Gastbeitrag
Gelingensbedingungen für den digitalen Wandel an Schulen
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veröffentlicht am 02.09.2020
Lesezeit: 10 Minuten
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit der digitale Kulturwandel an Schulen gelingen kann? Bei der Auswertung wissenschaftlicher internationaler Forschungsbeiträge konnten elf Gelingensbedingungen identifiziert werden, die auch die Debatte in Deutschland zum Thema zeitgemäße Schule in der digitalen Welt bereichern.
Die Schließung der Schulen im Frühjahr 2020 infolge der Coronakrise stellte eine noch nie zuvor dagewesene Ausnahmesituation für die Bildungslandlandschaft in Deutschland dar. Plötzlich gab es keinen zentralen Lernort Schule mehr, an dem Schüler:innen und Lehrkräfte zusammenkamen, um gemeinsam zu lernen und zu unterrichten. An die Stelle des klassischen Präsenzunterrichts rückte in den vergangenen Monaten zunehmend das Lehren und Lernen mittels digitaler Medien. Auch das personalisierte Lernen, also Differenzierungen in Bezug auf individuelle und wechselnde Lernbedürfnisse der Schüler:innen flexibel vorzunehmen, war und ist nach wie vor eine große Herausforderung. Es wurde vielerorts deutlich, dass es nun die digitalen Medien waren, die das Weiterlernen und das personalisierte Lernen während der Coronazeit ermöglichten. Den Schub, den die Digitalisierung in der Schule verliehen bekommen hat, gilt es nun aufrechtzuerhalten. Ein wichtiger Schlüssel ist es, dass die Digitalisierung in der Lehrkräfteausbildung einen zentralen Stellenwert einnimmt und didaktische Konzepte zum Einsatz digitaler Medien in der Unterrichtspraxis erprobt werden.
Die zentrale Frage: Wofür ist Schule da?
Es gab einige Lehrkräfte, die ein großes Engagement an den Tag legten, um in der ungewohnten Situation geeignete Wege zu finden, oder aber auch einfach Spaß daran hatten, mit den neuen Möglichkeiten zu experimentieren. Maike Schubert, Schulleiterin der Reformschule Winterhude in Hamburg fragte sich etwa in einem Interview mit der ZEIT, wofür die Schule da sei. Es gäbe sehr unterschiedliche Antworten. Die Eltern hätten ein großes Interesse an der Betreuung der Kinder, um in Ruhe arbeiten zu können. Die Schüler:innen wollten besonders ihre Freund:innen wiedersehen und Lehrkräfte hätten insbesondere den verpassten Unterrichtsstoff im Blick gehabt. Schubert schließt daraus, dass Kinder nicht in erster Linie in die Schule kommen, weil sie dort so gut und gerne lernen würden. Hier stellt sich also tatsächlich die Frage: Wozu ist Schule da?
Die Reflexion über die Möglichkeiten und Sinnhaftigkeit digitalgestützten Lehren und Lernens ist immer auch ein Nachdenken über zeitgemäße Schule in unserer sich schnell verändernden Welt. Wann ist das Zusammenkommen an einem Ort wichtig? Welche Bedeutung haben Schulgebäude, Klassenräume und ein Klassensystem nach Jahrgängen? Wie verändern sich die Beziehungen und Rollen zwischen den Schüler:innen untereinander und ebenso zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen? Welchen Einfluss hat digitalgestütztes Lernen auf die Schulorganisation?
Die Coronakrise hat eines deutlich gemacht: Sie kann als Katalysator zum digitalen Reset dienen. Ebenso können Entwicklungen, die durch neue Technik angestoßen werden, einen Schub für digitale Veränderungsprozesse auslösen (Sipilä, 2014, S. 8), der alle Bereiche der Schulentwicklung von der Unterrichtsentwicklung über die Personalentwicklung und Organisationsentwicklung (Rolff, 2016, S. 20) mit weitreichenden Auswirkungen berührt. Die Verfügbarkeit digitaler Medien allein reicht nicht aus, denn sie wirkt sich nur marginal auf didaktische Konzepte, das Verhalten von Lehrpersonen oder auf die Schule als Bildungsinstitution aus. Digitale Medien in die schulische Unterrichtspraxis zu integrieren ist ein komplexeres Unterfangen und geht weit über die Bereitstellung von Technik und einer geeigneten Infrastruktur sowie Lehrerfortbildungen hinaus, in denen der Umgang mit der Technik erlernt wird (Kerres & Waffner, 2019, S. 227). Es brauche technikgestützte didaktische Unterrichtskonzepte, die zu den Lernzielen passen. Darüber hinaus bedarf es einer hohen Qualität technikgestützter Interaktionen zwischen Schüler:innen (Kerres, 2020).Der Impuls, Schule für eine zeitgemäße Bildung neu zu denken, war in der letzten Zeit stärker vorhanden als je zuvor, schätzt Frank Wagner, Schulleiter an der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm, im Gespräch mit der ZEIT ein. Durch die Corona-Pandemie hat sich ein Gelegenheitsfenster aufgetan, das es so vorher noch nicht gab. Und das gilt sowohl für politische Bemühungen um finanzielle Ressourcen für die technische Ausstattung von Schulen und Geräte für Schüler:innen als auch für Lehrerfortbildungen. Mit einer zunehmenden Rückkehr zu der uns bekannten Normalität bleibt die Erkenntnis, dass die Notwendigkeit zeitgemäßes Lernen in einer digital geprägten Welt zu ermöglichen, bedeutsam bleibt. Wird dabei ein zu starker Fokus auf die technische Ausstattung und die Bedienung der Geräte gelegt, werden die komplexen Prozesse verkannt, die mit einer gelingenden Medienintegration in die Unterrichtspraxis einhergehen.
»Die Reflexion über die Möglichkeiten und Sinnhaftigkeit digitalgestützten Lehren und Lernens ist immer auch ein Nachdenken über zeitgemäße Schule in unserer sich schnell verändernden Welt.«
Die Chance für Veränderungen ergreifen
Die Ausnahmesituation der vergangenen Monate hat eine Art Pionierstimmung ausgelöst. Innovationsprozesse im Kontext Schule zeichneten sich in der Vergangenheit häufig dadurch aus, dass sie von bürokratischen und behäbigen Strukturen ausgebremst wurden.
Durch die Schulschließungen war das Erproben und das Sammeln individueller Erfahrungen mithilfe digitalgestützter Lehr- und Lernformaten ausdrücklich erwünscht. Gleichwohl bleibt die Reichweite für eine nachhaltige Veränderung der Unterrichtspraxis begrenzt. Die Potenziale digitalgestützter Lerninnovationen und deren nachhaltige Implementierung können nur in langfristig angelegten Schulentwicklungsprozessen ausgeschöpft werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür stellt die Unterstützung des Prozesses durch die Schulleitung dar, die eine Rahmung z. B. in Form verschiedener Projekte, der Definition von Meilensteinen und der Schaffung geeigneter Organisationsstrukturen vornimmt. Diese Rahmung des Schulentwicklungsprozesses basiert auf einem strategischen Vorgehen, das idealerweise empirische Evidenz aktueller wissenschaftlicher Forschung berücksichtigt. Wissenschaftliche Forschungsergebnisse über gelingende Medienintegration in die Unterrichtspraxis bieten ein vertieftes Verständnis für Digitalisierungsprozesse in der Schule sowie eine empirisch fundierte Basis für eine Digitalisierungsstrategie.
In einem meta-analytischen Forschungsansatz, der auf 125 systematisch ermittelten internationalen Forschungsstudien der Jahre 2010 bis Mai 2019 basiert, konnten entscheidende Gelingensbedingungen für Medienintegration in die Unterrichtspraxis aus der Perspektive von Lehrkräften identifiziert werden.
Critical Review im Überblick
Dieser Beitrag basiert auf einem Critical Review aktueller Forschungsliteratur, das im Rahmen des BMBF-Metavorhabens „Digitalisierung in der Bildung“ als erster Band einer Reihe erscheinen wird. Die systematische Forschungssynthese verfolgt drei zentrale Ziele. Zum einen wird erstens die bildungswissenschaftliche Debatte über die Bedeutung der Digitalisierung für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen erfasst. Das ermöglicht zweitens Forschungslücken zu erkennen, um vertiefte Analysen daran anschließen zu können. Drittens bildet die Forschungssynthese eine Grundlage für bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen.
Die Recherche in den einschlägigen wissenschaftlichen und populären Datenbanken für den Suchzeitraum zwischen 2010 und Mai 2019 ergibt eine Trefferanzahl von 3380 Titeln. Ziel der Auswahl, der in das Critical Review eingehenden Titel, ist es, diejenigen zu identifizieren, die die aktuelle internationale und deutsche Forschungsdebatte möglichst vollständig erfassen.
Eine ausführliche Darstellung des Recherche- und Auswahlvorgehens der Studie findet sich in der in Kürze erscheinenden Publikation:
Waffner, Bettina (2020): Unterrichtspraktiken, Erfahrungen und Einstellungen von Lehrpersonen zu digitalen Medien in der Schule. In: Wilmers, A.; Anda, C.; Keller, C.; Rittberger, M. (Hg.) (forthcoming): Bildung im digitalen Wandel. Die Bedeutung für das pädagogische Personal und für die Aus- und Fortbildung. Münster: Waxmann.
Aspekte einer gelingenden Medienintegration in der Schule
Der Schlüssel für einen erfolgreichen Unterricht, in dessen Zentrum die Anregung und Begleitung von Lernprozessen bei Schüler:innen steht, liegt in der hohen Qualität pädagogischer Arbeit der Lehrkraft, was kein Spezifikum digitalgestützten Unterrichts ist. Jedoch können neue Technologien durchaus erforderlich machen, ein neues Rollenverständnis zu entwickeln und pädagogische Grundsätze und Haltungen zu überdenken (Makrakis, 2005).
Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass ein zentraler Erfolgsfaktor für Medienintegration in die Unterrichtspraxis Lehrerfort- und -weiterbildungen sowie Kompetenzentwicklung sind, die über das Bedienen von Technik hinausreichen. Wichtig ist in diesem Kontext, dass erstens fachliche und pädagogisch-didaktische Ideen in konkrete digitalgestützte Anwendungen für den Unterricht übersetzt werden, zweitens Lehrkräfte neue Konzepte nicht nur beschreiben, sondern in der Praxis anwenden, drittens kompetente Akteure in den Prozess eingebunden werden, die Unterrichtspraxis evaluieren und Feedback geben und viertens Unterstützungsmöglichkeiten angeboten sowie Raum zu kollaborativer Arbeit geschaffen werden (Voogt et al. 2011). Der letzte Punkt nimmt aus der Perspektive der Lehrkräfte eine zentrale Stellung erfolgreicher Medienintegration in die Unterrichtspraxis ein. Es werden Raum und Zeit für eigene Erfahrungen in der Entwicklung und dem Ausprobieren digitalgestützter Unterrichtsformate benötigt. Ein besonderer Erfolgsfaktor liegt in der kollaborativen Entwicklung konkreter Unterrichtseinheiten und dem reflektierenden, manchmal auch beratenden Austausch unter Kolleg:innen über Schwierigkeiten, Überraschendes und Erfolge zur Erreichung pädagogischer Ziele. Auch dieses kann idealerweise digitalgestützt erfolgen, um die Arbeit mit digitalen Medien aus unterschiedlichen Perspektiven des Lernens und Lehrens zu erfahren.
»Ein wichtiger Schlüssel ist es, dass die Digitalisierung in der Lehrkräfteausbildung einen zentralen Stellenwert einnimmt und didaktische Konzepte zum Einsatz digitaler Medien in der Unterrichtspraxis erprobt werden.«
Insbesondere in den neuesten Studien wird betont, dass eine technische Ausstattung, die flexibel und übergangslos analoge und digitale Materialien und Formate nutzen lässt, besonders dann wichtig sei, wenn Lehrkräfte gerade erst beginnen, sich mit der neuen Technik vertraut zu machen. Eine gute Infrastruktur, also anwenderfreundliche, miteinander kompatible Geräte und ein leistungsstarkes WLAN-Netz, steigern die Motivation und den Spaß, sich mit der Technik vertraut zu machen. Das schließt einen administrativen und technischen Support ein, der nicht zwingend durch eine externe qualifizierte Fachkraft, sondern auch durch die Expertise einer medienaffinen Lehrkraft erfolgen kann, die über ein ausreichendes Zeitkontingent verfügt. Wichtig ist, dass die Unterstützung kontinuierlich begleitend erfolgt. Tatsächlich hat auch eine 1:1 Ausstattung der Schüler:innen einen signifikant positiven Einfluss auf die Nutzungshäufigkeit und die Kompetenzen von Lehrkräften.
Neugierde auf die Möglichkeiten des Digitalen
Insgesamt befördert eine gute technische Infrastruktur auch eine positive Einstellung zu digitalen Medien, was einen bedeutsamen Faktor für den Erfolg des Einsatzes über alle untersuchten Länder hinweg darstellt. Allerdings kann die Medienintegration nur in Kombination mit anderen Gelingensbedingungen wirksam sein, denn allein die Verfügbarkeit von Technik und Kenntnisse über deren Anwendung können Skeptiker nicht überzeugen. Im Mittelpunkt steht das Erreichen des Unterrichtsziels. Hier muss überzeugend sein, dass der Einsatz digitaler Medien zielführend ist, was deutlich macht, dass es nicht darum geht, analogen Unterricht zu digitalisieren, sondern darum, Unterrichtsziele und didaktische Methoden vor dem Hintergrund einer zunehmend digital geprägten Welt auf den Prüfstand zu stellen.
Lehrkräfte sind darin ausgebildet, fachliches Wissen mit pädagogisch-didaktischen Kenntnissen zu verknüpfen. Nun kommt eine weitere Komponente hinzu. Es bedarf Kenntnisse über den Umgang mit Technik, die sich mit den beiden anderen Komponenten überschneiden (Mishra & Köhler, 2006). Einige Studien beziehen sich auf diesen Aspekt, wobei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Es kann als wichtige Voraussetzung für das Gelingen festgehalten werden, dass technologisches Wissen notwendig ist, das zu pädagogisch-didaktischem Wissen und Fachwissen in Beziehung gesetzt wird. Neben dem Wollen und dem Können kommt noch ein normativer Aspekt in Form spezifischer pädagogischer Werte für eine erfolgreiche Medienintegration hinzu (Zierer, 2015). Eine konstruktivistische pädagogische Grundhaltung, die lernendenzentriert auf der Förderung selbstgesteuerten Lernens und einem Unterricht basiert, der Problemlösungsorientierung und Kreativität in den Mittelpunkt stellt, scheint einen Einfluss auf das Ausprobieren digitalgestützter Lerninnovationen zu haben. Je häufiger digitale Medien ausprobiert und in den unterschiedlichsten Szenarien eingesetzt werden, desto ausgeprägter ist das Selbstwirksamkeitsempfinden und der souveräne Umgang damit, was als weitere Erfolgsbedingung identifiziert wird.
»Wenn Medienintegration in diesem Prozess als Schulentwicklung verstanden wird, dann kann sie zu einem Katalysator für Veränderungsprozesse für eine zeitgemäße Bildung werden.«
Es lässt sich darüber hinaus ein erkennbarer Zusammenhang auf der Schulebene zwischen einer erfolgreichen Medienintegration in die Unterrichtspraxis und eines effektiv genutzten Handlungsspielraums auf der Ebene der einzelnen Schule feststellen. Insbesondere dann, wenn Kollegium und Schulleitung ein gemeinsames pädagogisches Medienkonzept entwickelt haben, die eine klare Vision zur Gestaltung zeitgemäßer Schule aufzeigt, in der digitale Medien selbstverständlich integriert sind.
Zu guter Letzt stellt sich wieder die Frage: Wozu ist Schule da? Hier braucht es eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, um Antworten zu finden. Wenn Medienintegration in diesem Prozess als Schulentwicklung verstanden wird, dann kann sie zu einem Katalysator für Veränderungsprozesse für eine zeitgemäße Bildung werden. Eine Schule, in der Schüler:innen darin begleitet werden, sich souverän in einer zunehmend heterogenen, dynamisch und digital geprägten Welt zu bewegen.
Literatur
Eine vollständige Bibliografie findet sich hier.
- Kerres, M. (2020). Jahrbuch Medienpädagogik 17: Lernen mit und über Medien in einer digitalen Welt. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 17 (Jahrbuch Medienpädagogik), 1–32.
- Kerres, M. & Waffner, B. (2019). Digital School Networks: Technology Integration as a Joint Research and Development Effort. In R. M. Reardon & J. Leonard (Hg.), Current perspectives on school/university/community research. Integrating Digital Technology in Education: School-university-community collaboration (S. 227–241). Information Age Publishing, Inc.
- Makrakis, V. (2005). Training teachers for new roles in the new era: Experiences from the United Arab Emirates ICT program.
- Mishra, P. & Koehler, M. J. (2006). Technological Pedagogical Content Knowledge: A Framework for Teacher Knowledge. Teachers College Record, 108 (6), 1017–1054.
- Rolff, H.-G. (2016). Schulentwicklung kompakt: Modelle, Instrumente, Perspektiven (3. Aufl.). Pädagogik. Beltz.
- Sipilä, K. (2014). Educational Use of Information and Communications Technology: Teachers’ Perspective. Technology, Pedagogy and Education, 23 (2), 225-241.
- Zierer, K. (2015). Pädagogische Mythen. Vermeintliche und tatsächliche Erkenntnisse der empirischen Forschung. Schulmagazin 5 – 10, 83 (12), 7–10.