Interview

Lisa Lemke und Antonia Blaer-Nettekoven: „Die räumliche und pädagogische Trennung zwischen Vor- und Nachmittag ist nicht mehr zeitgemäß“

von Klaus Lüber
mit Lisa Lemke und Antonia Blaer-Nettekoven
veröffentlicht am 19.06.2023
Lesezeit: 8 Minuten

Welche Rolle spielen räumliche Strukturen in der Ausgestaltung eines gut funktionierenden Ganztagskonzepts? Wie können multiprofessionelle Teams durch die intelligente und flexible Raumnutzung in der Schule profitieren? Ein Gespräch mit Lisa Lemke und Antonia Blaer-Nettekoven von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft anlässlich der Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Digital unterwegs im Ganztag“.

Die Kommunen stehen unter Druck. Der Bedarf an Ganztagsplätzen nimmt zu. Dabei ist das räumliche Angebot der Schulen begrenzt. Auch ist die Qualität der Angebote nach dem starken quantitativen Ausbau ganztägiger Bildung seit der Einführung 2003 sehr unterschiedlich. An vielen Orten funktioniert Ganztag noch nach dem Modell „vormittags Schule, nachmittags Betreuung“. Das Potenzial, das in der Zusammenarbeit von multiprofessionellen Teams und der Verbindung formaler, non-formaler und informeller Bildungsangebote liegt, wird kaum ausgeschöpft.

Hier setzt die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft an. Im Rahmen des Projekts „Ganztag und Raum“ wird untersucht, wie neue Raumnutzungskonzepte dazu beitragen können, eine qualitätsvolle Verzahnung von schulpädagogischen und sozialpädagogischen Aktivitäten zu gewährleisten. Die Idee ist, Ganztagsschulen im Primarbereich auf ihrem Weg zu einer neuen Praxis im Umgang mit Raum und Fläche zu unterstützen. So kann es gelingen, inklusive Ganztagsschulentwicklung mit dem Ansatz der räumlichen Nutzung aller Flächen, auch außerschulischer Flächen im Quartier, über den gesamten Tag voranzubringen. Schule kann sich so mehr zum Lern- und Lebensort entwickeln.

Foto: Privat

Zur Person

Lisa Lemke ist Projektmitarbeiterin im Handlungsfeld Inklusive ganztägige Bildung bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Sie ist ausgebildete Lehrerin und hat zuvor als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Lehrkräftebildung mit dem Fokus zukunftsfähiger Lehr- und Lernkonzepte sowie dem Aufbau von Netzwerken gearbeitet. Gemeinsam mit Antonia Blaer-Nettekoven begleitet sie das Projekt „Ganztag und Raum“ in der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.

Frau Lemke, Frau Blaer-Nettekoven, in Zukunft hat jedes Kind im Grundschulalter das Recht auf einen Platz zur ganztägigen Betreuung. Für Kommunen bedeutet das: Der Bedarf an Ganztagsplätzen nimmt zu. Sind Schulen und Kommunen darauf vorbereitet?

Lisa Lemke: Der Bedarf zur Schaffung von Ganztagsplätzen in Schulen und Kommunen ist tatsächlich sehr hoch und die Zeit knapp: Ab 2026 hat jedes neu eingeschulte Kind im Grundschulalter ein Recht auf einen Platz zur ganztägigen Förderung. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schätzt, dass dafür rund 800.000 weitere Ganztagsplätze geschaffen werden müssen. Um dies zu erreichen, braucht es noch jede Menge qualifizierter Fachkräfte.

Antonia Blaer-Nettekoven: Hinzu kommt die Herausforderung, ein qualitatives Raumangebot zu schaffen, das den Bedürfnissen der Kinder über den ganzen Tag entspricht. Viele Schulen und Kommunen stehen hier massiv unter Druck. Dass die Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern immer noch ausstehen, erhöht zusätzlich die Unsicherheit. Die Aufgabe ist wirklich komplex. 

Lisa Lemke: Trotzdem ist es wichtig, den Rechtsanspruch nicht nur als Pflicht zu verstehen, sondern als Chance, ein qualitatives ganztägiges Bildungsangebot zu gestalten, das sowohl auf den gesellschaftlichen Wandel einer veränderten Arbeitswelt reagiert als auch zu mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit führen kann.

Inwiefern muss räumliche Nutzung im Zuge eines erfolgreichen Ganztagskonzeptes sogar neu gedacht werden? Im Augenblick wird in vielen Schulen ja noch unterschieden zwischen Zuständigkeiten für „Schule“ und „Betreuung“, was sich wiederum in der Nutzung der Räume widerspiegelt.

Antonia Blaer-Nettekoven: Das stimmt. An vielen Standorten wird sowohl inhaltlich als auch organisatorisch und räumlich in einer additiven Struktur von „Vormittag“ und „Nachmittag“ gedacht. Es gibt Klassenräume und zusätzliche „Betreuungsräume“. Da das Raumangebot aber naturgemäß begrenzt ist, führt das schnell zu Platzproblemen. Löst man sich aber gedanklich von der additiven Struktur, betrachtet alle Flächenressourcen, die einer Schule über den gesamten Tag zur Verfügung stehen und strebt eine verzahnte Nutzung nicht nach Zuständigkeiten, sondern nach Aktivitäten an, steht der Schulgemeinschaft plötzlich eine Vielzahl an unterschiedlichen räumlichen Angeboten zur Verfügung. 

Lisa Lemke: Das erfordert natürlich ein Neudenken von Tagesrhythmen, Lehr- und Lernstrukturen sowie Teamprozessen. Aber darin liegen auch enorme Potenziale für die pädagogische Entwicklung – im Sinne einer veränderten Lernkultur.

Wie können durch eine veränderte Organisation und Kooperation die vorhandenen Räumlichkeiten für eine inklusive ganztägige Bildung effektiver genutzt und ausgelastet werden?

Lisa Lemke: Beides muss Hand in Hand gehen. Dann können sich Raumkonzeption und pädagogische Arbeit gegenseitig befruchten. Zentral ist die organisatorische wie inhaltliche Auflösung der Trennung von Vormittag und Nachmittag. Denn dadurch lässt sich der Tag kindgerechter rhythmisieren. Dann lassen sich formale, non-formale und informelle Bildungsangebote über den ganzen Tag verteilen und Räume nach unterschiedlichen Aktivitäten nutzen. Dadurch wird es möglich, dem kindlichen Bedürfnis nach der Abwechslung von Aktivitäts-, Ruhe- und formellen Lernphasen besser gerecht zu werden. 

Antonia Blaer-Nettekoven: Damit das funktioniert, muss diese unterschiedliche Nutzung der gemeinsamen Räume aber eben auch gemeinsam erfolgen. Und das geht nur, wenn die verschiedenen Bildungsangebote ineinandergreifen. Kurz gesagt: Vormittag und Nachmittag müssen mit- statt nacheinander arbeiten, Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter:innen sich als gemeinsames Team begreifen. Aber damit eine solche multiprofessionelle Zusammenarbeit gelingt, braucht es ein gemeinsam gelebtes Bildungsverständnis. Und dafür braucht es wiederum geeignete Räume: Arbeitsplätze und Teamräume, die es ermöglichen, sich auszutauschen, gemeinsam zu arbeiten und zu planen und als multiprofessionelles Team zusammenzuwachsen.

Foto: Antonia Blaer

Zur Person

Antonia Blaer-Nettekoven ist Projektmitarbeiterin im Handlungsfeld pädagogische Architektur der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Nach einem Studium an der Universität Stuttgart arbeitete sie in verschiedenen Architekturbüros und ist seit 2019 bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft als Architektin tätig. Gemeinsam mit Lisa Lemke begleitet sie das Projekt „Ganztag und Raum“ in der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.

»Zentral ist die organisatorische wie inhaltliche Auflösung der Trennung von Vormittag und Nachmittag. Denn dadurch lässt sich der Tag kindgerechter rhythmisieren.«

Lisa Lemke

Wie können Außen- und Innenräume über den ganzen Tag hinweg gemeinschaftlich im Sinne einer multiprofessionellen Kooperation genutzt und ausgelastet werden?

Antonia Blaer-Nettekoven: Indem man die Trennung von Vormittag und Nachmittag auch hier aufhebt und Räume und Flächen nicht mehr an Zeiten gebunden betrachtet, sondern je nach Bedarf und Nutzung.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Lisa Lemke: Zum Beispiel in Form eines integrierten Nutzungskonzepts, das sich an der Idee einer Wohngemeinschaft orientiert, also mit einer Aufteilung in persönlich und gemeinschaftlich genutzte Flächen. Jede WG besteht aus einem festen Team und mehreren Lerngruppen, die jeweils über einen eigenen Raum verfügen und die restlichen Räume des jeweiligen Geschosses miteinander teilen. Hierdurch wird viel Potenzial freigesetzt. Genau dies haben wir gerade in einem Pilotprojekt an der Martin-Schaffner-Schule in Ulm gezeigt.

Antonia Blaer-Nettekoven: Um das an einem konkreten Beispiel zu erläutern: Im Nebengebäude der Schule sind je zwei Lerngruppen in einem Geschoss untergebracht. Dort gibt es vier große Räume. Bislang waren diese komplett belegt: zwei Klassenzimmer, zwei „Betreuungsräume“. Indem wir diese Trennung aufheben, lassen sie sich ganz anders nutzen. Zwei der Räume werden zur „Homebase“ der jeweiligen Lerngruppe, ein dritter zu einem gemeinsam genutzten Leiseraum. Der vierte Raum wird zu einem Themenraum umgestaltet, der von der ganzen Schulgemeinschaft genutzt werden kann, etwa als Theater-, Musik- oder Werkraum. Wenn dies auf die ganze Schule übertragen wird, hat man auf einmal ein deutlich vielfältigeres Raum- und Aktivitätsangebot als vorher, was auch ganz neue pädagogische Möglichkeiten eröffnet. Und das alles mit denselben Flächen wie vorher.

Dazu müssen aber auch alle beteiligten Gruppen an einem Strang ziehen.

Antonia Blaer-Nettekoven: Richtig. Deshalb haben wir das in Ulm auch als partizipativen Prozess gestaltet, gemeinsam mit einem Prozessbegleitungsteam bestehend aus einer Pädagogin und einem Architekten, dem Schulträger, der in Ulm gleichzeitig auch der Träger des Ganztags ist, dem Gebäudemanagement, der Schulaufsicht und der Schulgemeinschaft. Unverzichtbar ist dabei die Perspektive der Kinder.

»Deshalb haben wir das in Ulm auch als partizipativen Prozess gestaltet, gemeinsam mit einem Prozessbegleitungsteam […]. Unverzichtbar ist dabei die Perspektive der Kinder.«

Antonia Blaer-Nettekoven

Welcher Umbaumaßnahmen oder neuer Möblierungskonzepte bedarf es, um die veränderten Nutzungsanforderungen umzusetzen?

Antonia Blaer-Nettekoven: Statt abgegrenzter Räume ist es zum Beispiel wichtig, Sichtbeziehungen zwischen den einzelnen Lernorten zu schaffen. Denn diese stärken das Gemeinschaftsgefühl und sensibilisieren Kinder sowie das multiprofessionelle Team für die parallel stattfindenden Aktivitäten. Idealerweise können die Möbel dann an die einzelnen Sozialformen und Aktivitäten angepasst werden. Ebenfalls notwendig sind eine veränderte Ausstattung und Möblierung, die verschiedene Sozialformen und Aktivitäten ermöglicht. Hier lohnt sich der Blick auch weg von den klassischen Schulmöbeln hin zu solchen mit offenen Strukturen.

Lisa Lemke: Grundsätzlich lässt sich sagen: Wir müssen wegkommen von der „Klassenraumstruktur“. Kinder müssen befähigt werden, selbstständig und im Team zu lernen. Verschiedene Expertisen von unterschiedlichen Personen begleiten die Kinder über den gesamten Tag in ihrem Lernprozess. Der Klassenraum als der Ort, an dem die Lehrkraft diejenige ist, die 30 Schüler:innen das Wissen vermittelt, ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen den ehemaligen reinen Lernort immer stärker zum Lebensort entwickeln.

Es geht also nicht mehr nur um Lernorte?

Lisa Lemke: Genau. Man muss auch Teambereiche, Themenräume, Orte für Rückzug, Entspannung sowie Gruppen- und Projektarbeit mit einplanen. Oder auch die Mensa. Diese sollte idealerweise nicht mehr nur ein Ort sein, der für ein kurzes Zeitfenster um die Mittagszeit genutzt wird, sondern über den ganzen Tag Angebote machen. Zudem ist der Blick in das soziale Umfeld der Schule wichtig. Ressourcen im Quartier, wie zum Beispiel Musik- oder Sportvereine, Betriebe oder zur Verfügung stehende Flächen, sollten genauso Berücksichtigung finden, wie das Quartier mit Angeboten etwa der Stadtteilbibliotheken oder Sportvereinen in die Schule einbezogen werden sollte.

Klaus Lüber

Klaus Lüber studierte Kulturwissenschaft, Publizistik und Philosophie in Berlin und München. Als freier Redakteur und Autor arbeitet er unter anderem für den F.A.Z.-Verlag, die Volkswagenstiftung und den Thinktank iRights.Lab. Zu seinen Lieblingsthemen zählen Innovation, Digitalisierung und Bildung. Er lebt und arbeitet in Berlin.

https://www.klauslueber.de/