Interview

Uta Hauck-Thum: „Wir haben nicht nur ein Umsetzungsproblem, sondern auch ein Erkenntnisproblem“

von Anja Reiter
mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum
veröffentlicht am 28.08.2024
Lesezeit: 5 Minuten

21 verschiedene Themenfelder identifizierte das wissenschaftliche Autor:innen-Team hinter dem Navigator BD auf Basis des aktuellen Diskurses über die digitale Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland – von Adaptivität bis Resilienz. Uta Hauck-Thum erklärt im Interview, wie das Team bei der Konzeptionierung vorgegangen ist.

Der Navigator Bildung Digitalisierung (Navigator BD) wirft erstmals einen thematisch systematisierten Gesamtblick auf den Stand der digitalen Transformation im schulischen Bildungsbereich in Deutschland. Er identifiziert ausgehend von drei strategischen Handlungsfeldern – Haltung zur Kultur der Digitalität, Digital-förderliche Rahmenbedingungen und Digital-didaktische Konzepte und Qualifizierung – 21 relevante Themenfelder, die als übergreifende Indikatoren dienen können, um den Stand der digitalen Transformation systemisch zu erfassen. Mit seinen konzeptionellen Ausarbeitungen und der Zusammenführung vorliegender Studienergebnisse entwirft der Navigator BD ein umfassendes Verständnis digitaler Transformation und skizziert entlang dieser Struktur aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungslücken. Daraus ergeben sich Orientierungsimpulse für zukünftige Entwicklungen und für ein systematisches Bildungsmonitoring der digitalen Transformation.

Der Navigator BD wurde auf Initiative des Forum Bildung Digitalisierung im Zeitraum Juni 2023 bis März 2024 von einem Wissenschaftler:innen-Team unter der Leitung von Prof. Dr. Birgit Eickelmann (Universität Paderborn) und der Ko-Leitung von Prof. Dr. Julia Gerick (Technische Universität Braunschweig) gemeinsam mit Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) erarbeitet.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Prof. Dr. Uta Hauck-Thum ist Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Aktuell leitet sie die BMBF-geförderten Projekte „Digitale Chancengerechtigkeit – Digitale Lehr- und Lernumgebungen im Lese- und Literaturunterricht zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit und Bildungsteilhabe in der Grundschule“, „BesserLesen. Mobile Anwendung zur kooperativen Leseförderung von Kindern durch KI-gestützte Spracherkennung und -überprüfung“ sowie „Poetische Bildung digital” als Teilprojekt des Projektverbunds „Di.S“ im lernen:digital Kompetenzzentrum Musik/Kunst/Sport. Zudem gehört sie dem wissenschaftlichen Beirat der BMBF-geförderten Projekte Schultransform und Kompetenzverbund lernen:digital an.

Für den Navigator BD haben Sie 21 verschiedene Themenfelder identifiziert – von Gemeinschaftlichkeit über Entgrenzung bis zu Adaptivität. Wie sind Sie bei der Festlegung der Themenfelder vorgegangen?

Zunächst haben wir auf Basis des aktuellen Diskurses in Theorie und Praxis relevante Themenfelder zusammengetragen. Ausgegangen sind wir von den drei strategischen Handlungsfeldern des Forum Bildung Digitalisierung. Um die Themenfelder einzugrenzen und zu schärfen, kam es zu wiederholten Diskussionsschleifen, sowohl innerhalb des Teams als auch mit Vertreter:innen aus der Praxis und aus den Mitgliedstiftungen des Forums. Die 21 Themenfelder im Sinne übergeordneter Indikatoren haben demnach keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dienen als Grundlage weiterer Aushandlungsprozesse, aus denen ein gemeinschaftliches, transformatives Bildungsverständnis erwachsen kann.

Welche Themenfelder wurden in der Vergangenheit bereits umfassend empirisch beleuchtet und wo gibt es noch „blinde Flecken“?

Gerade zu Aspekten der Ausstattung von Schulen oder zur Nutzung digitaler Medien durch Kinder und Jugendliche liegt eine umfangreiche Datenlage vor. Kaum Daten finden sich hingegen zu Potenzialen veränderter Lehr- und Lernprozesse unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität. Vielmehr wurde bislang in erster Linie untersucht, welche Effekte sich beim Umgang mit digitalen Medien im Rahmen herkömmlicher Settings beobachten lassen. Man erhebt leider gerne, was leicht zu erheben ist. Auch dem Thema Bildungsgerechtigkeit wurde innerhalb eines Großteils der Studien bislang zu wenig Beachtung geschenkt.

Welche Funktion erfüllen die Themenfelder, wenn es darum geht, ein gemeinsames Verständnis von Bildung in der digitalen Transformation abzuleiten?

Die Themenfelder sollen dazu beitragen, Reflexionsprozesse anzustoßen und die Akteur:innen auf unterschiedlichen Ebenen dabei zu unterstützen, ihren Beitrag zur Transformation des Bildungssystems zu leisten. Wenn Schulaufsicht, Schulträger, Schulleitung und Lehrkräfte den Blick nur auf die eigenen Bedarfe und Erfordernisse richten, können systematische Veränderungen nicht gelingen. Die Themenfelder sollen Denkanstöße geben, um ebenenübergreifend in den Austausch zu treten, sich zu vernetzen und gemeinsam eine Vision von Schule zu entwickeln, die auf dem Weg zur Veränderung handlungsleitend ist.

»Die Konzeptionierung soll bei einer ganzheitlichen Transformation unterstützen und den Beteiligten Orientierung geben, damit sie sich der Komplexität der Aufgabe bewusst werden und relevante Bereiche nicht vergessen.«

Uta Hauck-Thum

Inwiefern kann die vorliegende Konzeptionierung der digitalen Transformation als Diskussionsgrundlage für die schulische Praxis, die Bildungsverwaltung oder auch politische Entscheidungsträger:innen dienen?

Wir stehen vor komplexen Herausforderungen im Bildungsbereich. Forschungsergebnisse, wie beispielsweise die aktuelle IQB-Studie, verweisen auf einen drastischen Rückgang der Kompetenzwerte bereits von Viertklässler:innen in den Fächern Deutsch und Mathematik. Vor allem bei Kindern aus weniger privilegierten Familien zeigen sich auffallende Defizite, wobei die Kompetenzunterschiede zwischen benachteiligten und privilegierten Schüler:innen in den letzten vier Jahren massiv angestiegen sind. Die Reaktionen darauf laufen aus meiner Sicht jedoch derzeit in die falsche Richtung. Man sucht nach Lösungen und verlangt nach Förderprogrammen, die schnelle Erfolge versprechen. Die tatsächlichen Bedarfe der Kinder geraten dabei aus dem Blick. Erfolge können sich nur dann einstellen, wenn wir endlich aufhören, Probleme an der Oberfläche anzugehen. Was jetzt nötig ist, sind grundlegende Veränderungen im Bildungssystem, die umfassend und akteursgruppenübergreifend erfolgen müssen. Die Konzeptionierung soll bei einer ganzheitlichen Transformation unterstützen und den Beteiligten Orientierung geben, damit sie sich der Komplexität der Aufgabe bewusst werden und relevante Bereiche nicht vergessen.

Welche Erkenntnis aus dem Navigator BD verdient aus Ihrer Sicht besondere Aufmerksamkeit?

Besondere Aufmerksamkeit verdient aus meiner Sicht die Tatsache, dass wir eben doch nicht nur ein Umsetzungsproblem, sondern auch ein Erkenntnisproblem in Deutschland haben. Bei der Ausrichtung zukünftiger Studien sollte die konsequente Verzahnung der Bildungsforschung mit der Bildungspraxis stärker mitgedacht werden, um einen evidenzbasierten Fortschritt im Bildungssystem zu ermöglichen. Dafür müssen Schulen und Bildungsforscher:innen dauerhaft und projektübergreifend zusammenarbeiten, um die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schließen und die Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam zu verbessern.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

https://anjareiter.com/