Impuls

Adaptiver Unterricht: Heterogenität im Klassenzimmer optimal begegnen

von Anja Reiter
veröffentlicht am 15.12.2023
Lesezeit: 6 Minuten

Schulklassen in Deutschland werden immer heterogener. Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, alle Schüler:innen auf dem jeweiligen Leistungsstand abzuholen und somit allen gerecht zu werden. Die Kombination aus digital gestütztem und adaptivem Lernen kann dabei helfen.

Die einen können bereits vor dem ersten Schultag lesen und schreiben, die anderen haben noch nie eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommen. Die einen können schon in der ersten Klasse schriftlich dividieren, die anderen haben noch am Ende der Grundschulzeit Schwierigkeiten mit dem Einmaleins. Wer eine Schulklasse in Deutschland unterrichtet, muss sich mit immer heterogener werdenden Lerngruppen auseinandersetzen. Doch wie wird man so diversen Leistungsständen, Bildungsniveaus und kulturellen und sprachlichen Hintergründen gerecht?

Der Bildungsforscher Tim Fütterer vom Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung in Tübingen befasst sich im Rahmen des Projekts E-ADAPT mit der Umsetzung von adaptivem Unterricht in Deutschland und Europa. „Beim adaptiven Unterrichten werden die Umgebungsbedingungen so gestaltet, dass sie den individuellen Unterschieden der Lernenden bestmöglich entsprechen“, erklärt Fütterer. Das bedeutet, dass eine möglichst genaue Passung des Lernangebots an die individuellen Voraussetzungen der Schüler:innen vorgenommen wird.

„Adaptives Unterrichten ist ein Prinzip“

Doch was heißt das in der Praxis? Statt alle Schüler:innen frontal zu unterrichten und dieselben Aufgaben im selben Setting bearbeiten zu lassen, beinhaltet adaptives Unterrichten passgenaue Lernangebote, die den jeweiligen Schüler:innen optimal entsprechen. „Adaptiver Unterricht“ ist dabei leicht mit „individualisiertem Unterricht“ zu verwechseln. Doch während Individualisierung einen Unterricht beschreibt, in dem Schüler:innen zur gleichen Zeit unterschiedlichen Lernaktivitäten nachgehen, zielt der Begriff der „Adaptivität“ eher auf die Umgebungsbedingungen des Unterrichtens ab. Durch Mikroadaptionen im Unterricht, basierend auf Diagnosewerkzeugen, Feedback-Mechanismen und Scaffolding, wird eine adaptive Lernumgebung geschaffen, die Schüler:innen dort abholt, wo sie stehen – während trotzdem gemeinsame Lernziele verfolgt werden können. „Zugespitzt kann man sagen, dass Individualisiertes Lernen als Methode und adaptives Unterrichten als Prinzip verstanden werden kann“, fasst Tim Fütterer zusammen.

Scaffolding

Der Begriff Scaffolding (engl. für „Gerüst“) bezeichnet eine Lehr- und Lernstrategie, bei der Schüler:innen durch das Vorgeben sprachlicher Gerüste Unterstützung beim Lösen von Aufgaben und Erschließen neuer Inhalte bekommen. Ist ein Lernschritt vollzogen, wird das Lerngerüst planvoll wieder abgezogen. So erlangen die Schüler:innen Schritt für Schritt mehr Selbstständigkeit beim Lernen.

Die Idee, den Wissensstand von Lernenden zu erfassen, um das Lernen anzupassen, ist nicht neu. Schon in den 1970er und 1980er Jahren wurden adaptive Lernsysteme entwickelt und intelligente tutorielle Systeme erforscht – und unter dem Stichwort des adaptiven Lernens zusammengefasst. „Grundsätzlich ist adaptives Unterrichten auch ohne den Einsatz von Technologie denkbar“, erklärt Tim Fütterer, „allerdings ist dies mit einem enormen Aufwand für Lehrkräfte verbunden.“ Laufend Lernstände erfassen und diagnostizieren, Feedback geben und darauf basierend Aufgaben anpassen – das kann eine Lehrkraft für 20, 30 oder mehr Kinder zeitgleich nicht leisten. „Neue Technologien wie KI haben ein enormes Potenzial, adaptives Lehren und Lernen voranzutreiben.“

»Neue Technologien wie KI haben ein enormes Potenzial, adaptives Lehren und Lernen voranzutreiben.«

Tim Fütterer

Große Bandbreite an Tools zum adaptiven Lernen

Schon jetzt sind unterschiedliche digitale Lernsysteme auf dem Markt, die nach dem Prinzip des adaptiven Lernens funktionieren. Neben öffentlich finanzierten Tools drängen dabei auch immer mehr private Anbieter auf den Markt. Eines der bekanntesten Tools ist bettermarks, ein adaptives Lernsystem für Mathematik, das dem Lernenden passende Aufgaben für seinen Lernstand und den Lehrkräften Lernrückmeldungen zur Lerngruppe und zum einzelnen Lernenden gibt. Auch das Unternehmen area9, seit den 1990er Jahren ein Entwickler für computergestützte Trainings für medizinisches Personal, entwickelt mittlerweile adaptive Lösungen für den Schulunterricht. Das FeedBook wiederum, ein interaktives webbasiertes Workbook für den Englischunterricht an Gymnasien, wurde in einer Zusammenarbeit der Universität Tübingen und dem Diesterweg Verlag entwickelt. Es liefert Schüler:innen individuelles, interaktives Feedback bei der Bearbeitung von Englischaufgaben.

Auch der Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume setzt in seinem Unterricht auf adaptive Ansätze. Er unterrichtet Englisch, Deutsch und Geschichte am Windeck-Gymnasium in Bühl – und versucht seiner vielfältigen Schüler:innenschaft durch individualisierte Angebote gerecht zu werden. Heterogenität umfasse dabei längst mehr als einzelne Kategorien wie Migrationshintergrund oder Förderbedarf. „Wir müssen einsehen, dass Standardunterricht, in dem Schüler:innen in gleicher Geschwindigkeit das Gleiche tun, nicht mehr zeitgemäß ist.“ Stattdessen müsse jede:r Schüler:in an ihrem Lernstand abgeholt werden, egal ob leistungsstark oder schwach.

Bob Blume nutzt in seinem Unterricht etwa den Orthografietrainer, einen interaktiven Rechtschreibtrainer, der automatisch die Übungen auswählt, die zum jeweiligen Kenntnisstand passen – vom Satzbautraining bis zur Diktatübung. Für Bob Blume umfasst adaptives Unterrichten jedoch weit mehr als das Einsetzen von einzelnen Apps oder Lernspielen. In erster Linie bedeute adaptiver Unterricht ein Umdenken von Lehrkräften – und sei damit eine Frage der Haltung. „Um adaptiv zu unterrichten, muss man sich von all dem verabschieden, was man in der Ausbildung gelernt hat“, so Bob Blume.

»Um adaptiv zu unterrichten, muss man sich von all dem verabschieden, was man in der Ausbildung gelernt hat.«

Bob Blume

Lehrkräfte benötigen professionelle Kompetenzen

Auch der Bildungswissenschaftler Tim Fütterer betont, dass adaptiver Unterricht sehr komplexe professionelle Kompetenzen von Lehrkräften erfordert: Zuallererst müsse die Lehrkraft die Ziele, Inhalte und zu erlernende Kompetenzen einer Unterrichtseinheit festlegen. Im nächsten Schritt müsse die Lehrkraft die Lernvoraussetzungen aller Schüler:innen in Bezug auf die festgelegten Ziele überprüfen, um Schüler:innen nicht zu unterfordern oder zu überfordern. Dafür sei das Wissen über die Möglichkeiten und den Einsatz von Diagnostik notwendig. Anschließend müsse die Lehrperson passende Angebote für alle Schüler:innen zur Verfügung stellen – und diese während des Arbeitsprozesses monitoren und unterstützen.

Andere Länder seien beim Umsetzen von adaptiven Prinzipien schon viel weiter. So wurden T im Rahmen des Projekts E-ADAPT Schulen und Bildungsbehörden in Finnland besucht, um zu erfahren, wie adaptive Ansätze dort umgesetzt werden. Das Forschungsteam führte Interviews mit Schulleitungen, Lehrkräften, Schüler:innen, Forscher:innen und Vertreter:innen aus Bildungspolitik und -verwaltung. „Man merkt, dass Lehrer:innen in Finnland ein relativ einheitliches Verständnis von adaptivem Unterricht haben und Methoden wie Scaffolding als selbstverständliches Prinzip ihres Unterrichts explizit benennen.“ Doch auch die Schüler:innen selbst seien mit den adaptiven Methoden besser vertraut, verfügen über Selbstregulationskompetenz – und nehmen ihr Lernen selbst in die Hand. „Die Technologie wird eher als Hilfsmittel für die Ziele adaptiven Unterrichts verstanden, steht aber nicht zwangsläufig im Fokus der Diskussion.”

Damit adaptive Prinzipien auch in Deutschland mehr Praxisanwendung finden, brauche es politischen Willen und Strategien, aber auch Offenheit und Mut aller Akteur:innen, ist sich Tim Fütterer sicher. „Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen sinnvollen Einsatz von neuen Technologien zur Unterstützung adaptiven Unterrichts realistisch werden lassen.“ Dazu zähle neben der Entwicklung und Förderung von datenschutzkonformen Anwendungen auch die Schulung von Lehrkräften. In Fortbildungen müssten professionelle Kompetenzen wie AI Literacy oder Professionswissen vermittelt werden, aber auch der Nutzen von Adaption deutlich gemacht werden. „Als Zielfigur ist adaptives Unterrichten schon lange bekannt, aber bisher mit enormen Aufwand für Lehrkräfte verbunden“, so Tim Fütterer, „aber jetzt wird es erst langsam realisierbar.“

Anja Reiter

Anja Reiter arbeitet als freie Journalistin in Bonn, vor allem zu Bildungs-, Umwelt-, Digitalisierungs- und Gesellschaftsthemen. Zu ihren journalistischen Auftraggebern zählen Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und das Greenpeace Magazin. Daneben hilft sie bei der Konzeption von Magazinen, gibt Workshops für journalistischen Nachwuchs und moderiert Podiumsdiskussionen. Außerdem ist sie im Vorstand der Freischreiber aktiv, dem Berufsverband der freien Journalist:innen. 

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