Impuls
Kompass im digitalen Wandel: Wie der Navigator BD in der Praxis wirkt
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veröffentlicht am 04.06.2025
Lesezeit: 11 Minuten
Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) verspricht Orientierungsimpulse für alle Akteur:innen im Schulsystem – von den Schulen über die Schulträger bis zu Bildungsinitiativen. Wie groß ist das Transferpotenzial des Navigator BD für die Schulpraxis und -verwaltung? Wo wird aktuell schon mit ihm gearbeitet? Eine Deutschlandreise in drei Stationen.
Digitale Schulentwicklung ist längst mehr als die Einführung neuer Technik. Sie betrifft Strukturen, Rollenverständnisse und pädagogische Haltungen – auf allen Ebenen des Schulsystems. Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) gibt dabei Orientierung: als wissenschaftlich fundierter Rahmen für schulische Transformationsprozesse in der Kultur der Digitalität.
Doch wie wirksam ist dieser Kompass in der Praxis? Und wie gelingt der Transfer in ganz unterschiedliche Kontexte – von Schulen über Bildungsinitiativen bis hin zu kommunalen Verwaltungen? Drei Stationen zeigen, wie der Navigator BD bereits heute genutzt wird – zur Standortbestimmung, zur Qualitätssicherung und als Impulsgeber für strategische Weiterentwicklung.
1. Station: Schulverwaltungsamt Stuttgart
Wenn morgens um acht die ersten Supporttickets aus den Schulen eintreffen, ist im IT Competence Center Schulen im Schulverwaltungsamt Stuttgart schon Betrieb. Dennis Richter und sein Team sind das digitale Rückgrat von rund 160 Schulen in Stuttgart – zuständig für alles von der Glasfaserleitung bis zu den Medienentwicklungsplänen. Ihr Motto: Technik folgt Pädagogik. Das heißt: Digitale Lösungen orientieren sich an pädagogischen Zielen – nicht umgekehrt.
Dennis Richter leitet das IT Competence Center Schulen. Seine Mitarbeiter:innen begleiten die Medienentwicklungsplanung, unterstützen bei der IT-Beschaffung, wickeln Supportanfragen ab und vermitteln digitale Fortbildungsmaßnahmen. In den letzten Jahren durchlief sein Bereich eine große Transformation: „Im Rahmen des Digitalpakts sind wir vom Sachgebiet zur Abteilung gewachsen – von zwölf auf 56 Personen.“ Das Change Management einer derart wachsenden Organisation sei herausfordernd, berichtet Richter. „Alle neuen Mitarbeiter:innen müssen in ihrer Profession funktionieren, das System Schule verstehen und die Bedarfe der Schulen kennen.“ Dabei sei es wichtig, so Richter, Gemeinschaftlichkeit herzustellen und ineinandergreifende Prozesse aufzubauen.
Besonders herausfordernd sei die Kommunikation mit den unterschiedlichen Zielgruppen des Schulsystems. „Wie kommunizieren wir mit Lehrkräften, Schulleitungen, Schulsekretär:innen, Hausmeister:innen oder internen Fachabteilungen? Wie schaffen wir es, dass sich alle abgeholt fühlen und informiert sind?“
Antworten fand Dennis Richter im Navigator BD. Im April 2024 lernte er die Publikation bei einer Präsentation im Rahmen der Konferenz Bildung Digitalisierung kennen. „Ich saß drin und dachte: Das ist genau das, was wir brauchen!“ Der Navigator BD schaffe Orientierung für alle Beteiligten im Schulsystem und entwickle ein Rollenverständnis für alle Ebenen. „Auch als Schulträger haben wir ein eigenes Rollenverständnis“, so Richter. „Anhand des Navigators können wir analysieren, was noch zu tun ist, um in bestimmten Bereichen voranzukommen.“
Dennis Richter war so begeistert von der Überblicksstudie, dass er entschied, vertiefend damit weiterzuarbeiten und seine eigene Abteilung anhand des Navigator BD zu analysieren. Seit Dezember 2022 studiert er im Fernstudium „Bildung, Medien und Digitalisierung“ an der Hochschule Fresenius. In seiner Masterarbeit thematisiert er nun die Veränderungsprozesse in seiner Abteilung. „Das Change-Management habe ich mit dem Modell des Navigator BD und weiterer Change-Management-Modelle betrachtet.“
»Anhand des Navigators können wir analysieren, was noch zu tun ist, um in bestimmten Bereichen voranzukommen.«
Im Rahmen einer quantitativen Erhebung befragte er per Online-Fragebogen Ansprechpersonen aus Schulen, Schulaufsicht und Schulverwaltungsamt zur Transformation des Bildungssystems in Stuttgart. 304 Personen nahmen teil: 84 Lehrkräfte, 79 Schulleitungen und 21 Mitarbeiter:innen des Schulverwaltungsamts. „Gefreut hat mich, dass die Veränderung unserer Abteilung positiv wahrgenommen wird – vom Verwaltungsapparat zum IT-Service-Dienstleister“, sagt Dennis Richter. „Erschrocken hat mich, dass wir kommunikativ noch viel Luft nach oben haben.“
Blinde Flecken in der Kommunikation sieht Richter vor allem bei den beiden Schulaufsichtsbehörden – dabei sei ihr Engagement zentral. „Viele Indikatoren lassen sich nur bedienen, wenn die Schulaufsicht beteiligt ist.“ Auch die kommunikative Fokussierung auf Schulleitungen sei auffällig: „Sie sind deutlich besser über die digitale Transformation informiert als einzelne Lehrkräfte – und bewerten den Stand der schulischen Transformation entsprechend besser.“
Der Navigator BD habe ihm bei der Arbeit an seiner Studie entscheidend geholfen. „Der Navigator basiert auf zahlreichen Studien und zeigt in einfacher Form, wo die schulische Transformation in Deutschland steht.“ Die Darstellung lasse sich nicht nur für Schulen, sondern auch für Schulträger nutzen.
Die Masterarbeit von Dennis Richter soll nicht in der Schublade verschwinden. Er möchte nun mit seinen Leitungen besprechen, welche Praxisimpulse sich aus den Ergebnissen ableiten lassen. Wo sollte sich das Schulverwaltungsamt stärker engagieren, wo weniger? „In Stuttgart haben wir uns bereits auf den Weg gemacht“, so Richter, „und die Masterarbeit bestätigt in weiten Teilen, dass es der richtige ist.“
2. Station: Landesinstitut für Schule Bremen
Wenn Bildungsinitiativen in kurzer Zeit stark wachsen, ist die größte Herausforderung nicht Innovation – sondern das Halten von Qualität. Michaela Rastede kennt dieses Spannungsfeld genau. Die Leiterin der Vernetzungsstelle Begabungsförderung Bremen hat die Bildungsinitiative Digitale Drehtür am Landesinstitut für Schule in Bremen gegründet. Die Plattform, die inmitten der Corona-Pandemie in Bremen entstanden ist, wird inzwischen von mehr als 1.800 Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz genutzt.
Ursprünglich stammt Josef Renzullis Konzept der „pädagogischen Drehtür“ aus der Begabungsförderung: Das Modell ermöglicht es Schüler:innen ihre Klassen für einzelne Stunden zu verlassen, eigene Interessen zu vertiefen und Kompetenzen aufzubauen. Rastede hat die Drehtür-Idee gemeinsam mit Kolleg:innen aus anderen Ländern digital weiterentwickelt – inmitten der Corona-Jahre, als neue Lernformate plötzlich dringend gebraucht wurden.
Auf einem unterrichtsunterstützenden Online-Campus steht den Schüler:innen ein vielseitiges Lernangebot zur Verfügung – in Form von mehr als 3.000 erbrachten Live-Kursen, 330 Selbstlernprogrammen und Projekträumen. In Ergänzung zum Regelunterricht können diese Lernangebote flexibel und individuell genutzt werden. Nach den individuellen Lernphasen, die von den jeweiligen Interessen und Talenten geprägt sind, kehren die Schüler:innen durch die Drehtür in den Regelunterricht zurück. Grundlage ist das japanische Ikigai-Konzept, das Lernen als sinnstiftenden Prozess versteht – im Spannungsfeld von dem, was ein Mensch liebt, gut kann, was gebraucht wird und womit er wirksam sein kann. „Wir fragen uns: Wer steht vor mir – und wie kann ich genau dieser Person ein individualisiertes Lernangebot machen?“
2.500 Schulen nutzen die Drehtür mittlerweile – und es werden von Monat zu Monat mehr. „Wenn ein System so schnell wächst, ist die Gefahr groß, dass die Qualität des Angebots schwächelt“, so Rastede. Ein wachsendes System brauche daher Orientierung, einen Kompass, der den Weg aufzeigt, wenn man ihn aufgrund der vielen Abzweigungen aus den Augen verliert. „Und dafür nutzen wir den Navigator Bildung Digitalisierung!“
Der Navigator BD helfe ihrem Team nicht nur bei der Weiterentwicklung digitaler Lernformate, sondern auch dabei, Schwachstellen frühzeitig zu erkennen und wissenschaftlich fundiert weiterzuentwickeln. Die Themenfelder des Navigator BD, die die Bereiche Haltung zur Kultur der Digitalität, digital-förderliche Rahmenbedingungen und digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung abdecken, würden sich mit dem Kernbereich ihrer Arbeit decken, erzählt Rastede. „Der Navigator bietet Anregungen für Gelingensbedingungen von digitalen Lernformaten. Wir können unsere eigenen Modelle des digitalen und hybriden Lernens daran messen“, so Rastede. „Außerdem können wir mithilfe des Navigators wissenschaftlich fundierte Empfehlungen dazu abgeben, wie die Digitale Drehtür in den Unterricht eingebunden werden kann.“
Kooperationen mit der Wissenschaft waren Rastede und ihrem Team schon immer wichtig. In einem Netzwerk aus rund zwanzig Hochschulen und Universitäten – von Bremen bis nach Heidelberg – entwickeln qualifizierte Wissenschaftler:innen neue Perspektiven für die Digitale Drehtür. „Das ist ein Riesengewinn für unsere Bildungsinitiative.“ Umgekehrt nutzen Universitäten und Hochschulen die Digitale Drehtür zunehmend als Labor für eine zukunftsorientierte Unterrichtsentwicklung. An verschiedenen Hochschulen werden etwa Seminare für Lehramtsstudierende durchgeführt, die die Digitale Drehtür als Inhalt haben.
Der Blick in den Navigator BD legt für Michaela Rastede aber auch Leerstellen offen. Durch den transformationsorientierten Blick gelinge es, frühzeitig auf neue Themen und Trends aufmerksam zu werden. „Uns fehlt zum Beispiel noch die Integration von Künstlicher Intelligenz in unsere Angebote“, sagt Rastede. Auch die technischen Voraussetzungen an vielen Schulen seien ein Hemmschuh: „Nicht überall sind ausreichend Geräte vorhanden oder die Infrastruktur so ausgebaut, dass mit der Digitalen Drehtür sinnvoll gearbeitet werden kann.“ Der Navigator BD helfe dabei, genau solche Schwachstellen systematisch zu erkennen – und gezielt weiterzuentwickeln. Gerade in Bezug auf den Zugang zur Plattform wurde die Relevanz niedrigschwelliger Lösungen deutlich. „Wir wollen keine digitalen Hürden aufbauen – sondern möglichst vielen den Zugang zu personalisiertem Lernen ermöglichen.“
Ein weiterer Impuls des Navigator BD: Die Qualifizierung von Lehrkräften muss viel stärker in den Fokus rücken – nicht nur in Fortbildungen, sondern bereits in der ersten und zweiten Phase der Lehramtsausbildung. Auch die Digitale Drehtür selbst biete gut besuchte Fortbildungen und Netzwerktreffen zur Integration ihrer Lernangebote in den Regelunterricht. „Wir müssen digitale Formate konsequent in Studium und Referendariat integrieren“, betont Rastede. Nur so könne sich eine Kultur der Digitalität nachhaltig im Bildungssystem verankern. Der Navigator BD könne hier Brücken schlagen – zwischen Praxis und Wissenschaft, zwischen Ausbildung und Beruf.
3. Station: Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule Karlsruhe
Bereits 2017 – lange bevor der Navigator BD erschien – stellte sich die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe die Frage: Was braucht eine Schule, um zukunftsfähig zu sein? Gemeinsam mit Schüler:innen, Eltern und Partner:innen aus dem Bildungsbereich entwickelte das Kollegium unter der Leitung von Schulleiter Micha Pallesche ein Zielbild für die Schule 2030. Die Vision: Schulentwicklung als gemeinschaftlicher, offener Prozess – und als Antwort auf eine sich dynamisch verändernde Welt.
„Wir haben früh erkannt, dass Schulentwicklung unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität keine exklusive Aufgabe der Schulleitung oder des Kollegiums sein darf“, sagt Pallesche heute. In Formaten wie dem Roten Salon oder in moderierten Fishbowl-Diskussionen erarbeitete die Schulgemeinschaft erste Ansätze für eine partizipative Schulentwicklung – ein Prozess, der inzwischen institutionalisiert wurde. „Man kann Schulentwicklung nicht mehr auf zehn Jahre planen. Die Welt rund um Schule verändert sich viel zu schnell.“
Als später der Navigator BD erschien, empfand ihn Pallesche als eine lang ersehnte Ergänzung: „Uns hat eine solche Publikation leider immer gefehlt, zum Glück gibt es sie heute. Zum ersten Mal wird mit dem Navigator BD anhand von Themenfeldern griffig, was eine zukunftsorientierte Schule braucht.“ Besonders hilfreich sei der strukturierende Rahmen aus klar benannten Themenfeldern wie Partizipation, Entgrenzung, Kooperation oder Beziehungsarbeit. „Diese Themen begleiten uns schon lange – aber jetzt gibt es ein gemeinsames Vokabular dafür.“ Auch er selbst beschäftigt sich wissenschaftlich mit Indikatoren schulischer Transformationsprozesse; Teile seiner Arbeit sind in den Navigator BD eingeflossen.
»Zum ersten Mal wird mit dem Navigator BD anhand von Themenfeldern griffig, was eine zukunftsorientierte Schule braucht.«
Für Schulen, die neu in digitale Transformationsprozesse einsteigen, hat Pallesche einen pragmatischen Rat: Lieber nicht vom Gesamtumfang des Navigator BD abschrecken lassen! „Meine Empfehlung ist: Pickt euch ein oder zwei Themenfelder heraus und beginnt dort. Beginnt man an einer Stelle, ergibt sich vieles andere automatisch.“ So fördere Partizipation automatisch Gemeinschaftlichkeit.
Der Navigator BD wird von Micha Pallesche auch als verbindendes Element zwischen Schule, Schulaufsicht und Schulträger verstanden. „Schule zu entwickeln, hört nicht an der Schulgrenze auf. Indikatoren wie Entgrenzung oder Partizipation gelten für das gesamte System.“ Der Navigator BD könne hier helfen, Reflexionsprozesse über die eigene Institution hinaus anzustoßen.
Micha Pallesche fordert nicht zuletzt eine engere Verzahnung von Forschung und Praxis: Statt reiner Zustandsbeschreibungen brauche es mehr Forschungsansätze, die wirksame Praxis tatsächlich evaluieren – wie etwa Design-Based Research. Der Navigator BD, so Pallesche, könne hierfür ein wichtiges Bindeglied sein: „Viele kluge Papiere sind nie in die Umsetzung gekommen.“ Damit das beim Navigator BD nicht passiere, sollten wir ihn gemeinsam weiterdenken.
Orientierung in der Praxis: Lehren aus drei Transformationsgeschichten
Drei Stationen – drei sehr unterschiedliche Kontexte. Und doch zeigen alle Beispiele, wie der Navigator BD konkrete Schulentwicklungsprozesse unterstützen kann: als strukturierendes Werkzeug, als Reflexionshilfe und als Gesprächsanlass für den Austausch zwischen Schulpraxis und Systemebene.
Auch Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn und Leitung des wissenschaftlichen Teams, das den Navigator BD erarbeitet hat, ist sehr angetan davon, wie der Transfer der Studie in die schulische Praxis voranschreitet. „Der Navigator BD stärkt die Arbeit vieler Schulen”, beobachtet Eickelmann. Innovative Schulen würden viele der Themen, die im Navigator BD prominent angeführt werden, bereits gut bearbeiten – vom Kooperationsverständnis bis hin zu Lernräumen und -orten. „Schulen können mithilfe des Navigator BD ihre Kenntnisse vertiefen oder Argumentationshilfe für die Relevanz einzelner Themen herausziehen.”
Schulische Praxis sei im Navigator BD jedoch weit gedacht. „Sie umfasst schulische Transformationsprozesse unter Einbezug aller relevanten Akteur:innen.” So sei der Navigator BD Ende vergangenen Jahres Thema einer großen Schulträgerveranstaltung in Nordrhein-Westfalen gewesen. „Die Schulträger waren sehr erfreut, dass sie nicht nur mitgedacht, sondern an vielen Stellen auch konkret einbezogen wurden.”
Auch die Reise machte deutlich: Der Navigator BD entfaltet dort Wirkung, wo er in bestehende Prozesse eingebettet wird und praktische Anschlussfähigkeit erhält – ob in einer kommunalen IT-Abteilung, einer länderübergreifenden Bildungsinitiative oder Schule mit partizipativ entwickelter Bildungsvision. Sein Potenzial liegt weniger in schnellen Lösungen als in klugen Fragen – und in der Fähigkeit, Orientierung zu geben, ohne die Dynamik der Transformation auszubremsen.