Interview
Micha Pallesche: „Mit dem Navigator BD wird zum ersten Mal griffig, was eine zukunftsorientierte Schule braucht“
von
mit Micha Pallesche
veröffentlicht am 28.08.2024
Lesezeit: 6 Minuten
Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, ist sich sicher: Veränderungen an Schulen können nur gemeinschaftlich erfolgen. Im Interview teilt er seine Erfahrungen mit partizipativen Veränderungsprozessen an Schulen – und reflektiert, wie der Navigator BD künftig bei Transformationsprozessen helfen kann.
Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) wirft erstmals einen thematisch systematisierten Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland. Er identifiziert ausgehend von drei strategischen Handlungsfeldern – Haltung zur Kultur der Digitalität, Digital-förderliche Rahmenbedingungen und Digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung – 21 relevante Themenfelder, die als übergreifende Indikatoren dienen können, um den Stand der digitalen Transformation systemisch zu erfassen. Mit seinen konzeptionellen Ausarbeitungen und der Zusammenführung vorliegender Studienergebnisse entwirft der Navigator BD ein umfassendes Verständnis digitaler Transformation und skizziert entlang dieser Struktur aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungslücken. Daraus ergeben sich Orientierungsimpulse für zukünftige Entwicklungen und für ein systematisches Bildungsmonitoring der digitalen Transformation.
Der Navigator BD wurde auf Initiative des Forum Bildung Digitalisierung im Zeitraum Juni 2023 bis März 2024 von einem Wissenschaftler:innen-Team unter der Leitung von Prof. Dr. Birgit Eickelmann (Universität Paderborn) und der Ko-Leitung von Prof. Dr. Julia Gerick (Technische Universität Braunschweig) gemeinsam mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) erarbeitet.
Zur Person
Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, einer Schule mit mehrfach ausgezeichnetem medienbildnerischem Profil und erste Smart School in Baden-Württemberg. Die Schule hat 2017 zudem an der Werkstatt schulentwicklung.digital des Forum Bildung Digitalisierung teilgenommen. Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, an der er unter anderem Medienpädagogik als Zusatzstudium absolvierte, war er lange Jahre neben seinem Lehrberuf an das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg abgeordnet.
Sie sind Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe. Gibt es an Ihrer Schule eine gemeinsame Zielvorstellung in Sachen digitaler Transformation – und wie sind Sie bei der Entwicklung dieses Zielbilds vorgegangen?
Schulentwicklung unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität darf keine ausschließliche Angelegenheit der Schulleitung und der Lehrkräfte sein. Deshalb haben wir uns 2017 als gesamte Schulgemeinschaft auf den Weg gemacht, um unsere Vision für die Schule 2030 zu entwickeln – mit unterschiedlichen Formaten der Beteiligung. Im Rahmen einer Fishbowl-Diskussion haben Schüler:innen Visionen für den Unterricht von morgen entwickelt. Im Roten Salon, der mittlerweile auch an anderen Schulen etabliert wurde, erbauten Eltern, Schüler:innen und Kooperationspartner:innen spielerisch in gemischten Teams ihre Schule der Zukunft. Wir haben unsere gemeinsame Visionssuche mittlerweile institutionalisiert und in kontinuierliche Bahnen gelenkt – weil wir festgestellt haben, dass man Schulentwicklung längst nicht mehr für eine ganze Dekade betreiben kann. Die Welt rund um die Schule verändert sich einfach viel zu schnell.
Inwiefern kann der Navigator BD bei solchen Schulentwicklungsprozessen unterstützen?
Uns hat eine solche Publikation leider immer gefehlt, zum Glück gibt es sie heute. Zum ersten Mal wird mit dem Navigator BD anhand von Themenfeldern griffig, was eine zukunftsorientierte Schule braucht. Will eine Schule sich verändern und dabei die Praktiken der Kultur der Digitalität berücksichtigen, hat sie durch den Navigator BD klar identifizierte Themenfelder im Sinne von übergeordneten Indikatoren, anhand derer sie Schulentwicklung betreiben kann – von partizipativen Prozessen bis hin zu einer entgrenzenden Kultur.
Auch Sie selbst beschäftigen sich schon länger mit Indikatoren schulischer Transformationsprozesse und haben dazu im vergangenen Jahr einen wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlicht. Wie sind Sie in Ihrer Forschung vorgegangen?
Ich habe Lehrkräfte an sogenannten Best-Practice-Schulen befragt, was Transformation für sie bedeutet. In diesen Gruppendiskussionen ist ein spannender Diskurs entstanden. Darauf basierend habe ich sechs zentrale Indikatoren für schulische Transformationsprozesse identifizieren können, die diese Lehrkräfte als besonders relevant empfunden haben. Das sind Partizipation, Gemeinschaftlichkeit, ein verändertes Rollenverständnis, Entgrenzung, Kooperation und Beziehungsarbeit. Teile meiner wissenschaftlichen Arbeit sind auch in den Navigator BD eingeflossen.
»Wir haben unsere gemeinsame Visionssuche mittlerweile institutionalisiert und in kontinuierliche Bahnen gelenkt – weil wir festgestellt haben, dass man Schulentwicklung längst nicht mehr für eine ganze Dekade betreiben kann.«
Wie können sich Schulen, die erst am Anfang ihres Transformationsprozesses stehen, von den wissenschaftlich anmutenden Begriffen profitieren und ins Machen kommen?
Wenn eine Schule den Navigator BD liest, erscheint dieser erstmal wie ein Riesenberg mit vielen Begrifflichkeiten und Themenfeldern. Alles ist sehr komplex, weil alles miteinander zusammenhängt. Meine Empfehlung ist: Pickt euch ein oder zwei Themenfelder heraus, die ihr im kommenden Schuljahr beackern wollt. Wählt ein oder zwei davon aus, die ihr verstetigen wollt. Meine Erfahrung zeigt: Beginnt man an einer Stelle, ergibt sich vieles andere automatisch. Ein Beispiel: Partizipation fördert automatisch Gemeinschaftlichkeit.
Inwiefern liefert der Navigator BD Denkanstöße, um auch mit der Schulaufsicht oder dem Schulträger Reflexionsprozesse anzustoßen?
In jedem Fall kann der Navigator BD auch zum Austausch mit diesen Akteur:innen dienen. Schule zu entwickeln, hört nicht an der Schulgrenze auf, sondern umfasst auch Schulaufsicht und Schulträger. Indikatoren wie Entgrenzung oder Partizipation gelten aus meiner Sicht nicht nur für die einzelne Schule, sondern für das gesamte System. Die Frage ist aber, wie der Navigator BD dort ankommt, wo er gebraucht wird. Formate, die Schulaufsicht und Schulträger einbinden, sind in jedem Fall zu begrüßen. Viele kluge Papiere sind nie in die Umsetzung gekommen, weil sie ihre Zielgruppen nicht erreicht haben.
Der Navigator BD richtet ein besonderes Augenmerk auf Aspekte der Chancengerechtigkeit und des Digital Divide. Der Studie zufolge fehlt in Deutschland ein Gesamtkonzept dafür, wie man dem Digital Divide hierzulande begegnen sollte. Wie gehen Sie das Thema an Ihrer Schule an?
Wir haben das große Glück, dass an unserer Schule jedes Kind ein Tablet zur Verfügung hat, durch die Gelder aus dem DigitalPakt Schule und der Stadt Karlsruhe. Um nicht nur Ausstattungsfragen, sondern auch Themen wie Kreativität und Datenschutz-Sensibilität chancengerechter voranzubringen, setzen wir auf innovative Formate: In einer AG produzieren Schüler:innen Erklärvideos für andere Schüler:innen. Auch hier berücksichtigen wir die Indikatoren digitaler Transformation. Das reine Ersetzen analoger Prozesse durch digitale Prozesse führt aus meiner Sicht nicht zu mehr Chancengerechtigkeit.
Der Navigator BD hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Wo muss die Forschung oder auch die Bildungspraxis in Zukunft noch genauer hingucken?
Es fehlen Studien, die auf einem veränderten Praxisdesign basieren. Das benennt auch der Navigator BD sehr deutlich. Bisherige Forschung hatte nicht das Ziel, Praxis zu verändern und die Wirksamkeit von neuen Lösungen zu prüfen. Stattdessen wird vor allem gemessen, erhoben und benannt, woran es klemmt. Aus meiner Sicht bräuchten wir mehr Designed-Based Research, also die Beforschung und Evaluierung von veränderten Lernprozessen. Was mir außerdem als Schulleiter wichtig ist: Ich erlebe oft, dass für viele Lehrkräfte der Wissenschaftsbezug nach dem Studium weniger wird und irgendwann ganz aufhört. Das können wir uns aber nicht leisten. In jedem anderen hoch qualifizierten Beruf – und so sehe ich den Lehrberuf – muss man sich wissenschaftlich fundiert weiterbilden. Wir müssen uns daher auch in der Bildungspraxis intensiver mit Forschung beschäftigen. Der Navigator BD ist hierfür ein wichtiges Element.