Laurenz Aller: „Uns geht es darum, die Ungleichheit zwischen den Schulen auszugleichen“
Foto: Phil Dera / CC BY 4.0
Interview

Laurenz Aller: „Uns geht es darum, die Ungleichheit zwischen den Schulen auszugleichen“

von Anja Reiter
mit Laurenz Aller und Ida Keller
veröffentlicht am 20.03.2023
Lesezeit: 12 Minuten

Fünf Jahre Forum Bildung Digitalisierung – beim Parlamentarischen Abend am 15. März 2023 durfte auch die Perspektive der Schüler:innen nicht fehlen. Im Doppelinterview sprechen Frankfurt am Mains Stadtschulsprecher Laurenz Aller und Ida Keller vom StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main über ihre Vorstellungen von einem chancengerechten Bildungssystem in der Kultur der Digitalität.

Wie hängen die digitale Transformation und Bildungsgerechtigkeit zusammen? Können digitale Tools die Mitbestimmung von Schüler:innen erleichtern? Und wie beeinflusst die digitale Kommunikation die mentale Gesundheit von Jugendlichen? Zu diesen Fragen sollten nicht nur die Meinungen von erwachsenen Expert:innen gehört werden, sondern selbstverständlich auch die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen selbst. Viel zu oft werden deren Erfahrungen und Ideen aber übergangen.

Bei einem Parlamentarischen Abend anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Forum Bildung Digitalisierung waren am 15. März 2023 vier Vertreter:innen des StadtschülerInnenrats Frankfurt am Main dazu eingeladen, ihre Perspektive auf das System Schule zu teilen. Laurenz Aller, Gloria Dargatz, Harrison Krampe und Ida Keller haben in einer kritischen Intervention über die Themen Digitalisierung, Beteiligung, Mentale Gesundheit und Bildungsgerechtigkeit gesprochen. Im Doppelinterview reflektieren Ida Keller, 17 Jahre, und Laurenz Aller, 18 Jahre, die vier Säulen ihrer Intervention – und erzählen, was sie sich in den kommenden Jahren vom Forum Bildung Digitalisierung wünschen.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Laurenz Aller, 18 Jahre alt, ist Schüler und ehemals stellvertretender Schulsprecher an der Schule am Ried. Außerdem ist er amtierender Stadtschulsprecher im StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main.

Liebe Ida, lieber Laurenz, die Feier zum fünften Geburtstag des Forum Bildung Digitalisierung habt ihr mit einer kritischen Intervention bereichert. Was hatte es damit auf sich?

Ida: Das Programm am Abend der Geburtstagsfeier war dicht – mit Vorträgen, Inputs, einer Paneldiskussionen. Das Forum Bildung Digitalisierung hat uns dazu eingeladen, mittendrin einen Impuls aus Schüler:innensicht beizutragen. Wir brachten damit eine Perspektive auf das System Schule ein, die sich von der Erfahrung derjenigen unterscheidet, die selbst nicht mehr zur Schule gehen. Uns ging es darum, auf die aktuelle Lebensrealität von Schüler:innen aufmerksam zu machen – und das auf durchaus kritische Art und Weise.

Eure Intervention fußte auf vier Säulen: Digitalisierung, Beteiligung, Mentale Gesundheit und Bildungsgerechtigkeit. Warum gerade diese vier Themen?

Ida: Diese Themen sind seit vielen Jahren Kernthemen des StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main. Die Blöcke lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen, bedingen sich zum Teil auch gegenseitig. Wir haben versucht, die Themen auf die persönliche Ebene runterzubrechen; daher haben wir statt eines großen Vortrags mehrere Geschichten erzählt. In diesen Geschichten äußerte sich das viel größere Problem – und es wurde klar, wie es Schüler:innen direkt betrifft.

Eine Säule eurer Intervention ist Digitalisierung. Das Forum Bildung Digitalisierung hat es sich seit seiner Gründung zum Ziel gesetzt, die digitale Transformation im Bildungsbereich voranzutreiben. Wie digital sind Frankfurts Schulen bereits aufgestellt?

Laurenz: In Frankfurt zeichnen sich vor allem große Unterschiede an den Schulen ab. Zwar haben alle Frankfurter Schulen seit Ende Januar WLAN, doch es ist für die meisten Schüler:innen nicht freigeschaltet und auch nicht überall in ausreichender Bandbreite verfügbar. Einige Schulen sind top ausgestattet, etwa das Gymnasium Riedberg. Andere Schulen arbeiten hingegen noch mit Overhead-Projektoren, verfügen über kaputte Beamer und langsame Computer. Die Fragen, die alle Schulen beschäftigen: Wie zuverlässig ist die Technik? Wie kompatibel? Und vor allem: Wie gut sind die Lehrkräfte darauf geschult?

Du hast drei wichtige Themen angesprochen: Infrastruktur, Lehrkräftefortbildung und Ungleichheit. Was muss sich hier aus Sicht des StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main ändern?

Laurenz: Alle Schüler:innen in Frankfurt brauchen Zugang zu WLAN. Wenn Schüler:innen sich Endgeräte nicht leisten können, muss die Stadt sie unterstützen. Es kann nicht sein, dass die Hälfte der Schüler:innen einer Klasse mit Tablets arbeitet, die andere es sich aber nicht leisten kann. Da muss die Stadt eingreifen. Uns geht es darum, die Ungleichheit zwischen den Schulen auszugleichen. Wir brauchen überall Technik, die funktioniert – keine Highend-Technik, aber zuverlässige und bedienungsfreundliche Technik. Nicht zuletzt müssen auch die Lehrkräfte ausreichend vorbereitet sein.

Ida: Wir fordern außerdem, dass Schüler:innen schon bei der Planung mitgedacht und miteinbezogen werden! Uns betrifft es schließlich. Es darf nicht nur über unsere Köpfe hinweg entschieden werden.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Ida Keller, 17 Jahre alt, ist Schülerin und Schulsprecherin an der Schule am Ried, einer weiterführenden Schule im Frankfurter Osten, die die drei Schulzweige Gymnasium mit Oberstufe, Realschule und Hauptschule vereint. Außerdem ist Ida seit Sommer 2022 als Vorstandsmitglied im StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main aktiv.

Damit wären wir schon bei der nächsten Säule: Beteiligung. Aus eurer Sicht: Wie gut können sich Schüler:innen in Deutschland beteiligen, was Schulentwicklungsprozesse angeht?

Laurenz: Das unterscheidet sich deutschlandweit sehr drastisch. Der StadtschülerInnenrat Frankfurt am Main ist schon seit über 50 Jahren aktiv und ein sehr etabliertes Sprachrohr in die Politik. Wir sehen aber auch, dass in anderen Städten Beteiligungsstrukturen fehlen. Ein Problem ist auch, dass sich stets nur die diejenigen beteiligen, die auch den Mut dazu haben. Um seine Stimme zu erheben und mit Politiker:innen zu sprechen, braucht man Mut. Wir brauchen daher auch niedrigschwellige Beteiligungsstrukturen, die Jugendliche dabei unterstützen, ihre Meinung kundzutun.

Ida: Mut zum einen, Kapazitäten zum anderen. Schüler:innen haben einen ganz unterschiedlichen Alltag; nicht alle haben die Kapazitäten, um sich einzubringen. Wir brauchen aber Menschen, die aus verschiedenen Schulformen kommen, die verschiedene Themen und Geschichten mitbringen. Beteiligung darf in keiner Bubble stattfinden. 

Laurenz: Wir wollen das Bild aufbrechen, dass sich nur Gymnasiast:innen beteiligen. Im StadtschülerInnenrat waren wir daher sehr glücklich, als sich auch mal ein Berufsschüler beteiligt hat. Was aber auch klar ist: Beteiligung kostet Zeit und Geld. Aktuell investiere ich rund 20 Stunden pro Woche nur für den StadtschülerInnenrat. Ich könnte in dieser Zeit auch einem bezahlten Nebenjob nachgehen, bin auf das Geld aber nicht angewiesen – andere Schüler:innen hingegen schon. Politische Beteiligung ist immer noch eine Frage des Geldes. Wir sagen: Jede:r muss die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen, ohne dass es am Geld scheitert.

»Wir brauchen Menschen, die aus verschiedenen Schulformen kommen, die verschiedene Themen und Geschichten mitbringen. Beteiligung darf in keiner Bubble stattfinden.«

Ida Keller

Welche Ideen habt ihr, um diese Vision möglich zu machen?

Laurenz: Wir brauchen in Frankfurt ein Jugendparlament, bei dem die Jugendlichen für ihre Arbeit bezahlt werden. Es darf sich nicht die Frage stellen: Nehme ich einen Minijob an oder beteilige ich mich? Niedrigschwellige Beteiligung heißt für uns außerdem, auf Jugendliche zuzugehen und zu fragen: Welches Thema stört dich ­– und wie können wir dir helfen, es publik zu machen?

Ida: Mitbestimmung fängt im Kleinen an, auch an der Schule. Viele Leute denken: Da kann ich sowieso nichts machen, das kann ich nicht ändern. Wenn man aber bereits im PoWi-Unterricht über Beteiligung spricht, ändert das unsere Kultur.

Habt ihr den Eindruck, dass digitale Tools Teilhabe an Schulen erleichtern können?

Laurenz: In Frankfurt gibt es bereits digitale Beteiligungsstrukturen, etwa die Plattform „Frankfurt fragt mich“. Dort kann man sich zu aktuellen Projekten äußern, Ideen und Mängel melden. Diese Online-Beteiligungsstrukturen machen es deutlich einfacher, seine Stimme zu erheben. Die Frage ist eher: Was passiert mit den Meldungen? Ein großer Nachteil von Beteiligungsstrukturen ist, dass häufig nicht mitgeteilt wird, was aus dem Hereingetragenen geworden ist. Auch da kann die Digitalisierung ein wertvolles Instrument sein, um nachzuhaken und Versäumnisse publik zu machen. Digitale Beteiligungsstrukturen sollten auch im Schulalltag viel besser integriert werden. Leider wird das noch viel zu wenig gemacht, dabei gäbe es so viele praktische Anwendungsmöglichkeiten: Wie soll der Schulhof umgestaltet werden? Wohin soll die nächste Klassenfahrt gehen? Dazu könnte man einfache Online-Abfragen machen, statt durch alle Klassen zu laufen und Ansagen zu machen.

Eine weitere Säule eurer Intervention ist das Thema Bildungsgerechtigkeit. Wie hängen aus eurer Sicht Digitalisierung und Bildungsgerechtigkeit zusammen?

Laurenz: Bildungschancen hängen in vielen Fällen davon ab, aus welchen Elternhäusern Kinder kommen, auch in der Frage von digitalen Kompetenzen. Wenn sich in einer Klasse viele Kinder digitale Ausstattung leisten können, wird der Unterricht automatisch digitaler gestaltet sein. Der Stand der Digitalisierung hängt aber auch davon ab, wie aktiv eine Schulleitung ist, welche Forderungen sie stellt, wie vernetzt sie ist.

Ida: Es ist so wichtig, Digitalisierung an Bildungsgerechtigkeit zu knüpfen. Wenn wir das nicht machen, sorgen wir unweigerlich für den Ausschluss gewisser Menschen. Das können wir uns nicht leisten. Wie gut eine Schule ausgestattet ist, hängt auch mit dem Standort zusammen. In sogenannten Brennpunktschulen gibt es häufig eine große Diskrepanz zu Gymnasien in wohlhabenden Gegenden. Das sind ungleiche Startbedingungen.

»Der Stand der Digitalisierung hängt aber auch davon ab, wie aktiv eine Schulleitung ist, welche Forderungen sie stellt, wie vernetzt sie ist.«

Laurenz Aller

Was versäumen Schüler:innen, die digital abgehängt werden?

Laurenz: Sie versäumen es, digitale Kompetenzen zu erlangen: Wie erkenne ich Fake News? Woher weiß ich, welchen Quellen ich vertrauen kann? Es geht aber auch darum, wie man das Lernen mithilfe digitaler Technik verbessern kann – mithilfe von Videos, Online-Tools oder Schreibprogrammen zur Dokumentation. Wer diese Möglichkeiten nicht kennt oder nicht nutzen kann, schöpft nicht aus dem vollen Potenzial.

Ida: Ganz konkret kann es bedeuten, dass Schüler:innen in der Schule vom Stoff abgehängt werden – wie wir während Corona gesehen haben. Manche hatten kein eigenes Zimmer, kein eigenes Lerngerät – da sind große Lücken entstanden. Das kann für Einzelne für die weitere Schullaufbahn gravierend sein und insgesamt Bildungsungerechtigkeiten verstärken.

Die letzte Säule eurer Intervention ist Mentale Gesundheit. Welche psychischen Probleme beschäftigen Kinder und Jugendliche, welche Sorgen treiben sie um?

Laurenz: Es geht vor allem darum, das Thema zu enttabuisieren. Über psychische Gesundheit muss geredet werden! Gerade die Corona-Pandemie war ein Katalysator für psychische Erkrankungen. Ganz viele Schüler:innen haben als Folge der Corona-Pandemie einen hohen Leistungsdruck gefühlt, weil sie sich die Lerninhalte selbst aneignen mussten. Wegen der sozialen Isolation sind vermehrt Depressionen aufgetreten. Die psychischen Erkrankungen von Schüler:innen sind also vielfältig – von Essstörungen zu Zwangsstörungen über Depression bis hin zu Suizidalität.

2021 und 2022 habt ihr gemeinsam mit der Puhl Foundation und dem Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention Schulsuizidpräventionstage in Frankfurt veranstaltet. Was hat es damit auf sich?

Laurenz: Die Präventionstage sind kein Therapieangebot, sondern richten sich an Schüler:innen, die sich für das Thema interessieren, weil sie zum Beispiel andere unterstützen wollen. Besonders ist mir ein Workshop mit Betroffenen in Erinnerung geblieben. Schüler:innen konnten ganz offen nach deren Erfahrungen fragen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Das war sehr bewegend. Danach hatten die Schüler:innen viel mehr Ahnung vom Thema, konnten besser damit umgehen. Das hat für mich die Veranstaltung zusammengefasst: Wir möchten Schüler:innen Orientierung geben. 

Ida: Psychische Erkrankungen sind die Lebensrealität vieler Schüler:innen, zugleich bekommt das Thema noch viel zu wenig Aufmerksamkeit an den Schulen. Dabei wirken sich psychische Probleme auf den Schulalltag und die schulische Leistung aus. Wir sind der Ansicht, dass dafür ein größerer Raum geschaffen werden muss, um präventiv zu arbeiten. Wird an Schulen nicht über psychische Gesundheit gesprochen, sorgt man dafür, dass Schüler:innen sich nicht öffnen. Sie erkennen möglicherweise ihr Problem nicht, wissen nicht, dass es Hilfe gibt. Hier müssen wir richtig Tempo machen.

Wie hängen psychische Gesundheit und digitale Kommunikation zusammen? Welche Gefahren und Chancen gibt es?

Laurenz: Das sehe ich zwiegespalten. Durch die Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie die soziale Isolation auf uns wirkt. Nur digital zu kommunizieren, hat vielen zugesetzt. Von digitaler Kommunikation gehen auch viele Gefahren aus, etwa Cyber-Mobbing. Auf der anderen Seite wird im Internet offener über psychische Gesundheit geredet ­– das ist auch ein Vorteil.

Ida: Die große Chance digitaler Kommunikation ist die Möglichkeit, Kontakt zu halten zu Menschen, die nicht physisch anwesend sind. Das kommt vor allem Schüler:innen zugute, die im nahen Umfeld nicht so viele Ansprechpartner:innen haben. Da kann Vernetzung aufbauend sein und unterstützend wirken. Das Internet kann aber auch gefährlich sein. Es gibt Online-Foren, durch deren Nutzung Menschen erst in die Erkrankung rutschen, weil dort manipulativ argumentiert wird oder Falschinformationen verbreitet werden. Deshalb ist es wichtig, in der Schule eine gewisse Medienkompetenz mit auf den Weg zu geben. Schüler:innen müssen lernen: Was ist Social Media, was ist das reale Leben und wie baue ich eine Brücke?

»Es ist so wichtig, Digitalisierung an Bildungsgerechtigkeit zu knüpfen. Wenn wir das nicht machen, sorgen wir unweigerlich für den Ausschluss gewisser Menschen.«

Ida Keller

Das Forum Bildung Digitalisierung wird sich auch weiterhin einsetzen für eine chancengerechte Schule in der Kultur der Digitalität. Was wünscht ihr euch vom Forum für die nächsten fünf Jahre?

Laurenz: Ich finde es unglaublich toll, dass das Forum in der Vergangenheit auf uns Schüler:innen zugegangen ist und unsere Perspektive wahrgenommen hat. Ich hoffe, dass wir auch weiterhin zusammenarbeiten werden.

Ida: Es wäre super, wenn sich das Forum noch weiter öffnen würde. Wenn Leute mitmachen würden, die sich ansonsten nicht so viel mit Digitalisierung beschäftigen. Ich kann das nur empfehlen: Ich saß auch schon mal bei der Konferenz Bildung Digitalisierung auf dem Panel und hatte das Gefühl: Hier werden wir wirklich gehört. Das wünsche ich mir auch für die Zukunft. Es müssen noch mehr Geschichten von Schüler:innen gehört werden!

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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