Interview
Julia Gerick: „In vielen Studien wird das Thema Bildungsgerechtigkeit nicht berücksichtigt“
von
mit Prof. Dr. Julia Gerick
veröffentlicht am 28.08.2024
Lesezeit: 5 Minuten
Wie steht es um den Digital Divide in Deutschland? Der Navigator BD beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Aspekten der Bildungsgerechtigkeit. Die wissenschaftliche Ko-Leitung Julia Gerick teilt die wichtigsten Erkenntnisse zu aktuellen Studienergebnissen und erklärt, wie Bildungsgerechtigkeit in Zukunft besser mitgedacht werden kann.
Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) wirft erstmals einen thematisch systematisierten Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland. Er identifiziert ausgehend von drei strategischen Handlungsfeldern – Haltung zur Kultur der Digitalität, Digital-förderliche Rahmenbedingungen und Digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung – 21 relevante Themenfelder, die als übergreifende Indikatoren dienen können, um den Stand der digitalen Transformation systemisch zu erfassen. Mit seinen konzeptionellen Ausarbeitungen und der Zusammenführung vorliegender Studienergebnisse entwirft der Navigator BD ein umfassendes Verständnis digitaler Transformation und skizziert entlang dieser Struktur aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungslücken. Daraus ergeben sich Orientierungsimpulse für zukünftige Entwicklungen und für ein systematisches Bildungsmonitoring der digitalen Transformation.
Der Navigator BD wurde auf Initiative des Forum Bildung Digitalisierung im Zeitraum Juni 2023 bis März 2024 von einem Wissenschaftler:innen-Team unter der Leitung von Prof. Dr. Birgit Eickelmann (Universität Paderborn) und der Ko-Leitung von Prof. Dr. Julia Gerick (Technische Universität Braunschweig) gemeinsam mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) erarbeitet.
Zur Person
Prof. Dr. Julia Gerick ist Professorin für Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Braunschweig. Sie ist unter anderem Teilprojektleiterin in den Projektverbünden „DigiSchuKuMPK“ und „LeadCom“ im Rahmen des Kompetenzverbunds lernen:digital (Kompetenzzentrum Schulentwicklung). Zudem ist sie Mitglied des nationalen Konsortiums der International Computer and Information Literacy Study (ICILS 2023).
Wie ist die aktuelle Studienlage zur Bildungsgerechtigkeit in der Kultur der Digitalität in Deutschland? Zu welchen Fragestellungen wissen wir viel, zu welchen wenig?
Der Navigator BD bringt viele Einzelergebnisse zu dieser Frage zusammen. Interessant war, dass nur ein Teil der Studien das Thema Bildungsgerechtigkeit adressiert, obwohl bei vielen Studien das Thema abbildbar gewesen wäre – mit nur wenig Mehraufwand. Viele Möglichkeiten zur Erforschung und Begegnung des Digital Divide bleiben also ungenutzt. Die vorliegenden datenbasierten Ergebnisse zeigen jedenfalls großen Handlungsbedarf für Deutschland: Wir haben immer noch große Ungleichheiten in der Ausstattung und im Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten von Schüler:innen, wie wir unter anderem aus PISA 2022, JIM 2023 oder dem Deutschen Schulbarometer 2022 und 2023 wissen. Zudem wissen wir aus den ICIL-Studien von den hohen sozial bedingten Disparitäten in den digitalen Kompetenzen von Jugendlichen. Es gibt aber auch einige vorsichtig positive Befunde. So wies beispielsweise die 2023er-Studie „Schulen im Brennpunkt“ der Wübben Stiftung Bildung eine hohe Bereitschaft der Schulleitungen von Schulen in benachteiligten Lagen nach, Lehrkräfte bei digitalisierungsbezogenen Entwicklungen zu unterstützen. Zudem zeigt die BMBF-geförderte Studie ICILS-UneS, dass die digitale Spaltung auf Einzelschulebene durch das Engagement aller schulischen Akteur:innen sowie durch Kooperationen, insbesondere mit den Schulträgern, überwunden werden kann.
Welche Rolle spielte das Thema Bildungsgerechtigkeit bei der Erstellung des Navigator BD?
Das Thema Bildungsgerechtigkeit nimmt für den Navigator BD eine Doppelrolle ein. Zum einen hatten wir es uns zur Aufgabe gemacht, bei allen betrachteten 21 Themenfeldern immer auch die Studienlage dahingehend zu analysieren, ob es relevante Teilergebnisse zum Fokus Bildungsgerechtigkeit gibt. So haben wir etwa im Themenfeld Infrastruktur nach Hinweisen auf Unterschiede in der Ausstattung von Schüler:innen und Schulen in benachteiligten Lagen gesucht. Zum anderen haben wir im Handlungsfeld „Haltung zur Kultur der Digitalität“ Partizipation und Teilhabe aber auch als eigenes Themenfeld aufgenommen.
Wie kann Bildungsgerechtigkeit in Zukunft in der Forschung stärker mitgedacht werden? Können Sie hier ein konkretes Beispiel nennen?
Im Prinzip wäre das zunächst einmal ein Learning aus dem Navigator BD: Bildungsgerechtigkeit in Zukunft in der Forschung, in Studien, Maßnahmen und Vorhaben grundsätzlich mitzudenken. Im Moment diskutieren wir beispielsweise das Thema KI und seine Relevanz für schulische Bildung. Bei allen Überlegungen und Analysen könnte direkt miteingeschlossen werden, wie wir alle Schüler:innen erreichen und welche Mechanismen wirken und wirken sollten, damit das Aufnehmen des Themas nicht zu neuen Bildungsungleichheiten führt oder bereits bestehende vertieft.
»Es fehlt ein Gesamtkonzept für Deutschland, wie man dem Digital Divide in der digitalen Transformation begegnet. Theoretische Grundlagen und empirische Erkenntnisse wären vorhanden und könnten auch auf neue Entwicklungs- und Forschungskontexte erweitert werden.«
Welche Forschungseinblicke zur Bildungsgerechtigkeit liefert der Navigator BD unter dem Aspekt der Partizipation und Teilhabe?
Für das Themenfeld Partizipation und Teilhabe haben wir bei der Sichtung der Studienlage für den aktuellen Diskurs festgestellt, dass dieses im Kern drei Unterthemen umfasst, die alle eng mit Bildungsgerechtigkeit verknüpft sind. Neben dem Digital Divide und der Frage nach gesellschaftlicher Teilhabe ist hier als zweite Entwicklungslinie die Betrachtung und Erforschung von schulischen und demokratischen Partizipationsprozessen zu nennen. Drittens finden im Themenfeld Partizipation und Teilhabe die zunehmende Etablierung der partizipativen Entwicklung und Erforschung von schulischen Prozessen Beachtung. Zu all diesen drei Unterthemen konnten wir aktuelle Forschungen und Entwicklungen zusammentragen. Hierbei wurde unter anderem deutlich, dass in diesem Themenfeld – wie auch in vielen anderen – aktuell gerade sehr viel Dynamik drinsteckt und zu erwarten ist, dass hier in naher Zukunft weitere spannende und wichtige Erkenntnisse kommen werden.
Welche zentrale Erkenntnis aus dem Navigator BD wollen Sie mit Blick auf die Bildungsgerechtigkeit besonders hervorheben?
Erstens ist es zentral, das Thema nicht als altbekannt und unveränderbar abzutun. Wir haben uns in Deutschland fast schon daran gewöhnt, dass soziale Lage ausschlaggebend für Bildungserfolg ist. Dass das nicht so sein muss, zeigen uns weltweit andere Bildungssysteme. Zweitens zeigt sich mit dem Navigator BD, dass es wichtig ist, den Beitrag von transformationsrelevanten Themen wie Vernetzung, Rollenverständnis und Wirksamkeit zur Überwindung oder zumindest Minimierung von Bildungsungerechtigkeit anzuerkennen und zu nutzen. Dazu gehören ein Zusammenwirken des Systems Schule und der feste Wille aller schulischen Akteur:innen, das Thema nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern aktiv handelnd anzugehen. Bisher fehlt jedoch noch ein Gesamtkonzept für Deutschland, wie man dem Digital Divide in der digitalen Transformation begegnet. Theoretische Grundlagen und empirische Erkenntnisse wären vorhanden und könnten auch auf neue Entwicklungs- und Forschungskontexte erweitert werden, etwa durch Demokratiebildung und Teilhabe in einer Kultur der Digitalität.