Interview
Frank Brückel: „Unser Ziel muss sein, dass Kinder sich wohlfühlen“
von
mit Prof. Dr. Frank Brückel
veröffentlicht am 08.06.2023
Lesezeit: 7 Minuten
Was macht eine gute Ganztagsschule aus? Und welche Rolle spielt der Einsatz neuer, digital gestützter Lehr-Lern-Methoden? Ein Gespräch mit Frank Brückel, Leiter der Arbeitsgruppe Tagesschule an der Pädagogischen Hochschule Zürich anlässlich der Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, individuelle Förderung, mehr Partizipation, Bildungsgerechtigkeit, bessere Sprachkompetenzen, positives Sozialverhalten, bessere Alltagsfertigkeiten – das sind nur einige der Ansprüche, die gerade von allen Seiten an Ganztagsbildung herangetragen werden. Der Erziehungswissenschaftler Frank Brückel kombiniert diese Liste in seinen Vorträgen ganz gerne mit dem Bild der eierlegenden Wollmilchsau, um zu verdeutlichen, unter welchem Druck Schulen gerade stehen. Dies alles gleichzeitig umzusetzen, sei kaum möglich, sagt er.
Dabei kommt man heute um den Ganztag als Bildungskonzept seiner Meinung nach nicht mehr vorbei. In Zürich, wo Brückel an der Pädagogischen Hochschule lehrt, wurden in einer Volksabstimmung mit überwältigenden 80,8 Prozent aller Stimmen für die Einführung von Ganztagsschulen votiert. Bis 2031 sollen 99 Schulen auf den Ganztagsbetrieb umgestellt werden. Damit das gelingt, haben er und sein Team einen Qualitätsrahmen entwickelt. Er soll Schulen Orientierung bieten, wie das Ganztagskonzept gelingend umgesetzt werden kann. Adressiert wird dabei die von den Schulen gestaltbaren Strukturen (Strukturqualität) als auch Merkmale der Prozessqualität, also der Art und Weise, wie man untereinander in den Austausch tritt, wie man Informationen gewinnt, sich eine Meinung bildet oder Entscheidungen trifft.

Zur Person
Prof. Dr. Frank Brückel ist Leiter der Arbeitsgruppe Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Neben dem Schwerpunkt Tagesschule beschäftigt er sich mit Fragen zur nationalen und internationalen Schulentwicklung sowie mit alternativen Schulmodellen. Sein besonderes Interesse liegt in der Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Bildungsbehörde und Schulen. Er arbeitet eng mit der Stadt Zürich und den Schulen bei der Umstellung aller 99 städtischen Schulen zu Tagesschulen zusammen.
Herr Brückel, Sie publizierten 2017 einen Qualitätsrahmen, der Schulen in der Schweiz dabei unterstützen soll, auf den Ganztagsbetrieb umzustellen. Was macht eine gute Ganztagsschule aus?
Eine gute Ganztagsschule zeichnet sich durch bestimmte Merkmale in fünf Strukturqualitäten aus, wie wir das nennen. Das ist die Zusammenarbeit der Schulleitung und Betreuung auf der Leitungsebene, die multiprofessionelle Kooperation im Team, ein hoher Grad an Partizipation nach innen und außen, die Rhythmisierung der Abläufe und eine flexible Ausstattung. Allerdings nützen die besten Strukturen nichts, wenn der Umgang der Menschen nicht von Kooperation, Wertschätzung und Vertrauen geprägt ist. Ob das am Ende gelingt, hängt vor allem von den Kindern und Jugendlichen ab. Unserer Meinung hat man es dann geschafft, wenn diese sich wohlfühlen und die Schule als einen sicheren Ort wahrnehmen, an dem sich ihren Interessen und Neigungen nachkommen und mit ihren Freund:innen eine gute Zeit verbringen können.
Als eine der großen Stärken des Ganztagskonzepts wird vor allem die Möglichkeit der stärkeren individuellen Betreuung von Schüler:innen angesehen. Genau dasselbe verspricht man sich vom Einsatz digitaler Lernmethoden. Inwiefern können sich Ganztag und digitales Lernen ergänzen?
Digitalität ist schon längst Teil unseres Alltags, auch in Ganztagsschulen. Eine entsprechend wichtige Rolle spielt auch digitales Lernen in diesem Kontext. Zum Beispiel in Form von projektbezogenem Arbeiten mit digitalen Medien verschiedenster Art oder als Unterstützung bei der Arbeit in heterogenen Gruppen. Die Unterstützung (die dann auch zu Lernerfolg führen kann) kann aber auch die Organisation der Schule betreffen, zum Beispiel die Zusammenarbeit oder den Kontakt zu Bezugspersonen oder Eltern enorm erleichtern. Das alles hat im besten Falle einen positiven Einfluss auf das Lernen.
»Allerdings nützen die besten Strukturen nichts, wenn der Umgang der Menschen nicht von Kooperation, Wertschätzung und Vertrauen geprägt ist.«
Aber es geht ja nicht nur um den Einsatz digitaler Hilfsmittel in der Schuladministration, sondern letztlich vor allem um eine zeitgemäße Pädagogik, richtig?
Ja, natürlich. Jede Schule sollte sich daher zunächst die Frage stellen: Was sollen die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen an der Ganztagsschule lernen? Die Antwort dieser Frage ist im Idealfall auf die Schüler:innen und deren Bedürfnisse angepasst. Sobald diese Frage beantwortet ist, kann sich die Schule dann die Frage stellen, wie digitale Hilfsmittel diese Zielerreichung unterstützen. Hier sind vielfältige Antworten denkbar: eine einfachere Organisation, zielführende Kommunikation, aber auch neue Lernsettings. Mit anderen Worten: Im Kern steht das Bemühen um Qualität rund um das Lernen der Schüler:innen. Darauf ausgerichtet sollte der Einsatz von digitalen Hilfsmitteln gezielt erfolgen. Wichtig ist mir an dieser Stelle zu betonen, dass wir mit einem sehr weiten Lernbegriff arbeiten, der sich auf die Definition von Qualität bezieht und wir nicht nur den kognitiven Lernerfolg im Blick haben.
»Eine wesentliche Aufgabenstellung beim Aufbau von Ganztagsschulen sind Fragen zur Partizipation.«
Können die Stärken des digitalen Lernens vielleicht sogar erst in einem Ganztagssetting voll zur Geltung kommen? Als Grundvoraussetzung für einen neuen, interdisziplinären, multiperspektivischen Begriff von Bildung, welcher durch digitale Hilfsmittel zwar verstärkt, aber aus sich allein heraus gar nicht generiert werden kann?
Digitalität und digitales Lernen sind aus meiner Sicht heute Alltag. Daher ist digitales Lernen auch ein wichtiger und nicht wegzudenkender Teil einer Ganztagsschule. Wir müssen uns im Klaren sein: Bereits heute würde die Organisation einer Ganztagsschule ohne digitale Unterstützung gar nicht mehr funktionieren.
Sie argumentieren sehr stark aus der Sicht der Schüler:innen. Wie kann es gelingen, diese und idealerweise auch deren Eltern in den Entwicklungsprozess hin zum Ganztag einzubinden?
In Zürich ist die Einbindung von Eltern und Schüler:innen ein Muss. Eine wesentliche Aufgabenstellung beim Aufbau von Ganztagsschulen sind Fragen zur Partizipation. Leitfragen, die die Schulen dabei zu beantworten haben, lauten zum Beispiel: Wie ist die Schüler:innen-Partizipation organisiert? Welche Formate gibt es hier? Wie werden die Schüler:innen bei der Planung und Umsetzung der Angebote einbezogen? Welche Kompetenzen sollen die Schüler:innen im partizipativen Umgang erwerben oder weiterentwickeln? Und auch zur Einbindung von Eltern gibt es Fragen, wie zum Beispiel: Wie können die Eltern Einblick erhalten, woran ihre Kinder arbeiten und wo sie stehen? Wir haben mit diesen Fragen sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Schulen sind mehrheitlich interessiert an der Partizipation und nehmen diese ernst.
Wie stehen Schüler:innen zum Ganztag? Immerhin bedeutet er weniger Freizeit.
Wir wissen aus Evaluationen, dass sich Schüler:innen an Ganztagsschulen wohlfühlen. Dass der Mehrwert, wie etwa die Beziehung zu anderen Kindern, zum Schulpersonal, zum Spaß, den man hat, negative Aspekte wie etwa verstärkte Ermüdung oder weniger Zeit mit der Familie und der Nachbarschaft überwiegt. Entscheidend dabei ist, dass man explizit zwischen verpflichtenden und freiwilligen Angeboten und Freizeit unterscheidet.
Warum?
Aus unseren Schüler:innenbefragungen wissen wir: Besonders die Jüngeren haben oft ein ganz anderes Verständnis von Freizeit als die Erwachsenen. Das ist auch der Grund, warum wir den Schulen einen Selbsteinschätzungsbogen für ihre eigene Qualitätsfeststellung anbieten und dort explizit das Thema Freizeit abfragen: Haben die Kinder Zeit zur freien Gestaltung? Haben die Kinder Möglichkeiten, sich ohne Aufsicht von Erwachsenen zu bewegen? Haben die Kinder Möglichkeiten, in altersgemischten Gruppen frei zu spielen? Stehen den Kindern unterschiedliche Materialien zur Verfügung, die frei genutzt werden können? Stehen Räume für Kinder zur Verfügung, um sich ungestört zurückziehen zu können? Stehen Räume für Kinder zur Verfügung, die Ruhe brauchen? Nach allem, was uns die Schulen hier zurückmelden, sind diese extrem dankbar für diese Möglichkeit der Einschätzung.
Hier in Deutschland wird das Thema Ganztagsschulen stark im Kontext des Themas Bildungsgerechtigkeit diskutiert. Wer es mit der Bildungsgerechtigkeit ernst meint, so heißt es, muss in die Ganztagsschule investieren. Zurecht?
Ja, dem stimme ich zu. Allerdings sind Ganztagsschulen allein noch nicht genug. Wichtig ist, in eine hohe Qualität zu investieren. Und daneben sind gebundene Ganztagsschulen sinnvoller im Hinblick auf die Etablierung von Bildungsgerechtigkeit als ungebundene.
Wie beeinflusst die Ganztagsbetreuung das Lernen und die Entwicklung der Schüler:innen?
Die Ganztagsschule alleine ist noch kein Indikator für gute Bildung oder gesunde Entwicklung. Entscheidend ist die Qualität der Umsetzung. Zudem stellt sich aus meiner Sicht die Frage der Alternative zu Ganztagsschulen in einer Gesellschaft, in der es längst zum Regelfall geworden ist, dass beide Elternteile oder Erziehungsberechtigte oder der alleinige Elternteil arbeiten.