu den so erfassten Bereichen gehören u. a. neben der Ausstattung der Schulen in Europa die tatsächliche Nutzung von digitalen Medien im Schulalltag, das Niveau und die Bedingungsfaktoren des Erwerbs digitaler Kompetenzen von Schüler:innen, einschließlich der Bedeutung des sozioökonomischen Hintergrunds sowie der Erfahrungen der Lehrkräfte mit digitalen Medien.

Dabei zeigt die Fusion der Ergebnisse auch im Hinblick auf Bildungschancen in der digitalen Welt ein Nord-Süd-Gefälle sowie teilweise deutliche Entwicklungsbedarfe für südosteuropäische Länder. Daran anknüpfend werden im sogenannten Vorhaben „Work Package 5“ zwei umfangreiche Studien in den fünf DigiGen-Ländern Deutschland, Estland, Griechenland, Norwegen und Rumänien durchgeführt, die anlässlich der Pandemie-Situation im ersten Projektjahr um die Ergänzungsstudie „The younger generation’s views on how their education is preparing them for the digital age against the background of COVID-19: Results of an exploratory study in five European countries“ (Eickelmann et al. 2021) erweitert wurden. Dabei wurden unterschiedliche Bereiche betrachtet, begonnen mit dem Zugang zu digitalen Medien innerhalb und außerhalb der Schule sowie dessen Nutzung, die sich auf die folgenden fünf Fragen beziehen: 

  1. Wie erleben Kinder und Jugendliche den Einsatz von ICT beim Lehren und Lernen während der COVID-19-Pandemie?
  2. Wie nehmen die Kinder und Jugendlichen ihr eigenes Lernmanagement während der COVID19-Pandemie wahr? 
  3. Wie erleben die Kinder und Jugendlichen die Unterstützung beim Lernen während der COVID19-Pandemie? 
  4. Wie schätzen Kinder und Jugendliche die Fähigkeit und Bereitschaft ihrer Lehrkräfte ein, ICT in den Unterricht zu integrieren und die junge Generation bei der Vorbereitung auf das digitale Zeitalter zu unterstützen? 
  5. Wie nehmen Kinder und Jugendliche die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Nutzung von ICT im Unterricht und damit verbundene Veränderungen wahr?

Im Ergebnis wurden von den Kindern und Jugendlichen zahlreiche Vorteile, aber auch Einschränkungen, die das Lernen mit digitalen Medien in der Pandemiezeit mit sich gebracht hat, berichtet.

„Ich wünsche mir, dass die Lehrer:innen mehr auf die Schüler:innen eingehen.“
– Junge aus Deutschland, 10 Jahre, Klasse 5

„Ich mag das Online-Lernen nicht so sehr wie den normalen Unterricht, weil die Lehrer:innen auf den Zetteln nicht richtig erklären, wie die Aufgabe gemacht werden soll.“
– Junge aus Deutschland, 10 Jahre, Klasse 5

„Wenn man etwas nicht weiß oder sich nicht auskennt, kann man einfach im Internet nachschauen oder bei Google suchen.“
– Mädchen aus Deutschland, 12 Jahre, Klasse 6

„Es gibt einige Lehrer:innen, die mit der Technik nicht so vertraut sind und sie selbst nicht so gut verstehen.“
– Mädchen aus Deutschland, 12 Jahre, Klasse 6

Auch informiert durch die Ergebnisse dieser Ergänzungsstudie zu COVID-19, die von November 2020 bis Februar 2021 durchgeführt wurde, beschäftigt sich die erste große Teilstudie im Bereich „ICT in Education“ mit der Fragestellung, wie Kinder und Jugendliche ihre schulische Bildung hinsichtlich ihrer Zukunft in einer digitalen Welt einschätzen, und nimmt dazu auch die Übergänge in den fünf betrachteten Schulsystemen in den Blick. So umfasst das Forschungsdesign zwei Teilstudien mit Datenerhebungen jeweils vor und nach dem Übergang in eine neue formale Bildungsphase (für Deutschland: Ende der Grundschulzeit und erstes Halbjahr des neuen Schuljahres an der weiterführenden Schule). Die vor bzw. nach dem Übergang durchgeführten insgesamt 60 Interviews mit Schüler:innen münden in narrativen Berichten, welche in einer fallübergreifenden Ergebnisanalyse mit einer europäischen Perspektive ausgewertet werden. Ergänzt werden die Interviews mit den Schüler:innen durch Interviews mit Lehrkräften (N=30) für die verschiedenen Schulstufen sowie mit den jeweils in den beteiligten Ländern einschlägigen nationalen Stakeholder:innen (N=15). 

Länderübergreifende Ergebnisse der neuen Datenanalysen für den Bereich „ICT in Education“ stehen ab Frühjahr 2022 zur Verfügung. Als erste Eindrücke und Einblicke in die Ergebnisse für Deutschland kann bereits festgehalten werden, dass die befragten Kinder – in Deutschland wurden vor den Sommerferien zu einer Zeit des Präsenzunterrichts Viertklässler:innen in drei Bundesländern interviewt – teilweise einen bedeutsamen Bruch zwischen ihrem Leben in einer von Digitalisierung geprägten Welt und den schulischen Lernangeboten sehen. Weiterhin erscheint interessant, dass sich – vermutlich nicht zuletzt durch die digitalen Erfahrungen in der Pandemie-Situation – viele Kinder Gedanken zu technologischen Entwicklungen, die sie beim Lernen unterstützen könnten, machen und auch konkrete Vorschläge und Wünsche unterbreiten, z. B. „dass man verschiedene Programme auf dem Schullaptop nutzen kann und dass man somit zusammen an digitalen Projekten arbeiten kann“ (Junge aus Deutschland, 10 Jahre, Klasse 4) und man „neben dem Computer und Laptop auch andere digitale Medien nutzen“ kann (Mädchen aus Deutschland, 10 Jahre, Klasse 4). Konkrete technische Zukunftsvisionen für ihr Lernen entwickeln die Kinder ebenfalls. Ein Beispiel: „Ich habe schon eine Vorstellung, was es in Zukunft geben wird. Das ist dann so ein Armband. Da drückt man dann auf einen Knopf und dann erscheint ein Display, wo alle Apps drauf sind“ (Mädchen aus Deutschland, 10 Jahre, Klasse 4). 

Die zweite große Aufgabe im Bereich „ICT in Education“ besteht in einem Video-Workshop, der im Herbst 2021 in allen Ländern durchgeführt wird und sowohl länderweise als auch länderübergreifend bis Januar 2022 ausgewertet wird. Im Kern steht hier die Entwicklung von eigenen Fragen aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen, die im Rahmen des Workshops nicht nur entwickelt, sondern auch über die Durchführung von gegenseitigen Interviews beantwortet und diskutiert werden. Dabei werden über die Einbindung von Lehramtsstudierenden auch Bezüge zur Lehrkräfteausbildung hergestellt.

Birgit Eickelmann

Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Schulentwicklung und der Transformation von Schulen und Schulsystemen im 21. Jahrhundert. Seit fast 20 Jahren erforscht sie mit einer international und europäisch vergleichenden Perspektive die Entwicklung von Schule und Unterricht unter den Bedingungen gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse. Für Deutschland leitet sie unter anderem die IEA-Studien ICILS 2013, 2018 und 2023.

birgit.eickelmann@upb.de https://www.upb.de/eickelmann

Kerstin Drossel

Kerstin Drossel ist Akademische Oberrätin an der Universität Paderborn am Lehrstuhl Schulpädagogik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Bildungsforschung, der Lehrkräfteprofessionalisierung sowie der Schul- und Unterrichtsentwicklung im Zeitalter der digitalen Transformation. Sie leitet unter anderem die IEA-Studie ICILS 2023 für Nordrhein-Westfalen.

kerstin.drossel@upb.de http://www.upb.de/drossel

Gianna Casamassima

Gianna Casamassima ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Bildungsforschung zu digitalisierungsbezogenen Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozessen mit besonderem Blick auf Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.

Amelie Labusch

Amelie Labusch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Schul- und Unterrichtsentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung und im Bereich Computational Thinking.

Literatur
  • Ayllón, S., Barbovshi, M., Casamassima, C., Drossel, K., Eickelmann, B., Ghețău, C., Haragus, T. P., Holmarsdottir, H. B., Hyggen, C., Kapella, O., Karatzogianni, A., Lado, S., Levine, D., Lorenz, T., Mifsud, L., Parsanoglou, D., Port, S., Sisask, M., Symeonaki, M. & TeidlaKunitsõn, G. (2020): ICT usage across Europe. A literature review and an overview of existing data (= DigiGen working paper series No. 2). DOI: 10.6084/m9.figshare.12906737 
  • Eickelmann, B., Barbovschi, M., Casamassima, G., Drossel, K., Gudmundsdottir, G.H., Holmarsdottir, H. B., Kazani, A., Mifsud, L., Parsanoglou, D., Port, S., Sisask, M., Symeonaki, M. & TeidlaKunitsõn, G. (2021): The younger generation’s views on how their education is preparing them for the digital age against the background of COVID-19: Results of an exploratory study in five European countries. DOI: 10.6084/m9.figshare.16669345