Interview

Veronika Schönstein: „Verwaltung muss Mut zum Loslassen haben“

von Anja Reiter
mit Dieter Dohmen und Veronika Schönstein
veröffentlicht am 03.12.2022
Lesezeit: 9 Minuten

Wie sollte unser Bildungssystem organisiert sein, um den Veränderungsprozessen der digitalen Transformation gerecht zu werden? Der Unternehmer und Forscher Dieter Dohmen im Interview mit der Organisationsberaterin Veronika Schönstein – über die passgenauen Rahmenbedingungen für ein stabiles und zugleich innovatives Schulsystem.

Wenn es um Veränderungsprozesse in der Kultur der Digitalität geht, dürfen Schulleitungen nicht ohne Schulträger und Schulaufsicht gedacht werden. Wie kann dieses Dreieck noch besser verzahnt werden – und welche Akteure können dabei unterstützen? Darüber sprach Dieter Dohmen, Gründer und Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie, in seiner Keynote „Lernen im und für das 21. Jahrhundert“ auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2022. Im Rahmen des Schwerpunkt-Themas „Rahmenbedingungen“ skizzierte er seinen Vorschlag für eine Neuausrichtung der Verzahnung der unterschiedlichen Akteure.

Bei der anschließenden Panel-Diskussion debattierte Dieter Dohmen mit Christine Wolfer von der Stadt Jena und Veronika Schönstein über die Beratung und Begleitung von Schulen in der regionalen Kooperation. Die Organisationsberaterin Veronika Schönstein machte in ihrem Statement unter anderem die Rolle von Kollaboration, Mindset-Wandel und Vertrauen bei allen Akteuren stark, damit ein positiver Wandel im Bildungssystem gelingen kann. In welchem Verhältnis die gesellschaftliche Transformation zur Transformation in Schule und Verwaltung steht – darum geht es auch im Doppel-Interview mit Dieter Dohmen und Veronika Schönstein.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Dieter Dohmen ist Gründer und Direktor des FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. Der Unternehmer, Forscher, Berater, Analyst und Visionär studierte Sport, Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. An der Technischen Universität Berlin promovierte er zum Thema „Ausbildungskosten, Ausbildungsförderung und Familienlastenausgleich – eine ökonomische Analyse unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen“.

Herr Dohmen, wie muss das Standbein des Bildungssystems ausgestaltet sein, damit das Spielbein von Schulen spielerisch, experimentell und innovativ eingesetzt werden kann?

Dieter Dohmen: Ein zentrales Momentum ist das Zusammenspiel von Schulleitung, Schulträger und Land. Hier muss einiges passieren, damit Veränderung geschehen kann! An vielen Stellen fühlen sich Schulen durch Schulträger und Kultusministerium eher behindert als unterstützt. Das hat mit latent dysfunktionalen Strukturen zu tun: Bildungspolitik ist nach Wählerwillen und potenziellen Zukunftserfolgen ausgerichtet und bedient sich immer wieder Narrativen, die dem Bildungssystem nicht unbedingt förderlich sind. Die Ministerien und Kommunalverwaltungen funktionieren wiederum nach einer Verwaltungslogik – und betrachten die Schule als eine nachgeordnete Behörde. Das ist aus der Perspektive der jeweils Handelnden vollkommen rational, führt aber dazu, dass wir in der Schule sehr langsam vorankommen.

Was muss sich verändern, damit die Verwaltung spielerischer wird?

Dieter Dohmen: Wir brauchen ein verändertes Mindset in der Verwaltung – und wir brauchen veränderte Zuständigkeiten bei der Entscheidungsfindung. All das, was mit pädagogischen Prozessen zu tun hat, muss in die Verantwortung der Schule wandern und dort durch die Schulleitung und deren Teams umgesetzt werden. Damit will ich die Kultusministerien keinesfalls aus der Verantwortung ziehen, sondern den Schulen mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Zur Person

Veronika Schönstein hat 20 Jahre als Lehrerin gearbeitet und war von 2014 bis 2019 Schulrätin im Regierunsgbezirk Freiburg. Sie hat das Modellprojekt “Aufbau von Bildungsregionen in Baden-Württemberg” verantwortet, außerdem leitete sie das BMBF-Projekt “Lernen vor Ort” in Freiburg/Breisgau. Heute fungiert Veronika Schönstein als Organisationsberaterin für Schulen, Schulaufsichten und Kommunen bei Designed Education.

Frau Schönstein, wie spielerisch erleben Sie Schulen aktuell – oder hüpfen die meisten auf einem Bein durch das Schuljahr?

Veronika Schönstein: Das spielerische Moment ist in Zeiten, die von sich überlagernden Krisen geprägt sind, so eine Sache. Ich glaube, ohne zu improvisieren, geht es gar nicht im Moment und manche tun sich mit dem Improvisieren leichter als andere. Wenn ich in Schulen blicke, erlebe ich eine starke Heterogenität. Viele Schulen sind viel weiter als es die Verwaltung erkennt und teilweise anerkennt. Unterschiede gibt es auch zwischen kommunalen Verwaltungen und landesseitigen Verwaltungen: Ich habe erlebt, dass in Kommunen die Prozesse schneller ablaufen. Sie sind aufgrund ihrer Struktur in einer anderen Taktung und viel näher an den Kindern und Jugendlichen dran. Landesseitig ist die Verwaltung ziemlich weit weg von ihnen. Auch wenn die meisten Menschen nach bestem Wissen und Gewissen handeln: Das Knirschen, das wir aktuell um uns herum wahrnehmen, hat mit unseren verwaltungsinternen Abläufen zu tun. Hier muss etwas geschehen.

Herr Dohmen, auf der Website des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie schreiben Sie, dass es große Chancen gebe, wenn „Lern- und Bildungssysteme intelligent durchdacht, ausreichend finanziert und konsequent realisiert werden.“ An welchem Baustein hakt es aktuell besonders: der Vision, der Finanzierung oder der Realisierung?

Dieter Dohmen: Kommunen haben große Restriktionen, wenn es um die Finanzierung von Baumaßnahen und Ausstattung geht. Schulbau und Ausstattung ist in einem gewissen Umfang zwar eine gesetzliche Aufgabe, die Qualität der Ausstattung ist aber nicht gesetzlich vorgeschrieben. Das bedeutet: Manche Schulen sind schlecht ausgestattet, oft weil die Kommune leere Kassen hat. Wenn Kommunen unter Haushaltssicherung stehen, dürfen sie sich oft nicht um eine Ausstattungsangelegenheit kümmern, weil die konkrete Ausstattung nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Wir müssen die Kommunen aber in die Lage versetzen, Schulen bestmöglich auszustatten! Dazu brauchen wir Ausstattungsstandards, die gesetzlich festgelegt sind. Außerdem gibt es in weiten Teilen der Bildungspolitik, insbesondere in den Ministerien, noch ein sehr altes Bild von Bildung: Man versteht nicht, dass Kinder und Jugendliche nicht nur in der Schule lernen, sondern 24 Stunden am Tag. Wir müssen ihre Motivation aufgreifen: Ein fußballbegeistertes Kind wird mit Freude herauskriegen wollen, welche Kurve ein Ball fliegt, wenn es den Ball anders antritt. Und wenn ich das in eine mathematische Aufgabe übertrage, wird es diese vielleicht mit einer größeren Begeisterung lösen, als wenn ich eine ähnliche Aufgabe stelle, dem Kind aber nicht klar ist, was diese Aufgabe mit seinem Leben zu tun hat. Hier müssen wir ansetzen. Dazu müssen wir Lehrkräften mehr Vertrauen schenken, wie sie definierte Lernstandards erreichen. Wir müssen weg von der Misstrauenskultur und den Lehrkräften mehr vertrauen, ihren Unterricht gut umzusetzen.

Frau Schönstein, Vertrauen und Misstrauen sind Themen, mit denen auch Sie in Ihrem Beratungsalltag viel zu tun haben. Wie lässt sich das Mindset in der Kommune dahingehend ändern, dass es mehr Vertrauen zwischen den Akteuren gibt?

Veronika Schönstein: Eine zentrale, vertrauensbildende Maßnahme ist der echte Dialog. Oft reden wir aber miteinander, ohne miteinander zu reden. Das ist kein Wunder: In einer Organisation, die ein Jahrhundert lang hierarchisch geprägt war, geht es nicht um Vertrauen, sondern um Anweisung und Vollzug. Vollzug lässt sich abhaken, nachvollziehen und kontrollieren. In einer sich wandelnden Welt stellt sich die Frage: Wie gehe ich mit Kontrollverlust um? In meiner Zeit als Schulaufsicht habe ich hier sehr viele konstruktive Beispiele erleben dürfen, gerade wenn es um Ausstattung und Erweiterung von Schulen ging. In dem Moment, in dem die kommunale Seite mit der pädagogischen Seite in den Dialog getreten ist, ist das pädagogische Anliegen auf kommunaler Seite verstanden und nachvollziehbar geworden. Zugleich wurden die Begrenzungen einer Kommune von der Schule gehört und nachvollzogen. In diesem Moment geschieht Vertrauen. Neben Vertrauen ist Mut ein wichtiges Stichwort: Ich sehe, dass wir sehr mutige Schulleitungen haben. Dieser Mut muss auch in der Verwaltung korrespondieren. Verwaltung muss den Mut haben, Dinge loszulassen und Kontrolle abzugeben.

»Ich sehe, dass wir sehr mutige Schulleitungen haben. Dieser Mut muss auch in der Verwaltung korrespondieren.«

Veronika Schönstein

Spüren Sie einen solchen Mut in der Verwaltung, den Schulen und in den Ministerien, Herr Dohmen?

Dieter Dohmen: Wir haben Schulleitungen, die extrem mutig sind, die mit ihren Teams und Lehrkräften Veränderungen vorantreiben – im Zweifel gegen jeden Widerstand. In unserer Schulleitungs-Studie haben sieben Prozent der befragten Schulleitungen klipp und klar gesagt: Ich weiß, dass meine Verwaltung nicht gutheißt, was ich tue – ich tue es trotzdem. Die Welt verändert sich, ohne uns zu fragen, in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Doch die öffentliche Verwaltung hechelt oft im Schneckentempo hinterher. So viel Veränderung wird verhindert, weil die Verwaltung ihren Strukturen so festgefahren ist bzw. wir viel zu viele Regelungen haben, die uns in unserer Weiterentwicklung behindern. Hier brauchen wir ein anders Mindset, eine andere Fehlerkultur.

Braucht es in einer sich so schnell verändernden Welt nicht auch ein gewisses Maß an Sicherheit und Verlässlichkeit? Wie stabil müssen die Rahmenbedingungen unseres Bildungssystems sein?

Veronika Schönstein: Wenn ich mir vorstelle, dass es gar keine Stabilität gäbe, dann hätten wir vermutlich sehr viel Chaos. Es braucht eine gewisse Stabilität. Ich will nicht täglich diskutieren, ob ein roter Bleistift besser schreibt als ein blauer Bleistift. Auf ein paar Dinge muss ich mich verlassen können, etwa, dass meine Schule bis zu einem gewissen Grad versorgt wird, auch in Zeiten des Lehrkräftemangels. Ebenso wichtig ist entgegengebrachtes Vertrauen in die Arbeit der verschiedenen Akteure vor Ort – auch wenn man selbst es vielleicht anders machen würde. Auch ein paar Orientierungspunkte müssen deutlicher kommuniziert werden. Je mehr in Bewegung gerät, desto wichtiger ist der Zielpunkt, auf den wir hinsteuern. Und desto wichtiger ist es, dass auf allen Ebenen klar ist, worum geht es uns: nämlich um das Lernen, für und im 21. Jahrhundert. Und darüber brauchen wir mehr Verständigung bzw. vor Ort einen intensiven Diskurs, der gut gestaltet wird. Damit alle an einem Strang ziehen können, weil sie die Vorstellung vom Lernen für und im 21. Jahrhundert miteinander teilen.

Damit wären wir auch wieder bei unserem Anfangsbild vom Stand- und Spielbein. Herr Dohmen, wie viel Standbein braucht das Bildungssystem?

Dieter Dohmen: Als Kind brauche ich eine stabile Beziehung zu meinen Eltern. Ich muss Vertrauen haben, dass meine Eltern zu mir stehen, egal welchen Bockmist ich baue. Nur wenn ich in meiner Individualität akzeptiert werde, kann ich mich entfalten. Als Lehrkraft oder Schulleitung brauche ich stabile Vertrauensbeziehungen zu Schulträger und Schulaufsicht. In der Praxis sind Schulen leider oft auf Kante genäht – und es wird von entscheidender Stelle keine Verantwortung für ihre Handeln übernommen, selbst in Zeiten des Lehrkräftemangels. Stattdessen werden die Messlatten immer höher gehängt. Das führt zu Frust, stabile Beziehungen werden unterminiert. Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen aus dem System verabschieden.

»Das System Schule und die dort Handelnden müssen das Gefühl haben, dass Politik und Verwaltung zu ihnen stehen und sie unterstützen.«

Dieter Dohmen

Was muss sich also ändern, damit Stand- und Spielbein wieder im Einklang sind?

Dieter Dohmen: Das System Schule und die dort Handelnden müssen das Gefühl haben, dass Politik und Verwaltung zu ihnen stehen und sie unterstützen. Nur wer Vertrauen fühlt, probiert sich aus. Nur wenn ich weiß, dass mein Trainer mir einen Fehlpass verzeiht, riskiere ich etwas. Nur wenn wir das alte, preußische Denken verabschieden, können wir uns im Zweifelsfall auch auf einem wackeligen Standbein ausprobieren.

Veronika Schönstein: Das ist aus meiner Sicht eine schöne Weiterentwicklung des Begriffs Stabilität: Stabil nicht als starres Regelwerk zu definieren, sondern zu sagen: Stabilität ruht auf Vertrauen. Und dem Wissen darum, dass man nicht immer weiß, wie man aus einem Gespräch hinausgeht – und dennoch darauf vertraut, dass etwas Gutes daraus entsteht.

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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