Impuls
Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“
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veröffentlicht am 07.06.2023
Lesezeit: 11 Minuten
Die sechste Fachtagung „Dimension Digitalisierung“ am 25. und 26. Mai 2023 widmete sich den Synergien von Ganztagskonzepten und digitaler Bildung. Anknüpfend an das Jahresthema „Qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsschule in der Primarstufe“ der diesjährigen KMK-Präsidentschaft tauschten sich 120 Expert:innen aus Pädagogischen Landesinstituten, Kultusministerien und Zivilgesellschaft unter anderem zu den Themen Kooperatives Lernen, Multiprofessionelle Teams oder Bildungsgerechtigkeit aus.
Das grüne Dreieck. Egal, in welchem Workshop man saß, welcher Paneldiskussion man lauschte oder von welchem wissenschaftlichen Input man sich auf der zweitägigen Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“ inspirieren ließ – es war diese eine, sehr schlicht gehalten Grafik des Zürcher Pädagogikprofessors Frank Brückel, die einem immer wieder begegnete. Sie bot eine gute Orientierung in einem sehr komplexen Themenfeld, das man sich in diesem Jahr für die Veranstaltung vorgenommen hatte. Genauer gesagt sogar zwei Themenfelder, die man in Synergie zueinander bringen wollte: den Ganztag und die Digitalisierung.
Brückels eleganter Visualisierungsidee nach, welche er den im Start-up Ambiente der Berliner Eventlocation Amplifier versammelten Teilnehmenden in seiner Keynote präsentierte, sortiert sich die Herausforderung wie folgt: Unterrichtsgestaltung und außerunterrichtliche Angebote werden noch viel zu oft als zwei konzeptuell und organisatorisch eigenständige Bereich angesehen – in seiner Darstellung zwei nebeneinander positionierte Dreiecke, das eine beige, das andere grün eingefärbt, mit nach oben spitz zulaufenden Ecken. In den Zwischenraum allerdings, und das mache seiner Meinung nach ein gelingendes Ganztagskonzept aus, schiebt sich nun ein drittes, ebenfalls grün eingefärbtes Dreieck, das die bestehende Lücke geometrisch exakt schließt und für die konzeptuelle und organisatorische Verzahnung der beiden Bereiche sorgt.
Recap-Film zur Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“
Perspektive der Schüler:innen mitdenken
Der Ganztag, so Brückels Punkt, entfalte sein Potenzial nur dann, wenn es gelingt, diese Lücke sinnvoll zu schließen. Erst dann verzahnten sich Vormittags- und Nachmittagsangebote zu einem sinnvollen Ganzen, erst dann könnte der zunehmende gesellschaftliche Wunsch nach längerer schulischer Betreuung auch pädagogisch sinnvoll umgesetzt werden. Erst dann sei ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot gewährleistet, für das Brückel und sein Team an der Pädagogischen Hochschule Zürich den Qualitätsrahmen „Qualität in Tagesschulen / Tagesstrukturen (QuinTaS)“ entwickelt haben. Ein hochwertiges Angebot sei demnach dann gegeben, wenn es altersangemessen, anregungsreich und entwicklungsfördernd ist.
„Ganz entscheidend dabei ist, immer auch die Perspektive der Schüler:innen einzunehmen“, betont Brückel. Diese werden im Rahmen eines von Brückels Team entwickelten Selbsteinschätzungsbogen regelmäßig abgefragt und evaluiert. Eines der wichtigsten Learnings: Kinder und Jugendliche wünschen sich den Austausch mit Gleichaltrigen, sie brauchen Rückzugsorte und bestehen auf einer klaren Trennung zwischen Angeboten und reiner Freizeit. „Insbesondere die kleineren Kinder haben uns gesagt, ich weiß überhaupt nicht, was Erwachsene mit Freizeit meinen. Ich muss immer dahin und dann dorthin. Das haben wir dann berücksichtigt und unsere Handlungsfelder entsprechend angepasst.“
Genug Autonomie für alle Berufsgruppen
So sinnvoll es scheint, in der Entwicklung eines Ganztagskonzepts die Bedürfnisse der Schüler:innen zum zentralen Ausgangspunkt von Schulentwicklung zu machen, natürlich muss das Konzept auch vom Kollegium angenommen werden, die pädagogischen Teams müssen mitziehen, die Verzahnung der Dreiecke möglichst nahtlos gelingen. Wie also kann es gelingen, das Kollegium zur Veränderung zu motivieren, so eine Frage aus den Reihen der Praktiker unter den Teilnehmenden. Brückels sehr einfache Antwort: Das sei eigentlich gar kein zusätzlich zu lösendes Problem, sondern ergebe sich gerade aus dem Fokus auf die Schüler:innen. „Nach der Umstellung auf den Ganztag führen wir jedes Jahr eine Evaluation unter den Kindern durch. Wenn die sagen, wir sind an einem guten Ort, dann haben wir es geschafft. Spätestens dann sind die Teams dabei.“
Ein Selbstläufer sei das natürlich trotz allem nicht. Die organisatorische Verzahnung könne laut Brückel nur dann gelingen, wenn alle Berufsgruppen das Gefühl haben, ausreichende autonom in ihrem Tätigkeitsfeld agieren zu können. „Die größte Angst ist, dass die Leute aus dem Hort sich fragen: Sind wir jetzt Erfüllungsgehilfen für die Lehrkräfte? Oder die Lehrkraft nicht versteht, warum die Schüler:innen zum Mittagessen begleitet werden sollen.“ Und dass der gemeinsame Austausch, der ein solches Szenario verhindern könnte, oft schlicht daran scheitert, dass die Arbeitszeiten der im Unterricht und außerhalb des Unterrichts tätigen Kolleg:innen sich überhaupt nicht überschneiden.
»Ein Kollegium sollte in Zukunft mehr sein als eine Ansammlung von Lehrer:innen.«
Pädagogische Teams erweitern
Abhilfe könnten, so Brückels Vorschlag, digitale Austauschformate bieten und es sollte auch nicht bei diesem einen Beispiel bleiben, wie digitale Unterrichtskonzepte dabei helfen können, Ganztagsangebote qualitativ hochwertig zu gestalten. Wenig später berichtete Lena Zimmer, Schulleiterin der Grundschule Siersburg im Saarland, im Rahmen ihres Praxis-Inputs „Vernetztes Arbeiten in Schule und Nachmittag – Chancen der digitalisierten Förderung“ noch von ganz anderen Herausforderungen, denen sie sich in ihrem Bundesland gegenübersieht. Insgesamt 11 solcher Beispiele aus der Praxis, sowie vier Workshops boten den Teilnehmenden die Möglichkeit, über die Synergien zwischen Ganztag und Digitalisierung zu reflektieren.
Im Saarland, so Zimmer, sei es beispielsweise schulgesetzlich vorgesehen, dass der Hort in einem anderen Gebäude untergebracht ist, als die Schule. Auch sei es arbeitsrechtlich gerade nicht möglich, Integrationshelfer:innen auch für das Nachmittagsangebot einzusetzen, obwohl genau das im Sinne einer besseren Verzahnung (grünes Dreieck) notwendig wäre. „Ein Kollegium sollte in Zukunft mehr sein als eine Ansammlung von Lehrer:innen“, so Zimmer. „Wir müssen hier breiter denken und auch die Sozial- und Integrationsarbeit bis hin zu Angeboten aus der Ergotherapie mit berücksichtigen.“
Auch für Lena Zimmer können digitale Tools bei der Ausgestaltung des Ganztags unterstützen: durch den Einsatz in der Verwaltung, zur besseren Rhythmisierung des Schulalltags sowie zur individuellen Förderung von Schüler:innen. Christiane Dubiel, Grundschulkonrektorin der Kurt-Masur-Schule Leipzig in Sachsen, brachte aus ihrem Arbeitsalltag noch eine weitere Perspektive auf die Schnittmengen der Handlungsfelder Digitalisierung und Ganztag mit. Aus ihrer Sicht bietet gerade der Ganztag mit seinen zeitlich großzügiger planbaren Lerneinheiten ideale Möglichkeiten, um die kreativen Potenziale digitaler Tools überhaupt erst voll zur Entfaltung bringen zu können.
Digitalisierung und Ganztag zusammendenken
Dies bestätigte die Grundthese, die den roten Faden der gesamten Veranstaltung bildete: Ganztag und Digitalisierung können und sollten sich ergänzen. Sie sind dementsprechend keine zueinander in Konkurrenz stehenden Maßnahmen zukunftsgewandter Pädagogik, sondern ergänzen sich, ja, sind in ihren Zielen im Grunde deckungsgleich. In diesem Sinne kann es sich etwa lohnen, die im aktuellen KMK-Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ mit den Qualitätsmerkmalen einer Ganztagsschule zusammenzudenken. „Es ist überraschend, zu sehen, wie viele thematische Überschneidungen es hier gibt“, so Daniel Böhme, Projektmanager beim Forum Bildung Digitalisierung. „Eine Gelingensbedingung für den Ganztag ist beispielsweise die kooperative Professionalität, die wiederum durch digitale Tools gefördert werden kann. Digitale Formate entwickeln sich am besten dann, wenn der Raum und die Zeit für sie zur Verfügung stehen. Und genau das leistet der Ganztag.“
»Wir müssen den Mut derer belohnen, die sich auf den Weg machen.«
Auch für Katharina Günther-Wünsch, amtierende KMK-Präsidentin und Senatorin für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin, lohnt es sich, die Themenfelder Ganztag und Digitalisierung zusammenzudenken. Angesichts des Rechtsanspruchs auf einen Grundschul-Ganztagsplatz ab 2026 müsse man dringend Fahrt aufnehmen und da können digitale Lösungen, wie sie insbesondere in der Coronazeit entwickelt wurden, eine wichtige Rolle spielen. „In Berlin hat sich während der Lockdowns in einigen Schulen das Modell des hybriden Unterrichtens in der Oberstufe etabliert. Auf solche Konzepte können und sollten wir zurückgreifen“, so die Politikerin in der Abschlussrunde der Tagung.
Allerdings, so gibt die ehemalige Lehrerin und Schulleiterin zu, braucht es dafür auch eine Schulumgebung, die darauf vorbereitet ist. Technische Ausstattung spielt hierbei nur eine Rolle. Genauso wichtig sei es, den Schulen Freiraum zur Entwicklung zu geben. „Manche Entscheidungsprozesse dauern einfach zu lange. Sie wollen ein neues Projekt auf die Beine stellen und warten ein dreiviertel Jahr auf eine Genehmigung. Wir müssen den Mut derer belohnen, die sich auf den Weg machen“, so Günther-Wünsch. Konkret meinte sie damit etwa Kooperationen mit externen Initiativen. Schulen könnten sehr davon profitieren, wenn sie rechtlich und finanziell die Möglichkeit hätten, mit Sportvereinen, Musikschulen oder Institutionen zusammenzuarbeiten, die auf ehrenamtliche Mitarbeitende angewiesen sind.
Abschlussdiskussion der Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“ am 26. Mai 2023
Mehr Zeit für die Zukunft
Digitalisierung, so wird schon seit Jahren auf Veranstaltungen des Forum Bildung Digitalisierung deutlich, ist kein Selbstzweck. Ihr Potenzial, etwa zum kollaborativen Arbeiten oder individualisierten, selbstregulierten Lernen, wird sich nur dann entfalten, wenn die Rahmenbedingungen dafür gegeben sind. Auch Ferdinand Stebner, Professor für Schulpädagogik an der Universität Osnabrück, betonte es während einer Live-Ausgabe des Podcasts Auftrag:Aufbruch zum Thema Selbstreguliertes Lernen im Ganztag gegen Ende des ersten Veranstaltungstags: Innovative Lehrformate in das bisherige System einzubringen, ist nachweislich nicht nachhaltig. „Selbstreguliertes Lernen kann man sehr schnell auch wieder verlernen, wenn es auf ein Projekt beschränkt bleibt und nicht zur Anpassung des gesamten Unterrichtskonzepts führt.“
Nur: Für eine Systemänderung, so wird es von Praktiker:innen seit Jahren immer wieder angemahnt, fehlt schlichtweg die Zeit. Lehrkräfte bleiben oft Einzelkämpfer:innen ohne Kapazitäten für Teamarbeit, sowohl untereinander als auch mit den Kolleg:innen aus der Sozial- und Betreuungsarbeit. Bei weitem nicht in allen Schulen funktioniert die multiprofessionelle Verzahnung schon so gut wie bei Susan Kayser, Schulleiterin der Nürtingen Grundschule Kreuzberg, und Ansgar Kind, Leitung der Schulsozialarbeit Kotti e. V., die auf der Fachtagung von ihrer Zusammenarbeit berichteten. Wer als Lehrkraft oder Erzieher:in einen spannenden Workshop absolviert hat oder eine neue Unterrichtsidee erfolgreich testen konnte, kann dies an ihrer Schule schon seit einigen Jahren über Mini-Workshops an das Kollegium weitergeben. „Darüber verankern wir strategische Überlegungen gleich mit”, so Ansgar Kind.
»Ein richtig eingesetztes Ganztagskonzept kann uns das geben, was wir im Augenblick alle am dringendsten brauchen: mehr Zeit für die Arbeit multiprofessioneller Teams.«
Und um diesen Schritt gehen zu können und sich als Schule entsprechend Richtung weiterzuentwickeln, schaffe der Ganztag eben überaus günstige Bedingungen, so brachte es Jacob Chammon, ehemaliger Schulleiter und Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung, am Ende der Fachtagung auf den Punkt. „Ein richtig eingesetztes Ganztagskonzept kann uns das geben, was wir im Augenblick alle am dringendsten brauchen: mehr Zeit für die Arbeit multiprofessioneller Teams.“ Und durch eine gute Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Betreuer:innen werde es wiederum möglich, die Lernzeiten so zu gestalten, dass die Potenziale digitaler Tools voll ausgeschöpft werden können. „Wenn ich am Vormittag etwas im Unterricht angestoßen habe, kann ich es am Nachmittag entsprechend vertiefen – und dafür wunderbar digitale Hilfsmittel einsetzen.“
Dokumentation der Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“
Auf der Website des Forum Bildung Digitalisierung finden Sie eine Dokumentation der Veranstaltung mit den Links zu den aufgezeichneten wissenschaftlichen Impulsen und der Abschlussdiskussion im Plenum, einem Live-Ausgabe des Podcasts Auftrag:Aufbruch sowie einer Interview-Reihe mit Speaker:innen aus dem Programm.
Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der KMK wird auch in 2024 mit einer weiteren Fachtagung „Dimension Digitalisierung“ fortgesetzt. Im kommenden Jahr beteiligt sich das Saarland als KMK-Präsidentschaftsland an der Organisation der Veranstaltung.