Gastbeitrag

Weltweite Reformstrategien für Schule in der digitalen Welt

von Julia Hense
veröffentlicht am 26.11.2019
Lesezeit: 6 Minuten

Überall auf der Welt wird über Chancen und Herausforderungen des digitalen Lernens diskutiert. Jedes Land hat eigene Strategien entwickelt, um seine Schulen fit für die digitale Welt zu machen und digitales Lernen bestmöglich einzusetzen. Im Auftrag des Forum Bildung Digitalisierung hat das mmb Institut fünf Länder genauer angeschaut und deren Reformstrategien analysiert. Einige Ansätze sind auch für Deutschland spannend.

Es bewegt sich was in Sachen digitales Lernen in Deutschland. Mit dem Digitalpakt ist ein wichtiger Schritt getan, um Schulen die Möglichkeit zu geben, digitales Lernen breit einzusetzen. Das reicht allerdings noch lange nicht. Die Ausstattung mit WLAN und technischen Geräten kann gerade einmal ein erster Schritt sein. Die eigentlich spannende Phase beginnt danach, wenn es darum geht, was genau mit der Technik wie für wen und mit welchem Zweck erreicht werden soll. 

Viele Länder sind Deutschland in Sachen Digitalisierung, auch und gerade beim Lernen, weit voraus. Wir haben uns fünf Länder angeschaut und betrachtet, welche Wege sie eingeschlagen haben, welche Reformstrategien sie gewählt haben, um digitales Lernen in den Schulen zu verankern. Die Wahl fiel dabei sowohl auf Länder, die durch herausragende Leistungen ihres Bildungssystems auffallen, als auch auf Länder, die aktuell mit bildungspolitischen Herausforderungen zu kämpfen haben und digitale Medien einsetzen, um diesen Herausforderungen zu begegnen – unabhängig davon, ob diese Herausforderungen denen in Deutschland ähneln. Im Fokus stand vor allem die Art und Weise, mit herausfordernden Reformanlässen umzugehen.

Im Fokus: Politikentwicklung, Netzwerkentwicklung, Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung

Die Wahl fiel auf die Länder Estland und Singapur, die für die hervorragenden Leistungen ihrer Bildungssysteme bekannt sind, und auf Tschechien, Spanien und Brasilien, die an unterschiedlichen Punkten mit Blick auf digitales Lernen und generelle Herausforderungen in Sachen Bildungssystem stehen, aber sehr bemüht sind, diesen Herausforderungen zu begegnen. Anhand von vier Indikatoren – Politikentwicklung, Netzwerkentwicklung, Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung – haben wir uns die Reformstrategien dieser Länder genauer angesehen.

Die Ansätze, die wir dabei fanden, sind vielfältig. Estland etwa setzt vor allem auf Schul- und Unterrichtsentwicklung. Das Land hat hier ganzheitliche und umfängliche Konzepte erarbeitet, die flächendeckend umgesetzt werden. So gibt es z.B. in Estland das Tool „Digipeegel“, mit dem Schulen im Sinne eines Selbst-Assessments feststellen können, wo sie in ihrer Entwicklung hin zum digitalen Lernen stehen. Es gibt seinen User:innen Empfehlungen für die nächsten Entwicklungsschritte an die Hand und jede Menge Tools, Checklisten und Materialien. Estland hat eine ganze Reihe von Initiativen ins Leben gerufen, die konkrete Herausforderungen beim digitalen Lernen lösen. So gibt es z. B. eine Plattform für Lernmaterialien, die einheitlich sortiert sind, was das Auffinden der passenden Lernressourcen je nach Fach und Aufgabe erleichtert. Es gibt eine zentrale digitale Infrastruktur für die Schulverwaltung und zusätzlich Fortbildungsangebote für Schulleitungen und Lehrkräfte. 

Spanien arbeitet derzeit viel mit Gesetzen und Referenzrahmen. Ein umfangreiches Gesetz setzt mit verschiedenen Hebeln an, um die Bildungsqualität zu verbessern. Beispielsweise existiert ein Referenzrahmen für digitale Kompetenzen, den Lehrkräfte künftig haben sollen. Fortbildungsangebote sollen sicherstellen, dass diese Kompetenzen auch erworben werden können. Zusätzlich gibt es ein Toolkit, mit dem Lehrkräfte arbeiten können, um ihre digitalen Fähigkeiten selbstständig und eigenverantwortlich zu verbessern.

 ICT-Koordinierende entlasten Schulleitungen in Tschechien

Tschechien setzt auf eine ganzheitliche Schulentwicklung, die auf der Gesamtstrategie für digitale Bildung beruht. Die Maßnahmen zur Umsetzung sind breit angelegt. So gibt es nicht nur einen regelmäßigen Wettbewerb für Schulwebseiten, sondern auch einen Wettbewerb für digitale Lernmedien. Lehrkräfte können ihre selbst erstellten digitalen Lernmaterialien und die dazugehörigen Unterrichtsentwürfe einreichen. Die besten Einreichungen werden ausgezeichnet und über ein Lernportal allen Lehrkräften in Tschechien zur Verfügung gestellt. Ein besonderer Ansatz in Tschechien sind die ICT-Koordinierenden, die als Schnittstelle zwischen technischem Support und Lehrenden fungieren. Sie übernehmen die Abstimmung mit den Lehrenden im Hinblick auf Technikeinsatz, unterstützen bei der Medienentwicklungsplanung, helfen beim Einsatz neuer digitaler Medien und entwickeln mit den Lehrenden gemeinsam Ansätze für deren Einsatz in den Unterricht. 

Singapur beeindruckt durch seine langjährige Erfahrung mit digitalem Lernen. Mit seinen ICT-Masterplänen hat Singapur eine bildungspolitische Strategie geschaffen, die auf eine langfristige Entwicklung ausgelegt ist. Während es in den ersten Jahren, in den 1990ern, darum ging, zunächst die technische Infrastruktur aufzubauen, stand im nächsten Schritt der Umgang mit der Technik im Vordergrund, also der Kompetenzaufbau. Darauf aufbauend wurden kollaboratives und selbstgesteuertes Lernen mit digitalen Medien gefördert, sodass heute kreative und innovative Lernansätze im Vordergrund stehen. 

Brasilien hat mit umfänglichen Reformerfordernissen und großen Herausforderungen im Bildungssektor zu kämpfen. Entsprechend wurden in den letzten Jahren auch breit angelegte Reformpakete entwickelt und ambitionierte Ziele angesteuert. Im Rahmen des digitalen Lernens setzt Brasilien beispielsweise auf ein Programm zur technischen Ausstattung von Schulen, basierend auf dem tatsächlich bestehenden Bedarf – ein Ansatz, der für die vielen ländlichen Regionen in Brasilien wichtig ist. Bemerkenswert ist auch, dass Brasilien als Flächenland – mit hoher Autonomie der Bundesstaaten – dennoch den Weg gewählt hat, in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess strategische Leitlinien zu entwickeln, die für alle Bundesstaaten gelten und in regelmäßigen dialogischen Prozessen, die zwischen Bundesstaaten und brasilianischer Nationalregierung stattfinden, immer wieder betrachtet und angepasst werden.

Sieben Handlungsempfehlungen für Deutschland

Deutschland kann von all diesen Ansätzen lernen. Nicht alles lässt sich per se übertragen, das wäre auch kaum sinnvoll. Aber viele Ideen und Ansätze sind auch für Deutschland denkenswert. So wäre etwa ein gemeinsamer strategischer Rahmenplan von Bund und Ländern hilfreich. Hier könnten Eckpunkte für gemeinsame Entwicklungsschritte im Hinblick auf digitales Lernen festgehalten werden. Ein Vorbild dafür können die ICT-Masterpläne von Singapur sein. Und ähnlich wie in Brasilien könnten die Inhalte und Vorgehensweisen in regelmäßigen Abständen zwischen Bund und Ländern diskutiert und angepasst werden.

Auch das tschechische Modell der ICT-Koordinierenden bietet Potenziale für Deutschland. Hiermit lässt sich eine dringend benötigte Personalkategorie schaffen, die zwischen IT-Support und Lehrenden vermittelt und maßgeblich an der Planung des Medieneinsatzes und der Fortbildung der Lehrenden beteiligt ist. Maker Spaces würden an Schulen zusätzliche Einsatzmöglichkeiten für neue Lehr- und Lernansätze bieten, projektorientierten, fächerübergreifenden Unterricht leichter ermöglichen und den Lernenden durch die konkrete Anwendung von digitalen Tools das Prinzip des Computational Thinking vermitteln.

Nicht zuletzt fehlen in Deutschland Kompetenzstandards, Kompetenzzentren und Referenzrahmen für digitales Lernen in Bezug auf die Kompetenzentwicklung von Lehrenden und Schulleitungen. Entsprechende Ansätze und die dazugehörigen Fortbildungsangebote können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, digitales Lernen in Deutschland kompetenzorientiert umzusetzen. Ein Self-Assessment-Tool für Schulen, um den eigenen Entwicklungsstand in Sachen digitales Lernen beurteilen zu können, wäre ein hilfreiches Angebot für die Schulentwicklung. Angereichert mit Checklisten, Leitfäden und konkreten Entwicklungshinweisen würde dieses Tool Schulen auch erlauben, die eigene Weiterentwicklung selbstbestimmt voranzutreiben. Nicht zuletzt würde die Auffindbarkeit von digitalen Lernmedien erhöht, wenn die hinterlegten Metadaten einem einheitlichen Standard entsprechen würden.
Auf diese Weise ließe sich eine kohärente Entwicklungsstrategie für digitales Lernen an deutschen Schulen entwickeln und umsetzen – handlungsorientiert und praxisbezogen. Die ausführlichen Ergebnisse der Recherche mit vielen Beispielen und den vollständigen Handlungsempfehlungen finden Sie hier.

Julia Hense

Julia Hense ist Expertin für digitales Lernen, Bildungsberatung und Bildungspolitik. Als promovierte Pädagogin beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit Fragen rund um digitale Didaktik. Nach verschiedenen Stationen im Forschungssektor, unter anderem am DZHW in Hannover und der Universität Bielefeld, hat Julia Hense mehrere Jahre für die Bertelsmann Stiftung gearbeitet. Hier hat sie den „Monitor Digitale Bildung“ aufgebaut. Als Trainerin und Beraterin ist sie inzwischen auch selbständig unterwegs. Beim mmb Institut betreut sie das Projekt KI-Campus, das gemeinsam mit dem Stifterverband und dem DFKI die Entwicklung einer Online-Lernplattform zum Thema Künstliche Intelligenz vorantreibt.

https://www.mmb-institut.de/