Interview
Veronika Schönstein: „Wir dürfen nicht zu stabil denken, sonst würde sich nichts mehr bewegen“
von
mit Veronika Schönstein
veröffentlicht am 01.06.2022
Lesezeit: 9 Minuten
Digitale Schulentwicklung kann nur gelingen, wenn Schulen, Schulträger und Schulaufsichten Hand in Hand zusammenarbeiten. Wie kann ein verständnisvoller Austausch trotz unterschiedlicher Kulturen erreicht werden? Ein Gespräch mit Veronika Schönstein, Organisationsberaterin bei Designed Education.
Die ehemalige Lehrerin und Schulrätin Veronika Schönstein hilft Kommunen dabei, digitale Schulentwicklung voranzutreiben – durch die fruchtbare Vernetzung aller relevanten Bildungsakteure in der Region. Im LabBD, einem bundesweiten Dialog- und Experimentierforum des Forum Bildung Digitalisierung, fungiert die Organisationsberaterin als Moderatorin. In diesem Rahmen gibt sie Impulse, um den gegenseitigen Austausch zwischen Schulen, Schulträgern und Schulaufsichten zu stärken und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu fördern.
Im Interview erklärt Veronika Schönstein, wie ein sinnstiftender Dialog zwischen den Stakeholdern gelingen kann – und wie sie bei ihrer Arbeit als Organisationsberaterin von ihrer eigenen Berufsbiografie profitiert.

Zur Person
Veronika Schönstein hat 20 Jahre als Lehrerin gearbeitet und war von 2014 bis 2019 Schulrätin im Regierungsbezirk Freiburg. Sie hat das Modellprojekt „Aufbau von Bildungsregionen in Baden-Württemberg” verantwortet, außerdem leitete sie das BMBF-Projekt „Lernen vor Ort“ in Freiburg im Breisgau. Heute fungiert Veronika Schönstein als Organisationsberaterin für Schulen, Schulaufsichten und Kommunen bei Designed Education. Sie hat Qualifikationen im Systemischen Coaching und der Organisationsentwicklung.
Frau Schönstein, als Organisationsberaterin bei Designed Education beraten und begleiten Sie Kommunen beim Aufbau von Bildungsmanagement-Strukturen. Vor welchen Herausforderungen stehen Schulen, Schulträger und Schulaufsichten, wenn sie gemeinsam digitale Schulentwicklung voranbringen wollen?
Die Herausforderungen sind ganz unterschiedlicher Natur. Erstens muss die Form der Ausstattung mit der gelebten Pädagogik einer Schule kompatibel sein. Das klingt einfacher als es ist. Zwar versuchen die Schulträger mit viel Energie die Ausstattung zügig voranzubringen, doch nicht immer ist die Kommunalverwaltung mit den pädagogischen Prozessen vertraut. Um hier Verständnis herzustellen, ist viel Kommunikation notwendig. Herausfordernd ist auch, dass wir alle nur ein ungefähres Bild von der Schule von morgen haben. Will man eine Schule ausstatten, müssen die unterschiedlichen Stakeholder sich immer wieder über ihre Vision – das Zukunftsbild ihrer Schule – verständigen.
Aus Ihrer eigenen Berufsbiografie kennen Sie die unterschiedlichen Perspektiven von Schule, Schulträger und Schulaufsichten. Inwiefern profitieren Sie davon?
Nach meiner Tätigkeit als Lehrerin habe ich einige Zeit als Projektleitung in einem Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und des Kultusministeriums Baden-Württemberg Strukturen von Bildungsnetzwerken, Bildungslandschaften und Bildungsbüros aufgebaut. Dann kam der Wechsel zur Kommunalverwaltung. Meine letzten Berufsjahre habe ich in der Schulaufsicht verbracht. Für die Beratung sind diese Erfahrungen ein großer Vorteil. Wenn ich in Runden Tischen im Gespräch bin, kann ich diese drei Perspektiven besser verstehen und schneller miteinander verbinden. Wer sich ehrlich und ernsthaft für die Prozesse in den anderen Häusern interessiert, kann auch sein Verständnis auch durch den Austausch mit anderen Menschen sehr stark erweitern.
Welche Unterschiede gibt es in Schulen, in der Verwaltung und in der Schulaufsicht?
Jedes Haus folgt anderen Regeln, das fängt beim Kalender an: Das Haushaltsjahr von Kommunen beginnt mit dem 1. Januar und endet mit dem 31. Dezember; Haushaltsverhandlungen finden in der Regel in Zweijahresrhythmen statt. Das Schuljahr beginnt im August oder September und endet im Juni oder Juli. Werden Haushaltsmittel verhandelt, müssen diese unterschiedlichen Kalender mitgedacht werden. In der Schule geht es außerdem vor allem um pädagogische Fragen des Lehrens und Lernens, in der landesseitigen Verwaltung geht es um den gesetzlichen Rahmen mit seinen diversen Verwaltungsvorschriften. Die Möglichkeitsräume einer Schule sind nicht immer kompatibel mit den Möglichkeitsräumen einer Kommune. Diese zu synchronisieren, wäre ein zu hoher Anspruch. Wichtig ist aber, dass es innerhalb eines Kalender- und Schuljahres immer wieder Knotenpunkte gibt, an denen man sich austauscht – mit dem gemeinsamen Ziel vor Augen.
»Erstens muss die Form der Ausstattung mit der gelebten Pädagogik einer Schule kompatibel sein.«
Wie kann ein sinnstiftender Dialog zwischen den Stakeholdern gelingen?
Zuallererst müssen die verschiedenen Bildungsakteure sich daran erinnern, wofür sie all die Energie und all die Zeit zum Kommunizieren aufbringen: für die Zukunft ihrer Kinder. Ein Kind wird in eine Kommune oder Region hineingeboren. Jede Kommune hat Interesse daran, gut ausgebildete junge Menschen in der Region leben zu haben. Jede Bildungsstätte hat ein Interesse daran, ihre Schüler:innen bestmöglich ins Erwachsenenleben zu begleiten. Gute, passgenaue und digitale Unterstützungsangebote bereitzustellen – von der Kita über die Schulzeit bis zum Eintreten ins Berufsleben – das kann weder die eine noch die andere Seite allein tun.
Nehmen Sie in der Beratung wahr, dass zu wenig von der Perspektive des Kindes her gedacht wird?
Wir alle entfernen uns im Alltag immer wieder von der Perspektive des Kindes. Wir fragen uns im Alltag zu selten, was das einzelne Kind braucht, um gesund und wohlbehalten aufzuwachsen. Meine Erfahrung ist aber: Steht ein kräftiges Zukunftsbild im Raum, kann es gelingen, sich auf diesen Kern zurückzubesinnen. Dafür müssen sich alle Akteure fragen: Wie sollen sich die jungen Menschen verhalten, wenn sie später unsere Gesellschaft im Sinne des Gemeinwohls gestalten sollen? Welche Kompetenzen benötigen sie, wenn sie im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich oder im Mobilitätssektor arbeiten? Was hilft ihnen, ein gesundes Leben zu führen? Das müssen die verschiedenen Akteure gemeinsam beschreiben. Erst danach kommt die Frage: Wie müssen wir die Prozesse aufsetzen, um den Kompetenzrucksack zu füllen? Und wer kann welchen Part übernehmen?
An erster Stelle in der Beratung steht also eine Art Visionsbildung. Was folgt danach?
Wir folgen in der Beratung zwar einer groben Linie, aber niemals einem einheitlichen Rezept. Wenn es in einer Region bereits ein starkes Zukunftsbild gibt, überlegen wir gemeinsam, welche größeren Projekte und Vorhaben auf dieses Zukunftsbild hinführen. Häufig gibt es in der Region bereits Institutionen, die im Rahmen von tollen Projekten an ähnlichen Themen arbeiten. Kommune und Schule wissen aber oft gar nichts davon. Ziel ist es, dort anzudocken und dann gemeinsam zu schauen, was noch fehlt. Hier haben sich die sogenannten Runden Tische bewährt. Wir haben außerdem festgestellt, dass es sich lohnt, Kreativverfahren einzusetzen. Beim LabBD, einer Veranstaltungsreihe für Schulen, Schulträger und Schulaufsichten des Forum Bildung Digitalisierung, haben wir mit dem Design-Thinking-Prozess gearbeitet.
»Die Teilnehmenden müssen die Frage hinter der Frage finden, um Lösungen zu produzieren.«
Was sind die Vorteile des Design-Thinking-Ansatzes?
Der Gedanke dahinter ist: Die Intuition und das Erfahrungswissen von Menschen steckt nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen, manchmal auch im Bauch. Mit Hilfe des Design-Thinking-Ansatzes kann man an die unterschiedlichen Erfahrungs- und Empfindungsebenen herankommen und sie zusammentragen. In der ersten Großphase geht es darum, die identifizierten Probleme aus verschiedenen Perspektiven phänomenologisch zu betrachten, so urteils- und wertfrei wie möglich. Dieser Prozess soll zum vertieften Verstehen führen. In unserer Gruppe ist es vielen Teilnehmenden gelungen, mit Hilfe dieses Prozesses einen neuen Blick auf ihre Fragestellung zu werfen. Sie haben plötzlich gespürt, dass sie erst die Frage hinter der Frage finden müssen, um Lösungen zu produzieren.
Können Sie ein Beispiel für eine Frage hinter der Frage geben?
Anstatt zu fragen, welche technischen Tools eine Schule braucht, kann man auch fragen: Wie sieht die Ausstattung einer Schule aus, die ein zukunftsfähiges Lernsetting oder -arrangement fördert? Die Frage hinter der Frage wäre dann: Wie kommen wir zu einer Haltung, einem Mindset der am Schulleben Beteiligten, die von Kreativität, Mut, Offenheit und Vertrauen geprägt ist? Das sind fundamental andere Fragen und dazu müssen viele vertrauensvolle Kommunikationsprozesse laufen.
»Wenn es um das Gelingen von Transformationsprozessen geht, kommt der Schulaufsicht große Bedeutung zu.«
Wir haben bislang vor allem über Schulen und Schulträger gesprochen. Welche Rolle spielt die Schulaufsicht bei der digitalen Schulentwicklung – und wie könnte sie sich noch mehr einbringen?
Wenn es um das Gelingen von Transformationsprozessen geht, kommt der Schulaufsicht große Bedeutung zu. Sie steht zwischen dem, was wirtschaftlich und rechtlich erlaubt ist – und dem, was wir hinter uns lassen und neu gestalten wollen. An vielen Orten ringt die Schulaufsicht bereits darum, innerhalb dieses Rahmens Möglichkeitsräume für Schulen zu schaffen. Sie kann eine ganz große Hilfe für Schulen und Kommunen sein – immer dann, wenn sie frühzeitig auf die wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen aufmerksam macht. Sie kann darauf hinweisen, aus welchem Topf eine gemeinsame Fortbildung finanziert werden kann oder wie eine Finanzierungsquelle gemeinschaftlich verfügbar gemacht werden kann. Sie kann Übersetzungsarbeit leisten zwischen dem System der Kommunalverwaltung und dem System der Landesverwaltung. Die Schulaufsicht muss die Ränder des Möglichkeitsraumes im Blick behalten.
Die Beratung ist nur ein erster Schritt. Wie verstetigt man ein gegenseitiges Verständnis der unterschiedlichen Stakeholder und schafft damit nachhaltige Veränderung?
In den verschiedenen Häusern muss es Menschen geben, die sich um das regelmäßige Zusammenkommen kümmern und die Treffen einfordern und gestalten. Eine Seite stellt vielleicht den Raum zur Verfügung, die zweite weiß, wer die Expertise liefern kann, die gerade gebraucht wird, die nächste hat das leibliche Wohl im Blick, das ja nicht unbedeutend ist, die nächste ist gut im Moderieren.. Nur wenn es überall Kümmer:innen gibt, kann das Verständnis verstetigt werden. Kurze Wege und schlanke Abstimmungsprozesse funktionieren überall dort, wo Vertrauen und Routine in der Verständigung herrschen und man sich aufeinander verlassen kann. Außerdem lohnt es sich immer, über den Tellerrand zu blicken und von anderen Bildungsregionen zu lernen.
Wie eingangs angemerkt, haben Sie während ihrer beruflichen Karriere viele unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Welche Station hat bei Ihnen für ein besseres Verständnis gesorgt?
Als ich die Leitung des BMBF-Projekts „Lernen vor Ort“ in Freiburg im Breisgau übernommen habe, dachte ich, ich hätte Ahnung von Kommunalverwaltung. Schnell begriff ich, dass dem nicht so war. Ich sollte in den Ratssitzungen Inhalte liefern, doch mein Innovationsprojekt lief nicht nach einem Sitzungsplan. Das war für mich ein großer Lernprozess, der viel Übersetzungsarbeit gekostet hat. Ich habe gelernt: Wir können nicht überall zu hundert Prozent in Innovationsprozessen unterwegs sein. Verwaltung beruht zu einem großen Teil auf Stabilität, die Sicherheit gibt. Gleichzeitig dürfen wir nicht nur stabil denken, sonst würde sich nichts mehr bewegen.