Gastbeitrag
Lehren der Energiewende für die digitale Transformation der Schulen
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veröffentlicht am 23.09.2021
Lesezeit: 7 Minuten
Seit Jahrzehnten versagen die Maßnahmen, mit denen wir die chronischen Probleme unserer Schulen lösen wollen. Um den dringend erforderlichen Wandel in Gang zu setzen, benötigen wir völlig neue Strategien. Ein Blick auf die Geschichte der Energiewende zeigt, dass die anstehende Transformation im Rahmen einer neuartigen Mission für Bildung in der digitalen Welt gestaltet werden muss.
Krisen haben zwei Gesichter: Sie verursachen Schäden und legen Missstände offen, können aber auch Entwicklungen zum Besseren einleiten. Die Corona-Pandemie stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Im Bildungsbereich bringt sie die soziale Schlagseite des deutschen Schulsystems ebenso ans Tageslicht, wie dessen chronische Innovationsschwäche. Gleichzeitig setzt sie aber auch eine Menge in Bewegung. Viele Initiativen innerhalb und außerhalb des Schulsystems arbeitet daran, die aktuelle Krise in den Griff zu bekommen und zugleich einen Prozess des Wandels hin zu moderneren und gerechteren Schulen einzuleiten.
Eine ganz ähnliche Entwicklung fand allerdings auch schon vor 20 Jahren statt. Damals löste die erste PISA-Studie der OECD in Deutschland ein mediales und politisches Erdbeben aus. Es führte ebenfalls zu großen Anstrengungen, das deutsche Schulsystem besser und gerechter zu machen. Auch damals begannen viele Schulen und Lehrkräfte mit der Suche nach eigenen Lösungen. Die Zivilgesellschaft stellte schon damals mit großem Enthusiasmus eine Vielzahl großer und kleiner Projekte auf die Beine. Und die Schulpolitik versuchte damals wie heute, die Probleme eher top-down und unter der Beteiligung wissenschaftlicher Expert:innen zu lösen.
Die Corona-Krise zeigt nun in aller Deutlichkeit, dass diese Bemühungen insgesamt nicht zum gewünschten Ergebnis führten. Es stellten sich zwar durchaus positive Entwicklungen ein, doch wirkliche Durchschlagskraft entwickelte keine der genannten Strategien. Die Erfolge blieben auf begrenzte Inseln des Gelingens beschränkt, die große Masse der Schulen und Schüler:innen erreichten sie nicht. Zudem geriet das Zukunftsthema der Digitalisierung weitgehend aus dem Blick. Deswegen ist es hochproblematisch, dass Schulen, Bildungsadministration und -politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auch heute wieder vorwiegend auf die altbekannten Lösungsmethoden setzen, obwohl sie schon seit Jahrzehnten nicht zum Erfolg führen und dies auch künftig nicht tun werden. Daran wird auch der Umstand nichts ändern, dass sie diesmal in einem neuen, digitalen Gewand daherkommen.
Wenn wir aus der Krise heraus die Weichen für eine Schule des 21. Jahrhunderts stellen wollen, ist offenbar ein radikaler Strategiewechsel erforderlich. Was muss geschehen, damit diesmal aus der Krise heraus eine erfolgversprechende Entwicklung eingeleitet wird, an deren Ende eines Tages die gerechte und leistungsfähige Schule der Zukunft stehen kann?
Neue Wege aus der Krise: Die Energiewende als Vorbild
Kein anderes Vorbild eignet sich für die notwendige Neuorientierung so gut wie die Geschichte der Energiewende als das beste Beispiel für geglückten Systemwandel, das Deutschland zu bieten hat. Hier hat sich vor unseren Augen eine Entwicklung ereignet, die ebenfalls von Krisen wie dem Ölpreisschock der 1970er Jahre oder der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verursacht wurde und aus kleinsten Anfängen heraus begann. Im Gegensatz zu den bisherigen Schulreformen war sie jedoch überaus erfolgreich und resultierte in der Entwicklung eines umfassenden Systems erneuerbarer Energien, das heute nicht nur den Ausstieg aus der Kernkraft ermöglicht, sondern zugleich die Klimaneutralität unseres Landes in greifbare Nähe rückt.
Grund genug also, die Geschichte der Energiewende zu befragen, welche Lehren sie für eine umfassende Veränderung des Schulsystems bereithält. Dieser Blick über den Zaun hat zwei große Vorteile: Er macht nicht nur Hoffnung, dass ein echter Wandel auch im Bildungsbereich geschehen könnte. Er zeigt zugleich auch, warum im Energiesektor gelungen ist, was in den Schulen unmöglich zu sein scheint, und welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären.
- Transformationen beruhen auf gemeinsamen Visionen und Zielen: Die Aktivist:innen der Energiewende hatten klare Ziele und starke Visionen. Sie waren von dem Anliegen motiviert, die Atomkraft völlig abzuschaffen und wussten, dass sie dafür ein System erneuerbarer Energien ganz neu entwickeln mussten. Das gab allen Beteiligten eine hohe Motivation und ihren Aktivitäten eine klare, gemeinsame Richtung. An solchen gemeinsamen und konkreten Zielen und Visionen mangelt es dem Bildungsbereich sehr. Das führt zu einer Zersplitterung der Aktivitäten und Ressourcen, statt diese auf die Bewältigung zentraler Herausforderungen hin auszurichten. Die Formulierung einer gemeinsamen Vision wäre der erste und wichtigste Schritt in Richtung einer Transformation der Schulen.
- Transformationen müssen Beiträge innovativer Unternehmen mobilisieren: Das neue Energiesystem entstand nicht am Reißbrett, sondern durch die beharrliche, gemeinsame Arbeit einer Vielzahl von Politiker:innen, Unternehmer:innen und Wissenschaftler:innen, die über Jahrzehnte hinweg an der Entwicklung von innovativen Technologien wie Windkraft und Solarenergie arbeiteten. Auch das Schulsystem der Zukunft wird nicht durch wenige Großforschungsprojekte entwickelt und von staatlichen Zentralinstituten umgesetzt werden. Innovative Non-Profit-Organisationen und Bildungsunternehmen könnten hier ein entscheidendes Bindeglied zwischen anwendungsnaher Bildungsforschung und veränderungsbereiter Schulpraxis darstellen.
- Transformationen brauchen einen langen Atem: Erfolgreiche Transformationen sind Generationenprojekte, die ohne weiteres 50 bis 100 Jahre dauern können. Die Energiewende begann aus kleinsten Anfängen heraus in den 1970er Jahren, erzielte 2011 nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima ihren politischen Durchbruch und wird, wenn alles gut geht, im Jahr 2050 zumindest in Teilen abgeschlossen sein. Im Schulbereich herrschen hingegen weiterhin Versuche vor, die nötige Innovation in Projekten mit begrenzter Laufzeit zu organisieren. Dabei zeigt alle Erfahrung, dass diese Vorhaben zu punktuell und zu kurz getaktet sind, als dass aus ihnen ein wirklich umfassender Wandel entstehen könnte. Hier muss also nicht nur viel größer, sondern auch viel langfristiger gedacht werden.
Eine gemeinsame Mission für Bildung in der digitalen Welt
Gerade diese langfristige Perspektive erscheint womöglich angesichts der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten der derzeitigen Stagnation nicht als sonderlich erfreuliche Aussicht. Doch womöglich können wir eine Abkürzung nehmen. Denn die Energiewende war zunächst ein ungeplantes und ungesteuertes Projekt einer Vielzahl von Aktivist:innen, das erst spät in eine breite gesellschaftliche Bewegung mündete. Heute können wir jedoch von diesem Vorbild lernen, welche Hebel wir in Bewegung setzen müssen, um eine Transformation in Gang zu setzen und den Veränderungsprozess maßgeblich zu beschleunigen. Dafür müssten Politik und Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft die Zersplitterung ihrer Bemühungen überwinden und sich auf eine große gemeinsame Mission für Bildung in der digitalen Welt einigen.
Eine solche Mission würde eine radikale Abkehr von den vertrauten Methoden darstellen, mit denen im Schulbereich bislang Innovation organisiert wird. Sie würde zunächst unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung zentrale schulische Problemfelder benennen, deren Bearbeitung in den nächsten Jahrzehnten Priorität genießen soll. Dies beinhaltet allerdings auch das schmerzliche Eingeständnis, dass nicht alle Anliegen gleichermaßen wichtig sein können. Sodann wären ambitionierte und konkrete Ziele zu formulieren, um eine Richtung für die weitere Entwicklung vorzugeben. Wir könnten uns zum Beispiel darauf einigen, dass in 20 Jahren wirklich alle Kinder am Ende ihrer Schulzeit die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen gut beherrschen. Dass sie darüber hinaus die Fähigkeiten erworben haben, die für das Leben und Arbeiten im 21. Jahrhundert erforderlich sind – und dass all dies auf einer umfassenden Nutzung und Kenntnis digitaler Medien und Instrumente beruht.
»Politik und Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft müssen sich auf eine große gemeinsame Mission für Bildung in der digitalen Welt einigen.«
Derartig ambitionierte Ziele sind mit den herkömmlichen Methoden und von den bisherigen Akteuren alleine nicht zu erreichen. Die neue Mission müsste daher klare Ziele mit einer großen Offenheit für unterschiedliche Problemlöser und -lösungen verbinden. Sie müsste das Fenster für ganz unterschiedliche Akteure aus Schulpraxis, Bildungsforschung und Bildungsunternehmen weit öffnen, um deren möglichst vielfältige Beiträge zu mobilisieren, und so ganz neue Lösungen für die gemeinsamen Ziele zu erproben. Auf diese Weise entstünde ein neuartiges, öffentlich-privates Innovationssystem, das viel umfassender, schlagkräftiger und leistungsfähiger wäre, als die bisherige Projektlandschaft. Am Ende dieser Entwicklung könnte im günstigsten Fall ein BioNTech der Bildung stehen.
Zudem müsste die Mission den neuen Initiativen Freiraum für eine Vielzahl Experimente eröffnen – und ihnen reichlich Zeit geben, um aus den entstehenden neuen Ansätzen immer wirksamere Lösungen zu entwickeln. Etwa in Förderprogrammen, die von öffentlichen und privaten Trägern gemeinsam finanziert, und von spezialisierten Innovationsagenturen organisiert werden. Im Laufe der Zeit könnten sie immer besser ineinandergreifen und zu ganzen Bündeln gut abgestimmter Maßnahmen zusammenwachsen, die in den Schulen aufgrund ihrer nachweislichen Wirksamkeit immer größere Verbreitung finden würden.
Auch die Corona-Krise könnte also zum Wendepunkt werden, wenn sich alle Beteiligten auf die gemeinsame Mission einigen würden, die Weichen der Schulentwicklung ganz neu zu stellen und eine dynamische Entwicklung hin zum chancengerechten und leistungsfähigen – womöglich sogar wieder international führenden – Schulsystem des 21. Jahrhunderts einzuleiten.